
Braunaus Vergangenheit: Mit Hitler leben
Braunaus Vergangenheit Mit Hitler leben
Elfriede Hölbling geht strammen Schrittes, vorbei an den hübschen gotischen Häuschen aus dem 15. Jahrhundert mit ihren schmucken Läden, die Fassaden rund um den Stadtplatz sind in freundlichen Erdfarben gehalten, immer abwechselnd, gelb, rot, braun, dann wieder rot, braun, gelb. Der Weg führt vorbei am Heimathaus samt Glockengießerei, an der Herzogburg, einem kleinen Stadtmuseum, am stattlichen Dom mit seinem 87 Meter hohen Kirchturm. "Der fünfthöchste in ganz Österreich", sagt Hölbling stolz. Sie trägt einen hellen Anzug, dazu eine rote Brille mit roter Kette. Elfriede Hölbling ist Stadtführerin in Braunau am Inn.
Das Braunau? Ganz recht. Der Ort in Oberösterreich, unmittelbar an der Grenze zu Deutschland gelegen, der jahrhundertelang zu Bayern gehörte und später zu Österreich kam. Der Ort, der weltberühmt wurde, weil hier am 20. April 1889 Adolf Hitler das Licht der Welt erblickte. Und weil das so ist, wartet Elfriede Hölbling mit einer weiteren Attraktion auf ihrer Route auf: Dem Geburtshaus des Mannes, der die Welt ins Verderben stürzte, ein paar Meter nur vom zentralen Stadtplatz entfernt, auf der anderen Seite der Stadtmauer. Salzburger Vorstadt 15 lautet die Adresse.
Es ist ein freundliches, gelb getünchtes Gebäude, zwei Stockwerke hoch. Das war nicht immer so, sagt Hölbling, jahrelang war dies das schäbigste Haus im gesamten Viertel. Lange konnten die Stadtoberen sich nicht darauf einigen, wie man mit dem Gebäude umgehen sollte. Immer wieder trieb sie die unangenehme Frage um: Was machen mit dem ungeliebten Erbe?
Hitler ist immer da - unsichtbar, aber allgegenwärtig
"Es ist unser Pech, dass eine negative Persönlichkeit wie Hitler hier geboren wurde", sagt Hölbling fast ein wenig verlegen. Doch dann erinnert sich die zierliche Frau an ihre Mission und lächelt gewinnend: "Ich will unseren Gästen zeigen, dass wir eine nette Kleinstadt sind, die mehr zu bieten hat, als nur diese Person."
Braunau, das ist immer auch gleichzeitig irgendwie Adolf Hitler, er ist immer da, unsichtbar zwar, aber doch allgegenwärtig. In seinem dunklen Schatten leben die 16.000 Einwohner Braunaus - trotz all der idyllischen Gässchen und historischen Gebäude, die Braunau zu bieten hat, trotz der Tatsache, dass die NSDAP hier bei den Wahlen 1931 nur auf acht Prozent kam, während im nahen Innsbruck schon 30 Prozent den Nazis zustimmten und ihnen begeistert Beifall klatschten.

Braunaus Vergangenheit: Mit Hitler leben
Der Name Hitler klebt an Braunau, zäh und fest. Wie ein eingebranntes Mal ist er unwiderruflich mit dem kleinen Ort verbunden. Damals, in den Siebzigern, als ihr Mann und sie aus Wien hierherlocken wollten, hätten Freunde nur gefragt, ob "wir spinnert" sind, erzählt Hölbling. Seither habe sich viel getan. "Heute wäre das wohl nicht mehr so." In diesem Moment kommt ein kleiner Mann aus dem Gebäude gegenüber geschossen, Francesco Carlo aus Lecce in Süditalien kam der Liebe wegen aus Italien an den Inn, seit kurzem betreibt er ein Feinkostgeschäft für kalabrische Delikatessen vis-à-vis des Hitler-Hauses. Weiß er, wer da geboren wurde? "Interessiert mich nicht", ruft Carlo, fuchtelt abwehrend mit den Händen in der Luft herum und verschwindet wieder, eine Kundin wartet.
Hitlers Taufschein in der Klarsichthülle
Wenige Gehminuten entfernt sitzt Florian Kotanko in einem kleinen Café und bestellt sich einen kleinen Braunen, so heißt der österreichische Kaffeeklassiker. Kotanko trägt einen grauen Backenbart und eine Baskenmütze. Er ist Historiker und Direktor des hiesigen Gymnasiums. Jetzt zieht er eine Klarsichthülle aus seiner Aktentasche, darin ein Dokument: der Taufschein Adolf Hitlers, versehen mit der Registriernummer A/2 Zl. 5478/7. Unter dem Namen des Täuflings steht da "Adolfus", der Vater, Alois, ist als "Zollamtsoffizieller" aufgeführt, Mutter Klara als eheliche Tochter des Johann Pölzl. Ausgestellt ist das Dokument, nachträglich, im Pfarramt von Braunau, am 12. November 1924, als Hitler bereits 35 Jahre alt war.
"Als glückliche Bestimmung gilt mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies", hatte der angehende Reichskanzler und "Führer" schon 1924 in seinem Buch "Mein Kampf" geschrieben: "Liegt doch jenes Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint."
Als Hitler im März 1938 den "Anschluss" Österreichs tatsächlich vollzog, fiel er als erstes in seiner Geburtsstadt ein. Sein Autokonvoi überquerte den Inn, rollte vorbei am mit Menschen gefüllten Stadtplatz, vorbei an seinem Geburtshaus, und fuhr, ohne, dass Hitler ausgestiegen wäre, weiter nach Linz und Wien. Die Massen empfingen ihn begeistert.
"Ein etwas unglücklicher Name"
Braunau habe natürlich zu allem Überfluss auch noch einen "etwas unglücklichen Namen", sagt Schuldirektor Kotanko, nimmt einen Schluck Kaffee und lächelt süffisant. Lange beherrschten Verdrängung, Unbehagen und Nicht-mehr-hören-Können das Verhältnis der Braunauer zu ihrem ungeliebten Mitbürger. Wo immer auf der Welt ein Braunauer sich zu erkennen gab - immer wurde er sofort auf den Mann mit dem markanten Minischnauzer und der schnarrenden Stimme angesprochen. "Es hat lange gedauert, bis es gelang, die Stadt mit anderen Konnotationen zu versehen", sagt Kotanko.
Dazu gehörte auch, den eigenen Blick auf die Geschichte zu verändern. "Wir mussten einen Kontrapunkt gegen die ständig negative Berichterstattung setzen", sagt Kotanko. Irgendwann gründete er mit Kollegen den Verein für Zeitgeschichte; einmal im Jahr kamen nun Historiker, Soziologen, Zeitzeugen von überall nach Braunau, um zu diskutieren - über Zwangsarbeit, über die Besatzungszeit, über das Kriegsende. Bei einer Veranstaltung diskutierten ein Herr Hitler aus Tirol und ein Herr Himmler aus der Nähe von Braunau über die Last, einen solchen Namen zu tragen. Eine Provokation? Historiker Kotanko lächelt. "Das muss schon auch sein."
Und immer wieder die Frage: Was macht man mit dem unseligen Hitler-Haus? Ursprünglich gab es dort die Gaststätte "Zum Hirschen" - die während des "Dritten Reichs" vom Volksmund nur "Zum braunen Hirschen" genannt wurde. Nach dem Krieg residierten hier eine Galerie, eine Bank, eine Schule. Sie verschwanden, die schwierige Frage, was mit diesem komplizierten Erinnerungsort zu tun sei, blieb.
Behinderte basteln in Hitlers Heim
Heute beherbergt das Haus Salzburger Vorstadt Nummer 15 eine Dependance der Lebenshilfe Oberösterreich, eine Einrichtung für behinderte Menschen, die hier die Möglichkeit erhalten, kreativ zu arbeiten. Im Erdgeschoss findet sich der "Aktivshop", ein kleiner Verkaufsraum, es gibt bunte Filztaschen, filigrane Ketten, robustes Holzspielzeug - alles handgefertigt. Die 38-Jährige Alexandra sitzt hinter der Theke und erzählt voller Stolz, wie sie Postkarten verziert, wie sie Perlen aufzieht. "Viel Arbeit", sagt sie und strahlt.
Oben, in dem Raum, in dem Hitler wohl geboren wurde, hängen altmodische gelb-blaue Vorhänge vor den Fenstern, an der Wand helle Holzpaneele. Rundherum sitzen Alexandras Kollegen an den Tischen; sie malen, sie nähen, sie fügen für einen großen Bettenhersteller Gelenke für die Lattenroste zusammen. Unter den Nationalsozialisten wurden Behinderte zu "unwertem Leben" erklärt, an manchen wurden Menschenexperimente durchgeführt, Abertausende wurden ermordet.
Dass heute Behinderte ausgerechnet hier Raum für ihre freie Entfaltung finden, "ist die beste Widmung für das Hitler-Haus, die man sich denken kann", sagt Bürgermeister Gerhard Skiba. Er sitzt an einem mächtigen Holztisch im Rathaus, ein schmächtiger Mann mit durchdringendem Blick. Seit 20 Jahren ist der 61-Jährige Bürgermeister von Braunau, seine Amtszeit hatte der Sozialdemokrat gleich mit einer Provokation begonnen: Zum 100. Geburtstag Hitlers am 20. April 1989 ließ er vor dem ungeliebten Haus von Amts wegen einen Gedenkstein plazieren. Die Eigentümerin hatte bis dahin das Anbringen einer Erinnerungstafel strikt verweigert.
Hitlergruß in der KZ-Gedenkstätte
Seither stehen sie da wie eine Anklage, Worte, in mächtigem Stein gemeißelt: "Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote mahnen." Der Stein selbst, ein schwerer Granitblock, stammt aus dem Steinbruch des ehemaligen NS-Konzentrationslagers Mauthausen, das rund 130 Kilometer entfernt liegt. Bis die Stadt dieses Zeichen setzte, sagt Skiba, gab es im Ort immer noch gewissenlose Ladenbesitzer, die mit dem zweifelhaften Andenken an den berühmtesten Braunauer Geschäfte machten: Es gab Hitler-Aschenbecher, Hitler-Tassen, sogar Hitler-Wein. "Ich habe denen klargemacht, dass sie der Stadt damit keinen Gefallen tun", gibt sich der Bürgermeister zufrieden. Die Zeit der Geschäftemacherei war vorbei.
Auch vor zwei Jahren mischte sich Skiba ein, als Mitglieder des Fanclubs des heimischen Fußballvereins FC Braunau beim Hitlergruß erwischt wurden - und das auch noch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. "Das hat mir sehr weh getan", sagt Skiba, "vor allem, weil einer der Jungs wegen dieser Blödheit seinen Arbeitsplatz verlor." Skiba bestellte die Übeltäter ins Rathaus und las ihnen gehörig die Leviten. "Die sollten wissen, dass sie mit einem solchen Mist Braunau schaden."
Und heute? Bürgermeister Skiba ist eigentlich ganz zufrieden. "Es war ein langer Kampf", sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Selbst mit seinem Vater habe er lange Diskussionen führen müssen. "Warum machen wir das?", fragten vor allem ehemalige Kriegsteilnehmer immer wieder. Wir können nichts dafür. Lasst das Thema doch endlich ruhen. Aber nach anfänglichem Widerstand ständen inzwischen 99 Prozent der Braunauer hinter der offensiven Auseinandersetzung mit den braunen Flecken in der eigenen Geschichte, glaubt Skiba. Das ungeliebte Erbe habe die Stadt inzwischen als Chance begriffen, selber "einen Beitrag zu leisten" zur Bewältigung der NS-Vergangenheit - und sei es durch Historikertreffen und den Gedenkstein.
Dort, am Block aus Mauthausener Granit vor dem Hitler-Haus, versammeln sich dann und wann Stadtobere und Bürger Braunaus, um etwa zum Jahrestag der Befreiung des nahen KZs oder des Kriegsendes der Vergangenheit zu gedenken. An solchen Tagen sind dann mehr Polizeipatrouillen auf den Straßen unterwegs, doch Aufmärsche von Neonazis waren in all der Zeit niemals ein Problem. Es scheint, als habe das kleine Braunau das Gespenst aus seiner Vergangenheit gebannt. Nicht ganz vielleicht. Aber doch, soweit es menschenmöglich ist.