"We didn't start the fire" Weltgeschichte in 291 Sekunden

"Harry Truman, Doris Day, Red China, Johnny Ray...": Die beliebteste Geschichtsstunde der Welt. Mit "We didn't start the fire" brachte Billy Joel 1989 einen der ungewöhnlichsten Rocksongs heraus. Wir hetzen mit ihm durch den Schlagzeilenmarathon, begleiten Sie uns!
Screenshot aus dem Musikvideo "We didn't start the fire"

Screenshot aus dem Musikvideo "We didn't start the fire"

Foto: Sony BMG Music Entertainment

In einem Aufnahmestudio in New York waren sie Ende der Achtzigerjahre aufeinandergetroffen: Ein 40-Jähriger, der über sein Leben nachdachte, und ein Musiker, der nur halb so alt war. Sie sprachen über Aids, Crack, die Weltlage. Eine schreckliche Zeit sei das für einen 21-Jährigen, sagte der Jüngere. Der Ältere nickte wissend. Ja, so habe er damals auch gedacht, als er um die 20 war. Damals, da hatten sie Vietnam, Drogen-, Bürgerrechtsprobleme. Der Jüngere wollte das nicht gelten lassen: Wer in den Fünfzigern aufgewachsen sei, hätte doch eine ruhige Kindheit gehabt. Jeder wisse doch, dass damals nichts Aufregendes passiert sei. Die Bemerkung machte den Älteren wütend: Nichts passiert? Hatte er denn noch nie vom Koreakrieg gehört? Vom Aufstand in Ungarn? Von der Suez-Krise?

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Strophe 1 (1949-1952)

Foto: Becker/ AP

Billy Joel sollte diese Geschichte später oft erzählen. Der 40-Jährige - das war er. Und das Gespräch war der Ausgangspunkt, die Idee zu einem Song, der im Herbst 1989 die Charts stürmte: "We didn't start the fire", eine Single-Auskopplung aus Joels Album "Storm Front". Der Song erschien am 27. September 1989 - in einem nahezu perfekten Moment. In Osteuropa fiel gerade der Eiserne Vorhang, die Menschen wurden Zeugen eines unerwartet friedlichen Jahrhundertereignisses. Und ein Rockstar aus New York hämmerte ihnen mit einer ebenso schlichten wie einprägsamen Melodie stakkatoartig den Irrsinn der vergangenen vier Jahrzehnte ins Hirn.

"Harry Truman, Doris Day, Red China, Johnny Ray..." - Vers für Vers reihte Billy Joel chronologisch Schlagworte aneinander - Namen, Orte, Ereignisse. Jedem Kalenderjahr widmete er zwei Zeilen - bis zum Attentat auf John F. Kennedy 1963. Für den Musiker ein prägendes Ereignis. Alles danach schrumpfte in seiner Erinnerung zusammen: Die letzte Strophe, beginnend mit 1964, hetzt in Sprüngen von einer Momentaufnahme zur nächsten - bis ins Jahr 1989.

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Strophe 2 (1953-1956)

Foto: Keystone/ Getty Images

Eigentlich sollte "We didn't start the fire" mit dem Skandal um vergiftete Äpfel in einer Supermarktkette enden, doch dann rollten in Peking Panzer über den Platz des Himmlischen Friedens. Statt "Poison apples in the store" reimte Joel: "China's under martial law", zu Deutsch: China unter Kriegsrecht. Ende der Achtzigerjahre schien Geschichte schneller geschrieben zu werden als ein Liedtext: "Lasst uns zur Hölle noch mal diese Platte rausbringen, bevor noch mehr passiert", hatte Joel zu seinen Kollegen gesagt.

Die Geschichte im Song ist eine sehr amerikanische. Mit Namen von US-Baseballspielern, Disney-Figuren, Hollywood-Stars. Dass sie dennoch an so vielen Orten auf der Welt verstanden wurde, mag etwas über die Verbreitung der amerikanischen Kultur sagen - aber auch über die geteilte Sicht auf die Welt: Joels Geschichte ist eine über den Kalten Krieg.

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Strophe 3 (1957-1960)

Foto: Ferd Kaufman/ AP

Es sei wichtig, so sagte der Entertainer später immer wieder in Interviews, dass man die Vergangenheit kenne, die der eigenen Familie und die des eigenen Landes. Seine eigene kannte er, und sie spiegelt ein Stück Weltgeschichte wider: Joels Familie väterlicherseits stammte ursprünglich aus Nürnberg. Weil sie Juden waren, verließen sie Deutschland 1938, flohen über die Schweiz, Frankreich und England nach Kuba, bis ihnen die Einreise in die USA gelang. Der junge Helmut Joel sollte vorübergehend noch einmal in die alte Heimat zurückkehren - als Soldat der US-Armee. In New York kam 1949 sein Sohn William Martin zur Welt, besser bekannt als Billy.

Von behüteter Kindheit in den Fünfzigerjahren konnte keine Rede sein. Er sei in ständiger Angst vor der Wasserstoffbombe aufgewachsen, sagte Billy Joel später. "Als ich ein Kind war, haben wir alle gedacht, wir könnten jede Minute in Fetzen gerissen werden", erzählte er im Oktober 1989 der "New York Times". Er erklärte so, warum ihn das unbedarfte Gerede des Jungen im Studio wütend gemacht hatte, diese Unkenntnis der Geschichte. Sie alle seien doch hineingeboren worden in den Schlamassel und müssten damit leben - er meinte damit seine Generation, die Nachkriegsjahrgänge, die Babyboomer.

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Strophe 4 (1961-1963)

Foto: AP

Der Song beginnt mit Billy Joels Geburtsjahr - doch schon die ersten Begriffe, die Karrieren von Harry Truman und Doris Day ebenso wie die Ereignisse in China sind keine, die ihren Ursprung im Jahre 1949 haben. "We didn't start the fire", singt Joel: "Wir haben das Feuer nicht entfacht".

"We didn't light it, but we tried to fight it", heißt es im Refrain weiter. "Wir haben es nicht angezündet, aber wir haben versucht, es zu bekämpfen." Man habe die Probleme geerbt und sich bemüht, sie aus der Welt zu schaffen. Trotz lässt sich da heraushören, auch Selbstentschuldung. Man habe ja nicht angefangen mit all dem Wahnsinn. Es ist eine Haltung, die es leicht machte, sich damit zu identifizieren. Das Lied ließ die Ängste der vergangenen Epoche im Schnelldurchlauf Revue passieren - eingedampft auf fünf Strophen, erträgliche 4:51 Minuten. Ein Song wie gemacht für ein gutes Ende.

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Strophe 5 (1964-1989)

Foto: Keystone / Hulton Archive / Getty Images

Im November 1989, dem Monat des Mauerfalls, stieg Joels kleine Geschichtsstunde für zehn Wochen in die deutschen Top Ten, in den USA wurde sie gar ein Nummer-1-Hit.

1991 geriet der Song bei einigen Radiostationen vorübergehend auf den Index. Im Irak waren die ersten amerikanischen Bomben gefallen. "We didn't start the fire" schien da irgendwem unpassend.

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