
Berlin-Fotografin Ann-Christine Jansson: "Schauen, was hinter der Fassade steckt"
Berlin-Fotos ab 1980 Wie eine Schwedin die Mauerstadt erlebte

Ann-Christine Jansson, Jahrgang 1950, hat in Schweden Kunstgeschichte, Pädagogik und Soziologie studiert. Seit 1980 lebt sie in Berlin und arbeitet als Fotojournalistin und Bildredakteurin für skandinavische wie deutsche Medien, darunter "Zeit", "Stern", "taz" und SPIEGEL. Mehr Informationen gibt es hier.
Eines ihrer wichtigsten Fotos besitzt Ann-Christine Jansson gar nicht, es existiert nur in ihrem Kopf. Auf dem Bild ist es dunkel, Menschenmassen ziehen an einem Septembermontag 1989 durch Leipzig und rufen: "Wir sind das Volk." Jansson hebt die Kamera hoch, drückt dreimal auf den Auslöser.
Im Nu halten fünf Stasi-Mitarbeitern sie fest und reißen ihre Arme nach hinten, schmerzhafter Polizeigriff. Die Aufnahme von der Montagsdemonstration hat sie eingebüßt - ihre Neugier nicht: "Fotografie ist für mich Begegnung und Kommunikation, mit anderen Menschen Nähe herstellen und schauen, was hinter der Fassade steckt", sagt die heute 68-Jährige im einestages-Gespräch. "Das ist für mich sehr, sehr spannend: auf Fremde zuzugehen und zu entdecken, wie sie leben."
Auf ihrer winzigen Dachterrasse voller verwelkter Blumen stößt Ann-Christine Jansson Zigarettenrauch in den grauen Berliner Himmel. Sie wohnt immer noch in Berlin-Kreuzberg, im einstigen Stadtteil der Linken, Autonomen, westdeutschen Wehrdienstverweigerer und Zuwanderer aus der Türkei.

Berlin-Fotografin Ann-Christine Jansson: "Schauen, was hinter der Fassade steckt"
Hierher zog es die zierliche Schwedin vor fast vier Jahrzehnten. Raus aus ihrer betulichen Kleinstadt, "wo es zu den größten Ereignissen gehörte, wenn der örtliche Kaufmann sich scheiden ließ und eine Norwegerin heiratete". Jansson ging zum Kunstgeschichte-Studium nach Stockholm - bis sie auch dort nur noch weg und mehr von der Welt sehen wollte.
Die Frau mit dem fremden Blick
Mit heiserer Stimme erzählt Jansson in unverkennbar schwedischem Akzent, wie sie im geteilten Berlin Anfang der Achtzigerjahre zum Fotografieren kam:
"Ich konnte kein Wort Deutsch, selbst nach einer Weile nur ein paar Brocken. Aber ich erlebte doch so vieles! Ich lernte dazu und wusste bald nicht mehr, in welcher Sprache ich denken und mit welchen Worten ich mich ausdrücken sollte. So fing ich an zu fotografieren, was ich sah, benutzte meine Bilder als Sprache. Fotografie ist eine internationale Sprache, die wird überall verstanden. Ich ging raus in die Stadt und erfasste mit der Kamera alles, was hier passierte."
Und es passierte viel in diesen Jahren, es war die Zeit der Demonstrationen und Hausbesetzungen. Also zog Jansson los, schaute sich um in Berlin. Mit dem fremden Blick sah die Schwedin anders hin als viele Einheimische.
"Straßenschlachten, wie es sie damals gab, kannte ich aus Schweden überhaupt nicht. Klar, wir haben auch gegen Vietnam demonstriert, vor der amerikanischen Botschaft in Stockholm ein Sternenbanner verbrannt, aber dann sind wir wieder nach Hause gegangen. Schweden empfand ich in meiner Jugend als Baumwollwatteland. Berlin mit der riesigen Betonmauer - das war härter."

1.-Mai-Straßenschlacht in Kreuzberg
Foto: Ann-Christine JanssonDer Anfang war für die heute gefeierte Fotojournalistin nicht einfach. Ein Nachbar am Tempelhofer Ufer hatte ein professionelles Fotostudio mit Labor. "Ich habe seinen Laden geputzt, dafür gab er mir den Schlüssel, und ich konnte nachts die Dunkelkammer benutzen", erzählt Jansson. Gleich nebenan wohnte ein Sänger, der sich von ihr fotografieren ließ. Er nannte sich Rio Reiser.
Bald arbeitete Jansson als Fotoreporterin für skandinavische Medien, für "taz" und "Stern", später auch manchmal für den SPIEGEL. "Eine skandinavische Zeitung wollte ihre eigene Bildsprache. Sie mochte die Bilder nicht, die sie - wie alle anderen - von Agenturen bekam. Das war eine gute Herausforderung für mich."
Im Hauptquartier der Ost-Opposition
Janssons Arbeitsgebiet weitete sich auf Osteuropa aus. Sie reiste mit ihrer Kamera als schwedische Touristin auch über den Ausländer-Grenzübergang Checkpoint Charlie nach Ostberlin ein und fotografierte - ohne offizielle Erlaubnis, mit Herzklopfen.
Dort lernte Jansson junge Oppositionelle rund um die Umweltbibliothek (UB) nahe dem Zionskirchplatz kennen und porträtierte sie. Die Besucher kamen in die Bar und ins Café, fanden im Keller verbotene Bücher und Zeitungen, besuchten Ausstellungen und Veranstaltungen.
In der Grauzone "UB", 1986 gegründet und vom Staat ungenehmigt, war niemand sicher vor Heimsuchungen durch Stasi-Spitzel. Dennoch wurde sie Anlaufstelle für rebellische Geister aus der ganzen DDR. Jansson fotografierte dort Oppositionelle wie Wolfgang Rüddenklau:
"Wir hatten beide Angst. Man sieht es auf dem Foto in seinen Augen. Ich hatte auch Angst. Es musste ganz schnell gehen. Er wollte nicht, dass jemand kommt und entdeckt, dass er fotografiert wird mit diesen illegal gedruckten Blättern, die in dicken Stapeln auf den Stühlen lagen und darauf warteten, zu einer Untergrundzeitung zusammengelegt zu werden. Es ging in Ost-Berlin viel um Vertrauen."
Janssons besonderes Interesse galt später den sogenannten Fremdarbeitern der DDR: Menschen aus den sozialistischen "Bruderländern", allen voran Vietnam. Es kostete die Schwedin viel Überzeugungskraft, bis sie unter Vietnamesen im Berliner Osten genug Vertrauen gewonnen hatte und Fotos aufnehmen durfte.
Für ein buntes, freies Leben
Im Westen besuchte Jansson Anarcho-Punks in ihren Wohnwagen im Niemandsland an der Mauer, lichtete Blixa Bargeld und andere Musiker der Einstürzenden Neubauten ab. Die Fotografin hielt ekstatische Teilnehmer der ersten Loveparades im Bild fest oder wütende Frauen, die sich Polizisten entgegenstellen. Und immer wieder kämpfende oder entspannte Hausbesetzer, die der Wohnraumspekulation entgegentraten.

Kurfürstendamm, 1994: Ein Loveparade-Partygänger
Foto: Ann-Christine JanssonAuf beiden Seiten der Mauer versuchten Menschen, das gesellschaftliche Leben zu verändern, es bunter und freier zu gestalten. Jansson dokumentierte die ersten Alternativ- und Kollektivbetriebe, ob "taz" oder Biobäckerei, Kinderläden, den ersten Christopher-Street-Day, Projekte aller Art.
Um Proteste gegen das AKW Brokdorf abzulichten, reiste sie Anfang der Achtzigerjahre nach Norddeutschland. "Wir sind von der Presse, nicht schlagen", rief Jansson den Polizisten mit ihren Holzschlagstöcken zu. Sie hielten inne und nahmen ihr nur den Autoschlüssel ab.
Sehnsucht nach der Zeitenwende
Der subjektive Blick der Fotografin lässt den Zeitgeist jener Jahre in ihren Fotos lebendig werden. Beim Fotografieren baute Jansson eine große Nähe zu den Porträtierten auf. Dazu beigetragen haben mag ihre ungefährlich wirkende Erscheinung, ihre freundlich-schwedische, aber verbindliche Bestimmtheit im Auftreten. Ihre Offenheit Menschen gegenüber sieht man den Bildern an.
Turns / Umbrüche: Those Years / Jene Jahre 1980–1995
Preisabfragezeitpunkt
29.05.2023 01.46 Uhr
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Die Fotos erzählen uns heute von Menschen, die als Individuen Geschichte machten und erlebten. Es waren die Jahre des Umbruchs. Viele haben sich nach dieser Zeitenwende gesehnt, haben Umbrüche verlangt. Und waren dann doch erschrocken, als die Welt eine radikal andere wurde.
Fast nichts ist in Berlin heute mehr wie damals. So begleitet Janssons Bilder auch eine gewissen Melancholie - weil man rückblickend immer schon weiß, wie die Geschichte bis heute weiterging.
Eine Ausstellung mit Ann-Christine Jansson Bildern zeigt vom 29. November 2018 bis zum 25. Januar 2019 die Fotogalerie Friedrichshain (Heslingforser Platz 1, Berlin).