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Ost-Berlin vor dem Mauerbau: "Imperialistisches Gift"? Jazz erst recht!

Grenzgänger vor dem Mauerbau Als Berlin eine offene Stadt war

Arbeiten im Osten, Kino oder Konzert im Westen: Für Berliner war der fliegende Wechsel in den Fünfzigern normal. Hans Hielscher wuchs in der DDR auf, entdeckte den Jazz - und war rechtzeitig vor dem Mauerbau weg.

Der Teenager vor der Kasse der "Camera"-Lichtspiele am Potsdamer Platz musste nachweisen, dass er aus dem Osten kam. Alles klar, er zeigte seine FDJ-Mitgliedskarte und bekam eine Kinokarte für 25 Pfennige. So viel gab es in der Wechselstube nebenan für eine Ostmark. DDR-Bürger konnten Billets zum Kurs eins zu eins kaufen - so hielten es zwei Dutzend West-Berliner Kinos nahe der Sektorengrenze. Deshalb lockten "High Noon", "Der dritte Mann" oder "Die badende Venus" Tausende aus Ost-Berlin.

Die sogenannten Grenzkinos waren leicht zu erreichen. Denn Berlin war vom Kriegsende 1945 bis zum Mauerbau 1961 eine offene Stadt. Trotz aller politischen Gegensätze zwischen den drei Westsektoren (2,1 Millionen Einwohner) und dem sowjetischen Sektor (1,2 Millionen Einwohner) wurde der Personenverkehr nicht behindert. Wer aus Ost-Berlin eine Tante im West-Bezirk Wilmersdorf oder ein Fußballspiel im Olympiastadion besuchen wollte, fuhr einfach mit der S-Bahn hin.

So wuchs eine Generation heran, die hautnah erlebte, wie Kommunismus und Kapitalismus funktionierten. Ich verbrachte meine Jugend in Ost-Berlin, wurde als Grundschüler Mitglied der "Jungen Pioniere" und ging als Oberschüler zur FDJ (Freie Deutsche Jugend) - nicht aus Begeisterung. Jugendliche aus bürgerlichen Familien traten bei, weil sie andernfalls nicht zum Abitur zugelassen wurden. Also in den sauren Apfel beißen!

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Ost-Berlin vor dem Mauerbau: "Imperialistisches Gift"? Jazz erst recht!

Freilich lockten die staatlichen Organisationen auch mit Freizeitangeboten. So ging es mit den Pionieren ins Thüringer Ferienlager; als FDJler erlebten wir turbulente Tage bei der Hackfruchternte im Oderbruch. Rüben verziehen, Kartoffeln verladen - Schüler und Studenten mussten in der Landwirtschaft aushelfen, weil sich viele Bauern in den Westen abgesetzt hatten.

"Was verboten ist, das macht uns gerade scharf"

Nach der Arbeit auf dem Acker feierten wir abends in unserer Unterkunft, der Dorfschule. Es gab Schnaps, in den Ecken knutschten Pärchen, ein Akkordeonist spielte West-Schlager, jemand imitierte die sächsische Fistelstimme von SED-Parteichef Walter Ulbricht. Angetrunkene erzählten subversive Witze: "Frau Wirtin hatt' ein Kanapee, drauf vögelte die SED, doch nur die jungschen Bengels; die Alten saßen drum herum und lasen Marx und Engels".

Das war nicht das von der FDJ propagierte frohe Jugendleben. Solche Respektlosigkeiten waren aber auch kein Ausdruck bewussten Widerstandes, mehr das Aufbegehren Heranwachsender. Wie viele andere wurde ich neugierig auf Jazz, weil die Elterngeneration ihn als "Negergedudel" abtat und Kulturfunktionäre als "imperialistisches Gift" verunglimpften. Nach dem - später in einem Biermann-Lied verewigten - Motto "Was verboten ist, das macht uns gerade scharf" strömten Ost-Jugendliche zu Konzerten von Louis Armstrong und Lionel Hampton in den West-Berliner Sportpalast.

einestages-Autor Hans Hielscher (rechts) 1955 im FDJ-Hemd

einestages-Autor Hans Hielscher (rechts) 1955 im FDJ-Hemd

Foto: Hans Hielscher

Der Oberschüler-Einsatz auf dem Lande wurde als gesellschaftliches Engagement geschätzt. In der Stadt punktete fürs Abitur, wer freiwillige Aufbaustunden leistete. So kloppten wir einmal pro Woche Steine für den Bau der Stalinallee und stromerten anschließend über die nahe Sektorengrenze, um Geschäfte anzuschauen und ins Kino zu gehen.

Der zum Schaufenster des Westens aufgemotzte Teil Berlins lockte mit seinen Neonlichtern. Unsere Mütter fuhren regelmäßig "nach drüben", um Sanella-Margarine, Bücklinge und Nylonstrümpfe zu kaufen. Es lohnte sich trotz des schlechten Wechselkurses, Buden und ganze Ladenketten in Grenznähe hatten sich auf Ost-Kundschaft eingestellt.

Die Ost-Medien agitierten gegen Bürger, die ihr Geld in die kapitalistische Frontstadt trugen. Presse und Rundfunk im Westen wetterten gegen die unfähigen Kommunisten im Roten Rathaus. Dabei war die Stadt in den Fünfzigerjahren noch sehr verzahnt, vor allem durch die "Grenzgänger": Als 1949 die D-Mark eingeführt wurde, arbeiteten 176.000 West-Berliner im Osten, in der Gegenrichtung 76.000.

Die Zahlen sanken dann, aber bis zum Mauerbau 1961 pendelten noch Tausende Grenzgänger. Eine vom Westen eingerichtete Lohnausgleichskasse tauschte West-Berlinern mit Jobs im Osten den Großteil ihrer Bezüge in D-Mark; umgekehrt wurden Ost-Berlinern, die im Westen arbeiteten, 30 Prozent des Lohns in Westmark ausgezahlt.

Ostig-Saftiges über "Orgien-Otto"

Die Grenzgänger gehörten zu Berlin wie der Funkturm und das Brandenburger Tor. Einer meiner Freunde fuhr jeden Morgen von Berlin-Weißensee zum Pharmaunternehmen Schering im Wedding. Ein Verwandter aus Lichterfelde im Westen baute in Ost-Berlin Geräte für die Akademie der Wissenschaften. Ein Betriebsarzt beim Ost-Rundfunk kam täglich im Mercedes aus West-Berlin zum Dienst. Der Intendant der Komischen Oper wohnte im Westen; im Orchester der Staatsoper Unter den Linden spielten Dutzende West-Berliner.

Sogar bei der "BZ am Abend", wo ich nach dem Abitur 1955 ein Jahr lang Praktikant war, arbeiteten Kolleginnen mit Wohnsitz West. Das "kommunistische Boulevard-Blatt" (West-Jargon) widmete sich besonders dem "Frontstadt-Sumpf" in West-Berlin, etwa mit saftigen Artikel über "Orgien-Otto" - Ottomar Batzel (CDU), Bezirksbürgermeister von Wilmersdorf, machte damals Schlagzeilen unter anderem wegen Trunkenheit am Steuer. In der Setzerei lernte ich den Umgang mit Bleisatz und in der Nachrichtenredaktion, wie man Meldungen formuliert.

Wegen des gefragten "gesellschaftspolitischen Engagements" habe ich an zwei "West-Einsätzen" teilgenommen. In Fünfergruppen fuhren wir per S-Bahn zu West-Wohnblocks und warfen Propagandaschriften des SED-Ablegers "Sozialistische Einheitspartei West-Berlin" (SEW) in die Briefkästen. "Im obersten Stock anfangen", wurde uns eingeschärft, "wenn ihr euch vom Parterre aus nach oben bewegt, werdet ihr leichter erwischt." Es waren die einzigen West-Besuche, die mir keinen Spaß machten.

Dass bei der "BZ am Abend" nicht immer linientreu gehandelt und geredet wurde, merkte ich nach Redaktionsschluss. Beim Bier kolportierten Kollegen "Eins-Zwei-Verse", wobei "Eins-Zwei" durch das Wort "Scheiße" ersetzt werden konnte. Ich hörte: "Wer Eins-Zwei an die Leinwand schmiert, hat die DEFA gut kopiert". Oder: "Eins-Zwei an der Stalin-Büste, tilgt Personenkult-Gelüste". Später erfuhr ich, dass Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede den verstorbenen Stalin als grausamen Diktator dargestellt hatte. Im Ostblock kündigte sich Tauwetter an.

Rotlichtbestrahlung im "Roten Kloster"

Reformdiskussionen und ketzerische Witze - das gab es nicht an der Leipziger Fakultät für Journalistik, an die mich die "BZ am Abend" zum Studium delegiert hatte. Meine Kommilitonen am "Roten Kloster" waren überwiegend bei der SED und folgten eisern der Parteilinie. Ich erlebte es im Studentenheim am 4. November 1956: Jubel wie nach einem Siegtor im Fußball riss mich aus dem Schlaf. "Die rote Armee ist in Budapest eingerückt und hat die Konterrevolution niedergeschlagen", triumphierten meine Mitstudenten und umarmten einander. Ich hätte heulen können, natürlich schlug mein Herz für die ungarischen Aufständischen.

Noch knapp zwei Jahre hielt ich in Leipzig durch, bis ich endgültig begriff, dass ich mich nicht eignen würde zum "Transmissionsriemen zwischen der Partei und der Bevölkerung", wie man die Funktion von Journalisten am "Roten Kloster" beschrieb. Ich beschloss "abzuhauen".

Von Ost-Berlin aus konnte man leicht über die Grenze - sofern man nicht mit ungewöhnlichem Gepäck auffiel. Ich aber wollte meinen Kontrabass mitnehmen. Ein Gitarrist eines populären Tanz- und Schauorchesters half, er war Grenzgänger und trug mein Instrument nach West-Berlin. Mit dem Bass habe ich im Westen weitgehend mein Studium verdient.

Vor fast 60 Jahren - im Mai 1958 - meldete ich mich im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde. Dort waren schon fast eine Million DDR-Flüchtlinge registriert, befragt und schließlich in die Bundesrepublik ausgeflogen worden. In einer Warteschlange erkannte ich einen Lehrer aus meiner Oberschule, den ich für DDR-treu gehalten hatte. Weil wir in West-Berlin Verwandte hatten, brauchte ich keine Notunterkunft, bummelte in den nächsten Tagen viel durch die Stadt und wagte mich nicht mehr in den Osten.

Am Potsdamer Platz sah ich die Schlangen vor den "Camera"-Lichtspielen. Weitere drei Jahre sollten Ostler - den Begriff "Ossi" gab es noch nicht - in die Grenzkinos strömen, bis zum Mauerbau am 13. August 1961. Die Nachricht hörte ich morgens im Radio als Student in Münster und dachte erschrocken an die vielen im Osten, die mit der Vorstellung lebten: Wenn wir von dem System genug haben, fahren wir nach Berlin und gehen über die Sektorengrenze. Aus und vorbei - die offene Stadt Berlin war Geschichte.

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