Zeitreisen durch die deutsche Geschichte »Immer nur eine Nasenlänge voraus«

Wer hat an der Uhr gedreht? Autor Bruno Preisendörfer taucht gern in sehr verschiedene Epochen ein, will aber »nicht bloß Anekdoten-Konfetti verstreuen«
Foto: Patrick Daxenbichler / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Herr Preisendörfer, Anfang Oktober ist Ihr Buch über die Bismarck-Zeit erschienen – die vierte und letzte der »Zeitreisen«, die ein Panorama vom Alltag und Geist vergangener Epochen bieten. Zuvor haben Sie schon die Goethezeit, Luthers Welt und die Epoche Bachs durchleuchtet. Sind Sie erschöpft oder erleichtert?
Preisendörfer: Beides. Die vier Bücher sind recht schnell nacheinander erschienen, ich hatte kaum eine Verschnaufpause. Zu Bismarcks Zeit, also im 19. Jahrhundert, schreiben viele Leute, und dazu besonders fett: Bismarcks eigene Erinnerungen umfassen Hunderte von Seiten, August Bebels Erinnerungen ebenso. Historische Quellen gibt es in gewaltigen Mengen. Und die Romane, die oft auch Wichtiges für ein Zeitporträt hergeben, wachsen sich oft zu mehrbändigen Zyklen aus. Theodor Fontane ist noch vergleichsweise schlank, aber Gustav Freytag schon weniger.
SPIEGEL: Lesen Sie das denn alles?
Preisendörfer: So viel wie möglich. Und dann muss der Stoff ja konfiguriert, erzählbar gemacht werden.
SPIEGEL: Sind Sie stolz, inoffizieller Geschichtslehrer Deutschlands zu sein?
Preisendörfer: So fühle ich mich nicht. Wichtig ist mir der besondere Blick. Aufklärung und Goethezeit waren akademisch mein Spezialgebiet, auch über Luthers Epoche wusste ich manches. Bei Bach motivierte mich die Liebe zur Musik. Und Bismarcks lag dann auch nahe: Ich habe mich schon im Studium für die Arbeiterbewegung interessiert, komme aus einem Arbeiterhaushalt. Besonders anregend ist es, wenn einem beim Schreiben Neues auffällt – zum Beispiel, dass Bismarck ganz zu Unrecht als Begründer des Sozialstaates gepriesen wird.
SPIEGEL: Wie sind Sie auf die historische Schiene geraten?
Preisendörfer: Ich hatte über Johann Gottfried Seume geschrieben, einen faszinierenden Beobachter der wilden Jahre um 1800. Als das Buch gut ankam, fragte mich etwa 2012 mein Verleger und Lektor Wolfgang Hörner, ob ich nicht ein erzählerisches Porträt der Goethezeit schreiben wolle. Das Buch war in Arbeit, als mir plötzlich klar wurde: 2017 ist Reformationsjubiläum. Der nächste Band entstand also unter großem Zeitdruck. Immerhin, den Titel wusste ich sofort: »Als unser Deutsch erfunden wurde«.
SPIEGEL: Passiert Ihnen das öfter? Wie arbeiten Sie überhaupt?
Preisendörfer: Die Idee muss in Form kommen, es soll ja auch nicht immer nach demselben Schema ablaufen. Zuerst entwerfe ich das Inhaltsverzeichnis. Dafür lese ich wie verrückt, stöbere herum, notiere mir Stichwörter, ordne ein paar Schlüsselzitate zu – und spiele natürlich auch schon mit hübschen Überschriften.
SPIEGEL: Und bei dieser Inhaltsfolge bleibt es dann?
Preisendörfer: Nicht zwingend. Beim Goethe-Buch war ich anfangs viel zu systematisch und habe dann die Reihenfolge komplett umgekrempelt, damit die Sache erzählerischer wurde. Beim Lektorat kann sich auch etwas verschieben. Aber im Prinzip ist das Inhaltsverzeichnis mein Fahrplan, nach dem ich dann losschreibe.
SPIEGEL: Während Sie immer weiter lesen und Details recherchieren?
Preisendörfer: Ja, das ist ein gleitender Vorgang. Häufig entdecke ich mittendrin Sachen, die fast sofort verarbeitet werden können. Vieles muss man auch weglassen. Ich will ja kein Handbuch schreiben, andererseits nicht bloß Anekdoten-Konfetti verstreuen. Es sollen Figuren – keine Helden! – mit ihren Widersprüchen auftreten und Zusammenhänge erzählerisch sichtbar werden. Salopp gesagt, bin ich dabei meiner Leserschaft immer nur eine Nasenlänge voraus. Das hat auch Vorteile: Ein Reiseführer ist eben kein scheinbar allwissender Akademiker.
SPIEGEL: Schmerzt es manchmal, etwas wegzulassen?
Preisendörfer: Und ob. Im Bismarck-Buch hatte ich ursprünglich neben dem Kapitel über »Revolution« eines über »Evolution« geplant. Reformkonzepte, Darwin und der Spruch vom Überleben des Stärkeren – das waren ja zentrale Themen des 19. Jahrhunderts, eng verknüpft mit anderen heiklen Fragen wie dem Rassendenken oder auch Kolonialansprüchen. Aber die Materie ließ sich nicht sinnlich-konkret genug darstellen. Dabei ist sie hochaktuell: Es gibt heute ja wieder allerlei seltsame Gen-Fetischisten, um nur einen Aspekt zu nennen.
SPIEGEL: Vielleicht der Stoff für ein weiteres Opus?
Preisendörfer: Zumindest die heikle Formel vom »Überleben des Stärkeren« soll in meinem nächsten Buch vorkommen, das eine Reihe bedeutender, aber auch problematischer Sentenzen erörtert, zum Beispiel »Wissen ist Macht« und »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«.

Preisendörfers Passion: Mit Siebenmeilenstiefeln durch die Geschichte
Foto:Koch / picture alliance/VisualEyze/United Archives
SPIEGEL: Offenbar sind Sie ein perfekt disziplinierter Autor. Oder hat erst die Geschichtsreihe Sie dazu gezwungen?
Preisendörfer: Sie hat sicher etwas beigetragen. Seit ich diese Bücher schreibe, mache ich fast nichts anderes mehr. Ich musste mir sogar Leseverbote erteilen, um das Pensum der geplanten Lektüre zu schaffen.
SPIEGEL: Sie gingen mit Ihrem Vorhaben in Klausur?
Preisendörfer: Genau. Das Leben lief schon weiter, aber die meiste Zeit saß ich hier in meiner alten Berliner Mietwohnung, die ich seit Studentenzeiten habe, und grub mich einzelkämpferisch in die jeweilige Epoche ein – oft auch am Bildschirm, weil heute so vieles so leicht digital verfügbar ist.
SPIEGEL: Waren Sie dann gleich auch Ihr eigener Faktenprüfer?
Preisendörfer: Ehrensache. Mein Anspruch ist ja, dass alles, was ich erwähne, belegt werden kann. Natürlich entdeckt man auch noch Patzer, wenn das Buch fertig ist. Mal ist eine Zahl verrutscht, mal ein Bezug. Aber bei der Fülle an Informationen und der knappen Zeit ist das kaum zu vermeiden.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?
Preisendörfer: Im Bach-Buch kommt auch Isaac Newton vor. Zu dieser Zeit besuchten meine Frau und ich eine Fotoausstellung. So kam es, dass ich plötzlich statt Sir Isaac aus Versehen »Helmut Newton« tippte – und es wurde gedruckt. Peinlich! Aber auch lustig.
SPIEGEL: Sie bauen immer wieder Szenen aus Romanen ein. Darf ein Historiker das?
Preisendörfer: Wenn man den Abschnitt markiert und seinen symptomatischen Wert zeigt, ist es doch in Ordnung. Sie können ja für die Bismarck-Epoche auch nicht irgendeine Zeitung zitieren, ohne zu erklären, wer da aus welcher Perspektive schreibt – meist sogar sehr parteiisch, für eine ganz bestimmte Lobby. Bei den Romanen sind übrigens Werke zweiten und dritten Ranges besser als Dokumente zu gebrauchen, weil dort Alltagsdetails viel direkter ausgeplaudert werden.
SPIEGEL: Es macht Ihnen anscheinend besondere Freude, Ungewohntes zu erwähnen: etwa dass der Maler Adolph Menzel mit der linken Hand zeichnete, aber mit der rechten den Pinsel hielt. Oder dass es in Bismarcks Berlin für den Wohnungswechsel armer Mieter eigene »Ziehtage« gab.
Preisendörfer: Viele Besonderheiten findet man tatsächlich kaum in der Forschungsliteratur. Eine meiner Fundgruben für das 18. Jahrhundert war das gigantische Lexikon von Krünitz, das man inzwischen online aufschlagen kann. Bismarcks Epoche spiegelt sich in heute vergessenen Erzählwerken und Memoiren, auch in der zu Unrecht berüchtigten, weitverbreiteten und gut gemachten Zeitschrift »Die Gartenlaube«. Sehr ergiebig ist dazu der Anzeigenteil alter Adressbücher.
SPIEGEL: Lassen Sie sich Tipps geben?
Preisendörfer: Gern. Zum Beispiel hat mir mein Cousin, ein Eisenbahnkenner, erklärt, dass das D beim »D-Zug« für den Durchgang von Wagen zu Wagen steht, den es in der Frühzeit gar nicht gab. Wer weiß das schon? Solche Details sind kostbar.
SPIEGEL: Wann ebbt Ihre Entdeckerfreude ab?
Preisendörfer: Die Neugier nie. Aber ein Buch muss halt irgendwann fertig werden. Sobald das Manuskript abgeliefert ist, wünsche ich mir schon etwas Abwechslung von der Epoche, in der ich so lange gehaust habe.
SPIEGEL: Gelegentlich werden Sie kategorisch. Da heißt es dann: Das Bildungsbürgertum hat es eigentlich nie gegeben.
Preisendörfer: So etwas soll schon überraschen, aber nicht als hingeflapste Provokation. Ich begründe die These ja: Sich als Bildungsbürger zu fühlen war weitgehend eine Wunschprojektion von Teilen der wilhelminischen Mittelschicht. Das ist durch soziologische Studien auch nachgewiesen.
SPIEGEL: Habe Sie mal schweren Widerspruch bekommen?
Preisendörfer: Beim Luther-Buch gab es das; Luther ist halt eine komplexe, schwierige, oft problematische Gestalt . Als ich bei einer Lesung ein heute sehr frauenfeindlich klingendes Zitat von Luther brachte, geriet eine Dame im Publikum außer sich – sie wollte einfach nicht glauben, dass Luther so etwas hatte schreiben können. Aber die Aussage ist leider authentisch.
SPIEGEL: Ernüchtert es Sie nicht auch, dass jede Figur der Geschichte unerfreuliche Seiten hat?
Preisendörfer: Im Gegenteil. Der Philosoph Odo Marquard hat gern behauptet, gute Philosophie sei »Komplexitätsreduktion«, sie vereinfache das Verstehen. Für Historiker, glaube ich, gilt oft beinahe das Gegenteil: Erst wenn man genügend Komplexität aufbaut, kommt man der historischen Wahrheit näher. Helfen kann man den Menschen von einst sowieso nicht mehr. Aber ihre Anliegen zu begreifen, ohne aus sicherem Zeitabstand gleich zum Besserwisser zu werden oder wohlfeile Parallelen zur Gegenwart zu ziehen – das finde ich wichtig und lohnend.
SPIEGEL: Am Schluss Ihrer Bismarck-Einleitung heißt es: »›Historia‹ ist eine unberechenbare Lehrerin.« Ist das Ihr Fazit, haben Sie das aus der Arbeit gelernt?
Preisendörfer: Ein wenig schon. Sich mit Geschichte zu beschäftigen ist Komplexitätstraining, Training der Wahrnehmung, könnte man sagen. Es wiederholt sich nie etwas ganz genau, Rezepte ableiten kann man also bestimmt nicht. Aber wer die Vergangenheit besser begreift, wird auch die eigene Gegenwart bewusster wahrnehmen – und dann vielleicht, hoffentlich besonnener handeln.