
Brandts Rücktritt: "Brandt muss weg"
Brandts Rücktritt "Brandt muss weg"
Man kann es so sehen: Vor genau 20 Jahren endete die Ära der klassischen Sozialdemokratie. Zumindest endete damals die "Ära Brandt". Denn am 23. März 1987 erklärte ein empörter, ja zutiefst verletzter Willy Brandt nach 23 langen Jahren im Vorsitz der SPD seine Demission. Vorbei war es fortan mit den langen Amtszeiten sozialdemokratischer Parteichefs. Jetzt lösten sich die Vorsitzenden dort nachgerade im Eiltempo ab. Es begann mit Hans-Jochen Vogel, dann folgten Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Matthias Platzeck - bis die SPD dann, als niemand sonst mehr da war, schließlich auf Kurt Beck kam.
Kurzum: In 20 Jahren verbrauchte die SPD acht Parteivorsitzende, während sie sich zuvor von dem einen an der Spitze, Willy Brandt eben, ein Vierteljahrhundert konstant und kontinuierlich durch Oppositions- und Regierungszeiten, durch fundamentale Mitgliederwandlungen, durch vehemente Generations-, Kultur- und Flügelstreitigkeiten hatte führen lassen. So scheinen die Brandt-Jahre in den oft wehmütigen Rückblicken zahlreicher Sozialdemokraten als letzter Höhepunkt sozialdemokratischen Glanzes. Mit dem Abgang von Brandt begann die Krise, der Niedergang, die Erosion des klassischen stolzen demokratischen Sozialismus in Deutschland.
So wird es erinnert. Doch ganz richtig ist es so nun auch wieder nicht. Schon am Tag, als Willy Brandt seinen Rücktritt ankündigte, war die Befindlichkeit sozialdemokratischer Mitglieder und Funktionäre durchaus im Zwiespalt. Natürlich waren sie geschockt, wohl auch bedrückt, aber ein wenig Erleichterung empfanden die meisten auch. Denn oft genug hatten sich die Sozialdemokraten zuletzt von ihrem Parteivorsitzenden allein gelassen gefühlt. Brandt zeigte sich zunehmend mehr vom politischen Alltag entrückt, genoss ersichtlich seinen Status als historische Legende, äußerte sich zu politischen Fragen eher raunend und kryptisch denn zielklar und präzise. Man wusste in der Partei vielfach einfach nicht, was "Willy will", wohin er denn nun genau steuerte. Allmählich gingen Brandts wolkige Metaphern und vage Andeutungen den Genossen in der Fläche gehörig auf die Nerven.
Als Willy Brandt dann in den Märztagen 1987 eine neue Sprecherin für die SPD aus dem Hut zauberte, da entlud sich das latente Unbehagen in einen Sturm der Entrüstung. Denn Brandt präsentierte der verblüfften Öffentlichkeit eine parteilose, politisch bis dahin ganz unerfahrene Kandidatin: die 29-jährige Margarita Mathiopoulos, Tochter eines griechischen Journalisten und Gegners der damaligen Junta in Athen.
Trouble um die "schöne Griechin"
Ganz untypisch war diese Entscheidung nicht für Brandt. Schließlich war er stets in Bewegung, um seine Partei zu erneuern, zu öffnen, aus der Enge ihres Milieus in die offene Gesellschaft zu drängen. Und so kam er eben auf die "schöne Griechin", wie sie seinerzeit in der Presse gern genannt wurde. Frau, jung, ohne Parteibuch, südeuropäischer Herkunft, in vielen Sprachen und Ländern zu Hause, gebildete in alter Geschichte, italienischer Philologie, Politik- und Rechtswissenschaft, Psychologie - all das sollte nach Absicht Brandts die neue Weltläufigkeit der geläuterten alten Tante SPD symbolisieren und demonstrieren.
In der Tat: Peter Glotz, der intellektuelle Bundesgeschäftsführer der SPD, war unmittelbar begeistert von dem Personalvorschlag. Indes: Alle anderen waren es nicht. Selbst treue Brandt-Gefährten wie Horst Ehmke und Egon Bahr verstanden ihren Meister nicht mehr. Ehmke sprach gar von einer "Narretei". Und das Lästermaul Hans Apel lancierte das flapsige Kürzel "BMW: Brandt-Muss-Weg".
Brandt war tief getroffen und klagte bitter über den "Aufstand des Spießertums" in seiner Partei. Dergleichen wird es in der Tat gegeben haben; aber den Kern der Sache traf das Verdikt nicht. Als Spießerei mag man nehmen, wie getratscht und getuschelt wurde, dass der Verlobte von Frau Mathiopoulos ein CDU-Mann sei, Friedbert Pflüger, damals Pressesprecher beim Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, heute Oppositionschef der Berliner CDU.
Legitimer waren gewiss die Hinweise, dass Brandts Favoritin ihr Studium durch ein Stipendium der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung hatte finanzieren können. Ein guter und enger Studienkollege an der Bonner Universität war im übrigen Guido Westerwelle, doch der war damals noch nicht als künftiger Kanzlerkandidat eines hochprozentigen Liberalismus identifiziert worden und fügte insofern seiner früheren Kommilitonin im März 1987 keinen weiteren Schaden zu. Eher stieß bei den Sozialdemokraten auf Argwohn, dass die Kandidatin des Parteivorsitzenden als Redenschreiberin im Dienste des Stuttgarter IBM-Chefs Olaf Henkel - des späteren Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie - stand. Und unzweifelhaft wogen die sorgenvollen Fragen schwer, ob jemand für eine Partei sprechen könne, von deren Gefühlswelt, Verfahren, Eigentümlichkeiten, ja Neurosen er oder sie einfach zu wenig verstehe - und dann noch dazu über keinerlei Erfahrungen im Haifischbecken der Bonner Politikjournaille verfüge.
Andere hielten zäher an ihren Posten fest
À la longue konnten sich die Skeptiker jedenfalls bestätigt fühlen. Eine Sozialdemokratin war Frau Mathiopoulos, die auf ihren Job in der "Baracke" schließlich auch verzichtete, sicher nicht. Später trat sie der FDP bei. Im Wahlkampf 2002 übte sie heftige Kritik am Kurs der Schröder-Regierung in der Irak-Politik. Gesellschaftspolitisch agierte sie als eifrige "Neoliberale", machte sich für eine "Rosskur" zur Transformation des Wohlfahrtsstaates und für eine Regierungskoalition Merkel-Westerwelle stark.
Kurzum: Frau Mathiopoulos war - als Sprachrohr der sozialdemokratischen Sache - gewiss ein veritabler Fehlgriff Brandts. Natürlich: Ein zwingender Grund für einen Rücktritt war die Querele um eine Parteisprecherin nicht. Aber so machte das Brandt. Schon 1974, als er das Kanzleramt wegen eines nicht unbedingt weltbewegenden Spions und allerlei Tratschereien über Frauengeschichten verließ, hätte man das Problem wohl auch aussitzen können. Andere Politiker hielten jedenfalls zäher, störrischer an ihren Führungsposten fest - auch dann noch, wenn ihre Zeit unverkennbar abgelaufen war. Dass Brandt stets rechtzeitig loslassen konnte, schützte ihn vor dem Verschleiß oder gar dem Verfall des Ansehens und der - amtsunabhängigen - Autorität, die er infolgedessen weiterhin genoss.
Dennoch: Viele Probleme der SPD aus den letzten Jahren haben ihren Ausgang in der Ära Brandt genommen, nicht erst danach. Unter Brandt begann die Großstadtkrise, zunächst von München über Frankfurt bis Hamburg. Schon in den frühen achtziger Jahren schafften es die Hamburger und Berliner SPD nicht mehr, Spitzenkandidaten in den eigenen Reihen zu finden. Diese frühen und traditionsreichen Hochburgen der Sozialdemokratie zerfielen peu à peu schon in jenen letzten Jahren der Brandt-Führung. Zugleich verlor die Partei bereits in den siebziger Jahren die Zugewinne, welche die SPD im Jahrzehnt zuvor noch in einigen Wachstumsregionen der Republik zu erzielen vermochte. Zudem hatte auch der Charismatiker Brandt die Entstehung, Stabilisierung und Ausdehnung der "Grünen" nicht verhindern können.
Langweilig war die SPD unter Brandt nicht
Bei den Bundestagswahlen im Januar 1987 war die SPD wieder auf den Stand der frühen sechziger Jahre, also beim Beginn des Brandt-Aufstiegs gelandet. Als Willy Brandt den Stab an Hans-Jochen Vogel weiterreichte, stellte die SPD nur noch in vier Bundesländern die Regierung.
Insofern war die Bilanz zum Schluss alles andere als berauschend. Dass Brandt gleichwohl auch als Parteivorsitzender, nicht nur als "Friedenskanzler" eine Legende blieb und wohl auch bleiben wird, hängt mit der historischen Fülle seiner Biografie und Persönlichkeit zusammen. Er war der letzte Parteivorsitzende, der in der alten sozialistischen Arbeiterbewegung groß geworden ist und zugleich doch als entscheidender Pionier neuer Wege und steter Veränderungen seiner Partei über Jahrzehnte regelmäßig voranging. Seine politischen Erfahrungen bargen und bündelten Gegensätze, schmerzhafte Lernprozesse, fortwährende Wandlungen durch die Erlebnisse in den späten Weimarer Fundamentalkonflikten, in der Emigration, im Berliner Frontstadtkampf, etc., etc..
Brandt war kein monopolitisch geprägter Akteur, wie etwa Helmut Schmidt oder jetzt das Triumvirat Beck, Müntefering und Struck, die alle ganz ähnlichen, erfahrungseinseitigen Zuschnitts sind. Die lebensgeschichtliche Spannweite und Ambivalenz, aus der Brandt seine politischen Ideen und Antriebskräfte zog, gaben der SPD unter diesem Vorsitzenden Farbe, Substanz, Vitalität, einen wirklich volksparteilichen Charakter. Langweilig war die SPD unter Brandt zumindest nicht. Auch wurden Diskussionen nicht mit schlichten Basta-Imperativen stranguliert. Brandt war immer auf der Suche nach neuen Bündnissen, Zäsuren, Anfängen, Wandlungen, die er in der Tat oft weit früher witterte als seine politischen Mitspieler. Den Sinn für weitgesteckte Perspektiven und ausstrahlungskräftige Empathie hatte er - der oft genug auch zauderte, abtauchte und irrte - seinen Nachfolgern im Amt als Parteivorsitzende jedenfalls erheblich voraus.
Franz Walter
Erschienen auf SPIEGEL ONLINE am 23.03.2007