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30 Jahre "Blade Runner": Legende mit Fehlstart

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"Blade Runner" Legende mit Fehlstart

Bildgewaltig, philosophisch, desaströs: Wie ein Besessener hatte Ridley Scott an seinem neuen Sci-Fi-Film gebastelt - und dabei die Crew fast in den Wahnsinn getrieben. 1982 stellte er sein Werk einem Testpublikum vor. Doch die Zuschauer von "Blade Runner" verstanden nur Bahnhof.

Als das Licht anging, hätte man im großen Saal des Northpark Cinema in Dallas, Texas, ein Popcorn fallen hören können. "Es herrschte Totenstille", erinnert sich David DeHay an den Abend vom 6. März 1982. Fast 170 Meilen hatte der Lokalreporter zurückgelegt, aus seinem Heimatstädtchen Brownwood, den Highway 67 immer in nordöstlicher Richtung hinauf. Stundenlang hatte er in der Schlange gestanden, um einer der ersten auf der Welt zu sein, der "Blade Runner" sehen würde - den neuen Film des Regisseurs Ridley Scott, der drei Jahre zuvor mit seinem düsteren Weltraum-Horrorfilm "Alien" dem Science-Fiction-Genre das Fürchten gelehrt hatte. Und natürlich wegen Harrison Ford. Dem Mann, der als Weltraum-Cowboy Han Solo in "Krieg der Sterne" und als abenteuerlustiger Archäologieprofessor Indiana Jones in kürzester Zeit zum größten Star Hollywoods aufgestiegen war. Was für ein Traumpaar!

Seit Monaten wurde spekuliert, was dieses Gespann wohl abliefern würde. Ein Science-Fiction-Magazin hatte im Vorfeld angekündigt, Höhepunkt des Films sei eine spektakuläre Verfolgungsjagd in fliegenden Autos. Und nun das: Harrison Ford verfolgt als Roboterjäger Rick Deckard sogenannte Replikanten - Roboter in Menschengestalt, die Mensch sein wollen, aber nicht können. Doch nicht in wilden Action-Szenen, sondern einem fast meditativ langsamen, düsteren Film noir.

"Die Leute verließen den Saal so still, als wären sie auf einer Beerdigung", erinnert sich DeHay. Zwar hatte es fliegende Autos gegeben. Aber nach einer wilden Verfolgungsjagd fragte keiner mehr. "Viele waren verwirrt und deprimiert." Es war die zweite von zwei Testvorführungen - und so durften die verdatterten Zuschauer ihrer Fassungslosigkeit auf Fragebögen im Foyer Luft machen. Die Kommentare zeigten den angespannten Produzenten, dass ihr Film gerade durchgefallen war.

Den Zuschauern war der Film viel zu düster und die Figuren zu gefühlskalt gewesen. Statt der erwarteten Weltraum-Action hatten sie einen nachdenklich-finsteren Film über das Menschsein bekommen - und sich damit zu Tode gelangweilt. Und dann dieses Ende: Harrison Ford und seine Geliebte stiegen einfach in einen Fahrstuhl und der Film war plötzlich vorbei. Was Ridley Scott jedoch am meisten schockierte: Viele hatten die Handlung überhaupt nicht verstanden.

Verzweifelter Rettungsversuch

Zwar sollte die Filmgeschichte dem skeptischen Testpublikum Unrecht geben: Ridley Scotts Mischung aus Science-Fiction und Film noir gilt heute als Meisterwerk und findet sich in etlichen "Beste Filme aller Zeiten"-Listen. Die Bücher, Artikel und wissenschaftlichen Arbeiten, die über Ridley Scotts düstere Zukunftsvision verfasst wurden, füllen ganze Regalreihen. Doch 1982 stand der Regisseur erst einmal vor einem Problem. Da half es auch nicht, dass 42 Prozent der Zuschauer das Werk "extrem gut" oder "exzellent" bewerteten. "Blade Runner" hatte insgesamt 28 Millionen Dollar verschlungen und sein Budget um stolze sechseinhalb Millionen überzogen. Zum Vergleich: "Das Imperium schlägt zurück" hatte gerade einmal vier Millionen Dollar mehr gekostet. In diesen finanziellen Dimensionen reichte es nicht, eine Minderheit zu begeistern.

"Blade Runner" musste gerettet werden - und zwar so schnell wie möglich. Denn nicht mal drei Monate später sollte der Film in den USA starten.

In großer Eile wurden die Szenen mit einem Off-Kommentar von Harrison Ford versehen, der wortreich genau das erklärte, was die Zuschauer ohnehin auf der Leinwand sahen. Dann ging es dem deprimierenden Ende an den Kragen: Statt den Replikantenjäger Deckard mit seiner künstlichen Geliebten Rachael per Fahrstuhl ins Ungewisse zu schicken, ließ man beide einfach mit Deckards Wagen aus dem Los Angeles der Zukunft in eine idyllische Berglandschaft hinausfahren. Deckard referierte aus dem Off, dass das Haltbarkeitsdatum von vier Jahren, nach dem eigentlich alle Replikanten sterben müssen, glücklicherweise ausgerechnet bei Rachael nicht gilt. Die Verzweiflung der Produzenten war den Eingriffen deutlich anzumerken.

Zehn Minuten für den perfekten Take

Doch dieses Chaos schien ein folgerichtiges Finale für eine Entstehungsgeschichte, die alle Beteiligten immer wieder an ihre Grenzen getrieben hatte. Verantwortlich dafür war vor allem der Perfektionismus des Regisseurs. "Blade Runner" ist einer der bildgewaltigsten Filme, die jemals entstanden. Ridley Scott ist es gelungen, eine Welt erstehen zu lassen, in der die Ausstattung jedes Raumes, jedes dunklen Straßenzuges durchdacht ist bis ins kleinste Detail. Ein Ergebnis, das Scott, glaubt man den Berichten der Set-Arbeiter, mit Kontrollwahn erkaufte.

"Monatelang schufteten wir wie irre, um die Straßen richtig hinzubekommen", erinnert sich etwa David Snyder, der für den Aufbau der abgasschwangeren, verregneten und von Neonlicht durchsponnenen Gassen der Zukunftsstadt verantwortlich war. "Dann kam Ridley." Die Kosten für die Kulissen hatten zu diesem Zeitpunkt mit einer Million Dollar bereits das Budget überschritten. Scott jedoch sei nur kurz vorgefahren, aus dem Wagen gestiegen und hätte nichts gesagt als: "Das ist ein guter Anfang."

Auch viele Darsteller kamen mit Scotts Perfektionismus nicht klar. Denn er ließ jede Szene so lange wiederholen, bis er exakt das bekommen hatte, was er wollte. Allerdings nicht, bevor er nicht jede Einstellung mit äußerster Präzision vorbereitet hatte. M. Emmet Walsh, der im Film den Polizeichef Bryant spielt, erinnert sich, wie er abends um sechs für Nachtaufnahmen in der Union Station, dem größten Bahnhof von Los Angeles, auftauchte. Eigentlich sollte er die ganze Nacht vor der Kamera stehen. Doch dann verbrachte Scott die Zeit damit "das Licht, die Requisiten und den ganzen anderen Kram einzurichten", so Walsh. "Als Ridley endlich fertig war, war es kurz vor sechs morgens, Zeit, den Bahnhof zu räumen, bevor die Pendler kommen. Wir hatten noch genau zehn Minuten, um einen perfekten Take aufzunehmen. So war es immer."

Die Kritiker sind entsetzt

Auch der Star Harrison Ford blieb von Scotts Kontrollwahn nicht verschont. Einer der Statisten des Films berichtete in einem Interview mit dem "Future Noir"-Autor Sammon, er habe einmal eine Unterhaltung zwischen beiden mitbekommen, in der Ford den Regisseur anklagte: "Was machen wir hier eigentlich? Das ist vollkommen lächerlich. Du treibst es zu weit." Aber meist redeten die beiden ohnehin nicht miteinander.

Mitte Mai 1982 dann wurde der Crew das Ergebnis ihrer übermenschlichen Bemühungen gezeigt. M. Emmet Walsh erinnerte sich: "Ich war wirklich gespannt, wie der Film aussehen würde. Denn 'Blade Runner' ist einer der anstrengendsten Filme, bei denen ich je mitgemacht habe. Und erst die Crew! Wenn man zum Set kam, sahen die meisten von ihnen aus wie Minenarbeiter. Sie hatten Masken vor dem Gesicht und dreckige, verschwitzte Kleidung, wegen dem Rauch und Regen und der ganzen Scheiße."

Auch nach dieser Vorführung passierte es: als das Licht anging, sei vollkommen still gewesen, erinnert sich Walsh. "Keiner wusste, was zur Hölle das gerade war! Niemand hatte das Gefühl, gerade etwas Besonderes gesehen zu haben." Das sahen auch viele Kritiker so. Fast alle wichtigen Zeitungen verrissen den Film genüsslich. Die "Los Angeles Times" bezeichnete "Blade Runner" als "Blade Crawler", weil der richtige Titel den Leser dazu verleite, einen spannenden, schnellen Film zu erwarten. Die "New York Times" schrieb lakonisch, der Film sei "ein Haufen Schrott".

"Einfach nur lächerlich"

Das Schlimmste: Vor allem der Off-Kommentar und das kitschige Ende wurden verrissen, die Scott noch kurz vor Schluss eingefügt hatte. "Der Kommentar", schrieb Pauline Kael im "New Yorker", "klingt einfach nur lächerlich." Der Rezensent des "Miami Herald" meckerte: "Was mich an 'Blade Runner' am meisten verärgert hat, war das scheinbar drangetackerte Happy End." Nach ein paar deprimierenden Stunden im Kino, sei es einfach noch deprimierender, zu sehen, wie der Regisseur in den letzten Minuten der Angst unterliege, dass sein Film zu deprimierend sein könne.

Es kam wie es kommen musste: "Blade Runner" floppte.

Doch waren es wirklich ein paar Rezensionen, die Scotts düsterer Vision an den Kinokassen das Genick brachen? Fans und Filmhistoriker haben sich über diese Frage in den letzten 30 Jahren immer wieder die Köpfe zerbrochen. Manche meinen, dass im Sommer 1982 schlicht zu viele Filme auf den Markt kamen. Andere vermuten, dass das Publikum nicht sehen wollte, wie sein Held aus "Krieg der Sterne" als schweigsamer Killer feige einer weiblichen Replikantin in den Rücken schießt.

"Zu viel für den Durchschnittzuschauer"

Die populärste Theorie ist, dass der "Blade Runner" von einem freundlichen Alien aus dem Weg geräumt wurde. Denn 1982 startete auch Stephen Spielbergs Blockbuster "E.T. - Der Außerirdische" und spielte alle anderen Filme an die Wand. Vor allem aber prägte Spielbergs Alien-Märchen in diesem Sommer den Blick darauf, wie ein Science-Fiction-Film auszusehen hat: Niedlich, rührend, kindgerecht. Da hatte ein gefühlskalter Replikantenjäger schlechte Karten.

Dennoch regte sich schon bei der Veröffentlichung von "Blade Runner" Widerstand gegen die Kritik. Als das "People Magazine" den Film verriss, antwortete ein Leser hellsichtig: "'Blade Runner' wird ohne Zweifel ein Kultfilm werden. Sein einziger Fehler war es, für den durchschnittlichen Zuschauer zu viel zu bieten. Ich bin nicht der einzige in dieser Stadt, der den Film sechsmal gesehen hat und immer wieder neue Dinge entdecken konnte."

Er sollte recht behalten: Nicht nur die Schauspieler Rutger Hauer, Sean Young und Daryl Hannah zählen den Film zu ihren wichtigsten Arbeiten - auch für Abertausende Kinofans ist "Blade Runner" einer der besten Filme, die je gedreht wurden.

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