
Aktion "Großmutter gestorben": Angriff als Rechtfertigung
Besuch im Sender Gleiwitz Wo der Weltkrieg begann
Als Schüler hatte ich immer eine merkwürdige Vorstellung vom deutschen Überfall auf den Gleiwitzer Sender, dem Auftakt zum Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Vor meinem inneren Auge sah ich zwei oder drei Moderatoren mit Kopfhörern an einem Mischpult sitzen, die fröhlich scherzen und ab und zu Schallplatten wechseln. Plötzlich stehen Soldaten in der Tür, uniformiert, mit Gewehren im Anschlag. Sie stürmen in den Raum, erschießen die Moderatoren und brüllen auf Polnisch ihre Provokation in das offene Mikrofon: "Achtung! Achtung! Hier ist der Sender Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand ..." Einmal fragte ich meinen Lehrer, woher die deutschen Soldaten denn Polnisch gekonnt hätten, doch darauf wusste er mir auch keine Antwort zu geben. Vielleicht hatte es einer gelernt. Wenigstens diesen Satz. Oder es sprach zufällig einer Polnisch. Wichtig erschien dem Lehrer diese Frage jedenfalls nicht, denn er fuhr fort im Stoff.
Zurück ins Hier und Heute. Als sich die Silhouette des Gleiwitzer Sendeturms tiefschwarz am Horizont erhebt, fühle ich mich im ersten Moment an den Pariser Eiffelturm erinnert. Die Gestalt des Turmes, der 30 Jahre nach seinem französischen Vorbild erbaut wurde, zwingt dem Betrachter den Vergleich förmlich auf. Wahrscheinlich ergeht es den Gleiwitzern umgekehrt, und sie fühlen sich an ihren Sendeturm erinnert, wenn sie dem Turm in Paris gegenüberstehen. Die bauliche Verwandtschaft ist verblüffend, doch das Geheimnis sollte sich bald schon lüften.
Ich stelle mein Auto im Vorhof der Sendestation ab und läute an der Eingangstür. Jan, der seitens der Stadt Gleiwitz mit der Betreuung von Gästen beauftragt ist und bei dem ich meinen Besuch angemeldet hatte, öffnet mir. Außer uns beiden ist niemand in der Station, und so freut er sich über die willkommene Abwechslung. Jan ist polnischer Schlesier und liebt diese Station und ihre Historie, als sei sie ein Teil seiner eigenen Familiengeschichte. Er sammelt jedes Detail, jede Anekdote, um sie in der Begegnungsstätte, die an diesem historischen Ort erst 2002 entstand, der Nachwelt zu vermitteln.
Eine Tragödie, inszeniert als Farce
Als wir den kleinen Saal mit dem riesigen schwarzen Pult, einem Telefon und einem alten Lautsprecher betreten, sehe ich sofort wieder meine beiden Moderatoren vor mir. Ja, irgendwie so hatte ich mir das vorgestellt. Nur einen Plattenspieler vermisse ich und ein Regal für die Schallplatten. Aber ich brauche Jan gar nicht danach zu fragen, denn er weiß auch so, in welche Richtung sich die Gedanken seiner Besucher bewegen. "Hier wurde nie Musik gespielt", erzählt er. Die Deutschen hätten versehentlich den falschen Sender überfallen - diese Anlage diente nur als Verstärkerstation des Hauptsenders, der sich vier Kilometer entfernt befand. Hier gab es nur ein provisorisches Mikrofon für Sturmwarnungen oder Katastrophenschutz. Als die Provokateure der SS das Mikrofon in die Anlage steckten und ihre Parolen hineinbrüllten, streikte das Gerät schon nach wenigen Sekunden, technisches Versagen.
So hatte ich mir den Kriegsanfang freilich nicht vorgestellt. Und selbst in den Worten von Jan scheint sich in den Spott Mitleid zu mischen mit dem halben Dutzend Soldaten, die von SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich auf diese schlecht vorbereitete Mission geschickt worden waren. "Im Übrigen stürmten die Soldaten die Station in Zivil und nicht in Uniform", erzählt Jan. Am 31. August, Punkt acht Uhr abends. Sechs Mitarbeiter des Senders wurden erschossen; nur einer überlebte, weil er sich außerhalb des Gebäudes aufhielt. Mit dem Grinsen eines Lehrers, der für seine Schüler eine Überraschung bereithält, zeigt Jan mit dem Finger auf eine große Uhr, die auf Punkt acht zeigt. "Die originale Siemens-Uhr von damals", sagt er.

Aktion "Großmutter gestorben": Angriff als Rechtfertigung
Das Code-Wort für die Aktion lautete "Großmutter gestorben". Die als polnische Kämpfer verkleideten SS-Leute hatten sogar eine Leiche dabei, um den Angriff als Attacke polnischer Provokateure glaubhafter zu machen. Der Landmaschinenvertreter Franz Honiok, als "polenfreundlich" bekannt, war am Vortag entführt und ermordet worden - einzig um einen Angriff durch Polen glaubwürdiger zu machen musste er sterben. Je mehr mir Jan erzählt, umso weniger kann ich glauben, dass dies das wahre Gesicht jener Geschichte ist, die im Schulunterricht so achtlos behandelt wurde - eine Tragödie, inszeniert als Farce.
Was sagt ein Deutscher 2009 in das Mikrofon von Gleiwitz?
Jan öffnet einen Schrank. Er holt das Mikrofon von damals heraus und steckt es in die Anlage. "Voilà!", sagt er und reicht es mir mit einem Lachen. "Keine Angst, es funktioniert nicht. Sprechen Sie eine Provokation! Soll ich Ihnen ein Foto machen?" Mir verschlägt es die Sprache. 70 Jahre nachdem hier, an diesem Ort, der Zweite Weltkrieg losgetreten wurde, reicht mir ein Pole das Mikrofon im Sender Gleiwitz und fordert mich lächelnd zu einem Statement auf. Meine Hände zittern ein wenig, ich schiebe es auf das schwere Gerät in meinen Händen, wohlwissend, dass ich mich in diesem Moment selbst belüge. Was soll ich sagen? Nichts? Dann wäre Jan vielleicht enttäuscht. Ein Loblied auf die deutsch-polnische Freundschaft? Das wirkt nur lächerlich. Die provozierenden Worte von damals wiederholen? Das wäre ein sehr schlechter Scherz. Was also sagt ein Deutscher im Jahre 2009 in dieses Mikrofon? Jan wartet mit dem Fotoapparat, aber er will erst abdrücken, wenn ich etwas sage. Also sage ich einfach, was ich denke: dass ich mich der Geschichte noch nie so nahe gefühlt habe wie in diesem Augenblick. Klick. Jan reicht mir die Kamera zurück.
Wir gehen nach draußen. Mein Begleiter sperrt das Tor auf, das zum Areal des Sendemastes führt. Man muss sich direkt unter den Turm stellen und ihn von dort betrachten, sagt Jan. Dann erfühle man seine Höhe. Mit 110 Metern sei der Mast heutzutage die höchste Holzkonstruktion der Welt, fügt er nicht ohne Stolz hinzu. In der Hand hält er eine riesige Messingschraube: 16.000 Stück davon halten die Balken aus Lärchenholz zusammen, zweimal im Jahr werden sie nachgezogen. Zahllose Satellitenschüsseln und Antennen hängen wie Parasiten an dem gewaltigen Holzbau, zehren von seiner Höhe. Als ich Jan auf die Ähnlichkeit mit dem Eiffelturm anspreche, hebt er bedeutungsvoll den Zeigefinger. "Die Mutter beider Türme ist die Technik", sagt er, "Nur diese spezifische Form verbindet den geringsten Bauaufwand mit der größtmöglichen Höhe." Wieder etwas gelernt.
Ich stelle mich unmittelbar unter den Sendemast - und springe vor Schreck sofort wieder beiseite. Jan lacht: "So geht es allen Touristen. Man glaubt, der Turm bricht über einem zusammen. Aber das macht die Optik." Etwas beschämt stelle ich mich wieder unter den Turm und blicke die schwarzen Balken hinauf in den Himmel. Es ist ein geradezu unglaublicher Anblick. Im Innern der Konstruktion hängt noch immer jener unscheinbare, dünne Metalldraht, der den eigentlichen Anlass für den Turmbau und die ganze Sendestation um ihn herum lieferte. Während ich an ihm emporschaue, blicke ich zugleich in die Geschichte zurück, zum Anfang des Zweiten Weltkriegs und all dem, was dann folgte zwischen Deutschland und Polen.
Friedliche Signale
Dann sehe ich wieder das Gesicht von Jan vor mir, der mir noch irgendetwas Technisches erklärt, das ich nicht verstehe. Mich bewegt schon längst etwas ganz anderes. Etwas, das irgendwo jenseits der Sprache im Verborgenen liegt. Irgendwo zwischen mir und Jan, dem Deutschen und dem Polen, die wir uns gar nicht kennen und die an diesem Ort doch Signale aussenden wie zwei kleine Sendetürme. Es sind friedliche Signale. Fast möchte ich denken: freundschaftliche.
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Nach mehr als einer Stunde verabschiede ich mich von Jan. Bewegt von den Eindrücken, erschlagen von den Informationen, dankbar, diesen Augenblick erlebt zu haben. Ich setze mit dem Auto zurück aus der Einfahrt und fahre wieder Richtung Kattowitz. Im Rückspiegel sehe ich noch, wie der schwarze Mast des Senders Gleiwitz plötzlich in einen strahlend weißen Lichtkegel getaucht wird, angestrahlt von Scheinwerfern, die ihn als gespenstische Gestalt in den Nachthimmel zeichnen. Ich halte am Wegrand an und steige noch einmal aus. Und muss unwillkürlich schmunzeln über die Vorstellungen, die ich als Schüler von diesem Ort hatte.