
Berliner Nachkriegsfotos "So, jetzt ist Deutschland am Ende"


Fotograf Ernst Hahn (2012)
Foto: Evelyn Weissberg"Suche Arbeit. Nehme jede Arbeit an", steht auf dem Schild vor einem vergitterten Fenster am Kurfürstendamm 170. Ein Mann, langer Mantel, abgetretene Schuhe, sitzt auf einem Stein vor dem Schild und blickt zu Boden.
Arbeitslose prägten das Straßenbild im Berlin der Nachkriegsjahre ebenso wie die Frau mit dem Kopftuch, die Backsteine aus den Ruinen am Kaiserdamm stapelt. Oder der Straßenhändler, der auf einem Trümmergrundstück in der Potsdamer Straße seine Waren feilbietet.
Der Mann hinter der Kamera, der solche Szenen einfing, heißt Ernst Hahn - und maß den eigenen Aufnahmen nie besondere Bedeutung bei: "Eine Hausaufgabe war das, eine Fingerübung, weiter nichts", sagt Hahn, Jahrgang 1926, im einestages-Gespräch. "Nehmt eure Kamera mit und macht was in den Osterferien", hatte der Lehrer die angehenden Fotografen der Kunstgewerbeschule Zürich im Frühling 1950 ermahnt.
Hahn, damals 23 Jahre alt, schnappte sich seine Rolleiflex und ein paar Filme, fuhr in seine alte Heimat und knipste drauflos. Entstanden ist ein faszinierendes Panoptikum des Berliner Alltags in der Nachkriegszeit - zwischen Zerstörung und Wirtschaftswunder, Trostlosigkeit und Aufbruchsstimmung.
Schweiz statt Stalingrad
Es war das erste Mal, dass Hahn nach Kriegsende an die Spree fuhr, um seine Eltern zu besuchen. Einfach Richtung Zentrum gewandert sei er damals, "im Kopf ganz grob den Stadtplan aus Kindertagen", erzählt Hahn. Der ihm jedoch wenig bei der Orientierung half:
"Es war erschütternd, Berlin war kaum wiederzuerkennen. Am Ku'damm normalisierte sich das Leben so langsam wieder: Da war es recht aufgeräumt, fuhren Limousinen, gingen die Menschen ins Kino. Die Amerikaner, Franzosen und Briten sorgten dafür, dass in ihren Zonen langsam das Leben wieder aufblühte. Aber wenn man ein paar Schritte weiterging, war einem, als würde man durch Kulissen aus dem Mittelalter laufen. Auf mich wirkte es so, als würde aus den Trümmern noch Leichengeruch aufsteigen. Da überläuft es einen kalt."
Fotograf Ernst Hahn (2012)
Foto: Evelyn WeissbergErnst Hahn wurde 1926 als Sohn eines Gärtners und einer Blumenverkäuferin in Nowawes (heute Potsdam-Babelsberg) geboren. Als Kind erkrankte er an "nasser Rippenfellentzündung". 1943 wurde Tuberkulose diagnostiziert, Hahn für wehrdienstuntauglich erklärt. Da er zudem unter einer Erkrankung des Kniegelenks litt, riet das Potsdamer Gesundheitsamt zu einer Kur in einem Sanatorium in Davos.
"Statt nach Stalingrad schickte man mich in die Schweiz. Und das mitten in der Pubertät. Ein Wunder, wie man es sich für keinen Roman besser hätte ausdenken können. Trotzdem habe ich mich sehr geschämt: Meine Klassenkameraden mussten in den Krieg ziehen, viele kehrten nie wieder zurück. Und ich fuhr in die Berge."
Drei Tage und drei Nächte dauerte die Reise mit dem Zug Ende 1944, wegen der Bombardements wurde die Fahrt immer wieder unterbrochen. Obwohl die Schweizer Regierung bereits zwei Jahre zuvor ihre Grenzen für Flüchtlinge geschlossen hatte, ließ man den schwerkranken Teenager passieren.
In Davos musste Hahn monatelang das Bett hüten und vertrieb sich die Zeit mit Kunst- und Schönschriften - bis ein Grafiker auf ihn aufmerksam wurde. Er empfahl Hahn, sich an der Kunstgewerbeschule in Zürich vorzustellen, wo er 1948 angenommen wurde.
Geknipst, verstaut, vergessen
Zweimal, zu Ostern 1950 und genau ein Jahr später, fuhr Hahn mit seiner Rolleiflex von der Schweiz nach Berlin, um dort zu fotografieren. Bei seinem ersten Besuch standen die Ruinen des Stadtschlosses noch - beim zweiten war es verschwunden: Die DDR-Führung hatte die Überreste des Gebäudes wegsprengen lassen, den Schlossplatz in Marx-Engels-Platz umgetauft.
In Ruinen spielende Kinder, sozialistische Losungen an Häuserwänden, Familien, die im Sonntagsstaat über Trümmerberge flanieren: Hahn lichtete alles ab, was ihm vor die Linse kam. Am 1. Mai geriet er zufällig in eine Kundgebung auf dem Platz der Republik, wo Hunderttausende zusammenströmten, um die Rede von Bürgermeister Ernst Reuter zu hören. Hahn schob sich durch die Menge bis zur Tribüne und zückte die Kamera.
Nur zwei seiner Berlin-Aufnahmen, abgedruckt am 26. Mai 1950 in der "Neuen Zürcher Zeitung", fanden öffentlich Beachtung. Den Rest der knapp 400 Negative legte Hahn in eine Blechdose, verstaute sie in der hintersten Ecke seiner Wohnung und dachte nicht weiter dran.
"Ich hatte anderes zu tun", sagt Hahn lakonisch. In den Fünfzigerjahren zog er in die Bundesrepublik und machte als Industrie- und Werbefotograf Karriere. Die Schweizer Behörden hatten ihm 1953 die Arbeitserlaubnis verweigert: "Wegweisung wegen Gefahr der Überfremdung".
"So, jetzt ist Deutschland am Ende"
Die Blechdose mit den Berlin-Negativen wanderte bei jedem neuen Umzug mit, ungeöffnet, unbeachtet. Bis Hahns Ehefrau ins Pflegeheim kam und er den Haushalt auflösen musste.
2012 stolperte Evelyn Weissberg, die Hahn beim Ausmisten half, über den Fotoschatz. Die Berliner Verlegerin erkannte den Wert der einzigartigen Aufnahmen und gab einen Bildband heraus. Prompt erkannte sich die Frau vom Buchcover wieder - die fesche 19-Jährige, die auf Hahns Foto von 1950 mit wehendem Rock über den Kaiserdamm läuft, ist längst Rentnerin.
Schaut sich der Fotograf heute die alten Aufnahmen an, kehren die Gefühle von einst zurück: das Schaudern über die zertrümmerte Stadt ebenso wie das Erstaunen darüber, wie ordentlich es mancherorts schon war, wie gut gekleidet viele Menschen durch die Straßen liefen: "Da war viel Zuversicht zu spüren", sagt Ernst Hahn, der in einem Seniorenheim in Berlin-Friedenau lebt.
Ein Foto, das ihm besonders am Herzen liegt, zeigt Arbeiter, die auf dem Schlossplatz die historischen Laternen aus der Kaiserzeit demontieren.
"Als ich das sah, konnte ich für mich sagen: So, jetzt ist Deutschland am Ende. Nicht nur Nazi-Deutschland, sondern auch das kaiserliche, Preußens Glanz und Gloria. Aus und vorbei."
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Kleine Steinewerfer: Besser als jeder Abenteuerspielplatz - Kinder vergnügen sich in den Trümmern Berlins. Aufgenommen hat Ernst Hahn das Bild vermutlich im Stadtteil Schöneberg. 1950 und 1951 fotografierte er als Student in seiner Heimatstadt. Jahrzehntelang schlummerten die Fotos unbeachtet in einer Blechdose, bis der Fotoschatz per Zufall gehoben wurde.
Weggesprengt: Eine riesige Brache klafft dort, wo bis 1950 die Ruinen des Berliner Stadtschlosses standen. "Dieser Bau wurde errichtet von Untertanen, die als Leibsklaven Akkordarbeit verrichten mussten", zitierte der SPIEGEL im Oktober 1950 den Kunsthistoriker und Spreng-Befürworter Gerhard Strauß. Das Schloss, so Strauß, sei ein "Symbol des völligen Verfalls feudalistischer und imperialistischer Macht", lediglich "Schutt" - und nichts als ein "Hindernis" bei der "einmaligen Gelegenheit, den Mittelpunkt der Hauptstadt in großzügiger Weise zu ordnen".
Festtag: Mit beiden Händen umklammert dieser Junge auf dem Rummel in Moabit sein Spielzeug.
Kraftakt: Das blieb übrig vom größenwahnsinnigen NS-Projekt "Welthauptstadt Germania" - Arbeiter in den Ruinen des "Hauses des Fremdenverkehrs" am "Runden Platz". Es befand sich an der von den Nationalsozialisten geplanten Nord-Süd-Achse der "Welthauptstadt", westlich der ehemaligen Straßenführung der Potsdamer Straße, nahe des Landwehrkanals.
Fotostudent auf Heimatbesuch: Ernst Hahn (Jahrgang 1926), porträtiert von seinem Bruder Gerd (Aufnahme von 1950). Als Kind erkrankte Hahn an Tuberkulose, zudem litt er unter einer Erkrankung des Kniegelenks. 1944 durfte der Teenager in die Schweiz ausreisen, wo er in verschiedenen Sanatorien behandelt wurde. 1948 wurde Hahn an der Kunstgewerbeschule Zürich (KGSZ) aufgenommen, wo er bei Johannes Itten und Hans Finsler Fotografie studierte. Die Berlin-Aufnahmen entstanden 1950/51 - als eine Art Hausaufgabe, die in den Osterferien zu absolvieren war.
Pause: Erschöpft lässt sich ein älterer Herr vor dem Kaiserdamm 2 in Charlottenburg nieder.
"Ach du liebe Güte, das bin ja ich!" Als diese Frau über die Brücke am Kaiserdamm lief, war sie 19 Jahre alt, verlobt und hieß noch Fräulein Kuhl. 62 Jahre später sah sie das von Ernst Hahn geschossene Foto im Berliner "Tagesspiegel" - und erkannte sich wieder.
Alle mal herschauen! Voller Verve präsentiert dieser Straßenhändler auf dem freigeräumten Trümmergrundstück an der Potsdamer Straße/Ecke Bülowstraße seine Ware. Ob die mannshohen Tüten als Alternative zum Regenschirm gedacht waren, ist nicht überliefert.
Stein auf Stein: Eine Trümmerfrau schichtet Ziegelsteine am Kaiserdamm 2 in Berlin-Charlottenburg auf. Rechts daneben im Hauptgebäude befand sich der Sitz des Polizeipräsidiums.
Bitte recht freundlich: Schüchtern lugt der kleine Junge fürs Foto hinter dem Bäumchen hervor - Straßenszene am Kaiserdamm in Berlin-Charlottenburg.
Metropole in Trümmern: Ruinen am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte, im Hintergrund das Komödienhaus. Britische und US-Bomber flogen insgesamt 363 Luftangriffe - mit den Berliner Trümmern hätte man nach dem Zweiten Weltkrieg einen 30 Meter breiten und fünf Meter hohen Wall bis nach Köln bauen können.
Bittere Armut: Ein Mann auf der Suche nach brauchbarem Material, im Hintergrund ragen die Schornsteine des Heizkraftwerks Reuter West in Berlin-Spandau in den Himmel.
Aufgestanden vor Ruinen: Hundertausende Menschen versammelten sich am 1. Mai 1951 auf dem Platz der Republik, wo Bürgermeister Ernst Reuter eine Rede hielt; im Hintergrund ist der zerbombte Reichstag zu sehen. Fotograf Hahn bahnte sich seinen Weg durch die Menge - bis er mit seiner Rolleiflex auf der Tribüne stand.
Alles unter Kontrolle: Kritisch beäugen diese beiden Schlipsträger am Rande der 1.-Mai-Kundgebung das Geschehen um sie herum, ein besonders misstrauischer Blick trifft den Fotografen Ernst Hahn. Nachdem sich die...
...Menschenmenge aufgelöst hatte, sammelte dieser Junge alles ein, was die Kundgebungsteilnehmer auf dem Platz liegen ließen. Sein Rucksack ist auf diesem Foto bereits prall gefüllt.
"Als würde man durch Kulissen aus dem Mittelalter laufen": Dieses Gefühl überkam Fotografie-Student Ernst Hahn, als er 1950 erstmals in seine Heimat zurückkehrte und das zerstörte Berlin ablichtete. Auf der Aufnahme ist der zerbombte Zoobunker nahe dem Bahnhof Zoologischer Garten zu sehen.
"Suche Arbeit. Nehme jede Arbeit": Den Kopf gesenkt, mit dem Rücken zum Fotografen - ein arbeitssuchender Mann sitzt am Kurfürstendamm 170 auf einem Stein.
Alter Fritz ohne Arm: Der zerstörte Tiergarten an der Großen Sternallee mit dem Denkmal Friedrichs des Großen, im Hintergrund das zerbombte Reichstagsgebäude.
Gewitterstimmung: Ansicht eines zerstörten Eisenwarengeschäftes an der Drakestraße/Ecke Curtiusstraße in Berlin-Lichterfelde. Noch sind die Liegestühle vor dem Geschäft leer und die Schirme zusammengeklappt.
"Aus und vorbei": Zwei Arbeiter beim Beseitigen der historischen Laternen auf dem Schlossplatz, im Hintergrund sind der zerstörte Berliner Dom und das Alte Museum zu sehen. Für Fotograf Ernst Hahn war die Demontage der Laternen ein Schlüsselerlebnis, wie er im einestages-Interview erzählt: "Als ich das sah, konnte ich für mich sagen: So, jetzt ist Deutschland am Ende. Nicht nur Nazi-Deutschland, sondern auch das kaiserliche, Preußens Glanz und Gloria. Aus und vorbei."
"Deutsche Jungen und Mädel, die Hauptstadt Deutschlands erwartet euch": Dieses Spruchband ließ der Ostmagistrat der Stadt anlässlich des kommunistischen Pfingsttreffens 1950 am Brandenburger Tor befestigen (Blick nach Westen). Am 26. Mai 1950 wurde das Foto (ebenso wie eine weitere Aufnahme) in der "Neuen Züricher Zeitung" abgedruckt. Die übrigen der knapp 400 Berlin-Fotos von Ernst Hahn gerieten in Vergessenheit - und wurden erst 2012 wiederentdeckt.
Schuh-Show: Die einen schauen belustigt, die anderen bestürzt - ein Straßenhändler zieht die Marktbesucher auf dem Reinhardtplatz in Berlin-Tempelhof in seinen Bann.
Mahnmal gegen den Krieg: Der Breitscheidplatz mit der zerbombten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Rechts daneben befand sich einst das Romanische Café.
Gigantische Sandkiste: Ein kleiner Junge buddelt mit seiner Schaufel auf der Lübecker Straße in Berlin-Tiergarten.
Zerstörter Konsumtempel: "Parfümerie - Reisebüro - Lebensmittel" - nur die Werbetafeln sind übriggeblieben vom Warenhauses Wertheim am Leipziger Platz, in den Zwanzigerjahren europaweit das größte seiner Art.
Zur Schaukel umfunktioniert: Kinder spielen auf einer Baumaschine in der Burgstraße, im Hintergrund ist der von Bomben zerstörte Berliner Dom zu sehen.
"Urlaub in Hollywood": So heißt das 1945 in den USA erschienene Filmmusical mit Frank Sinatra, das in diesem Berliner Kino läuft. Von den ursprünglich rund 400 Kinos waren nach dem Krieg nur noch 20 intakt. Fotograf Ernst Hahn, der 1950 erstmals wieder Berlin besuchte, erinnert sich im Interview an die Rückkehr zum Alltag: "Am Ku'damm normalisierte sich das Leben so langsam wieder: Da war es recht aufgeräumt, fuhren Limousinen, gingen die Menschen ins Kino. Die Amerikaner, Franzosen und Briten sorgten dafür, dass in ihren Zonen langsam das Leben wieder aufblühte."
Nur Fassade: Hinter der Staatsoper ist die ehemalige Bank des Berliner Kassenvereins zu sehen, rechts das Mauerwerk der St.-Hedwigs-Kathedrale.
Am Eingang zur S-Bahn: Ein Polizist kontrolliert die Papiere eines Mannes, er sitzt auf seinem Koffer wie auf einem Stuhl und hält den Gehstock fest umklammert - Szene am Potsdamer Platz, im Hintergrund das berühmte Weinhaus Hut.
Das Wirtschaftswunder beginnt: Was sich in diesem Schaufenster wohl Spannendes verbirgt? Neugierig reckt das Mädchen den Hals, um einen Blick in die Vitrine vor dem Pschorr-Haus am Potsdamer Platz 3 zu werfen.
Himmlisches über Berlin? Staunend blicken die Menschen am Potsdamer Platz in die Höhe, im Hintergrund der Leipziger Platz, rechts das Hotel "Der Fürstenhof".
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