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Bücherdorf Hay-on-Wye: Die Leseratten-Plage

Bücherdorf Hay-on-Wye Die Leseratten-Plage

1800 Einwohner, zehn Millionen Bücher: Mitten im walisischen Nirgendwo steht das Dörfchen Hay-On-Wye, die heimliche Buchmetropole der Welt. Geschaffen wurde es Anfang der sechziger Jahre von einem besessenen Intellektuellen, der sich selbst zum König des Lesereichs ernannte. Dann verselbstständigte sich das Spektakel.

Wer auf der schmalen Straße durchs ländliche Wales Richtung Hay-on-Wye fährt, vorbei an kleinen Wäldchen und endlosen Schafsweiden und Rapsfeldern, kann sich kaum vorstellen, dass er gleich in einer Hauptstadt ankommen wird. Auch wenn man das halb zugewucherte Stadtschild passiert hat, scheint zunächst nichts an diesem 1800-Seelen-Nest ungewöhnlich: Es gibt liebevoll gepflegte Vorgärten, von Efeu bewachsene Natursteinhäuschen und kleine Läden, die die Straßen des Dorfes säumen.

Erst, wenn man ein wenig umherschlendert, dämmert es: Wenn man an "Addyman Books" vorbeigeht. Dann kurz darauf vor dem Schaufenster des "Sensible Book Shop" stehenbleibt und über die üppige Auswahl internationaler Bücher staunt. Oder wenn man die Krimifachhandlung "Murder and Mayhem" betritt. Oder irgendeinen anderen der 38 Buchläden des winzigen Ortes. Dann begreift man, dass Hay kein gewöhnliches Dorf ist. Es ist ein Bücherdorf - und zwar das erste der Welt.

Schon seit Jahrzehnten gilt Hay als Welthauptstadt des Gebrauchtbuchhandels. An keinem anderen Ort der Erde, so heißt es, gibt es mehr Bücher pro Quadratkilometer als in diesem entlegenen walisischen Nest an der Grenze zu England. Im Jahr 1962 begann hier eine einzigartige Erfolgsgeschichte, in deren Verlauf das kleine Bauerndorf zum Epizentrum einer weltweiten Bewegung aufstieg. Zu verdanken hat Hay das einem selbsternannten König.

"Ein walisisches Mekka"

1962 hatte Richard Booth noch keine Ahnung, dass er einmal König werden würde. Er wusste nur, dass er eines über alles liebte: Bücher. Das sei bei ihm genetisch, erklärt er im Gespräch mit einestages: "Schon mein Vater liebte Bücher über alles. Er war mit der britischen Armee zehn Jahre in Indien stationiert gewesen. Er hatte dort etwa ein Prozent seiner Zeit mit Kämpfen verbracht, drei mit Polospielen - und die restlichen 97 Prozent mit Lesen." Und so war Booth von Kindesbeinen an in zahllose Antiquariate gezogen worden. Daher wurde aus dem Sohn eines einfachen Mechanikers fast unvermeidbar ein Intellektueller - der 1962 gerade nach Abschluss seines Geschichtsstudiums in Oxford in den Schoß seiner Familie in Hay zurückkehrte.

Seine Eltern zeigten sich wenig begeistert von der Rückkehr ihres erwachsenen Sohnes in ihre Obhut. Sie hatten für ihn eine Karriere als Buchhalter in London im Sinn gehabt - doch die Lehre hatte er nach wenigen Wochen wieder abgebrochen. Statt ein kleines Rad in einem riesigen Unternehmen zu sein, wollte er etwas Eigenes auf die Beine stellen: ein Buchgeschäft. In Hay.

Für läppische 700 Pfund kaufte Booth eine leerstehende Feuerwache und begann, mit einer illustren Schar von Helfern ein Antiquariat im Nirgendwo aufzubauen: Die Schwester des örtlichen Tierarztes stellte sich an den Verkaufstresen. Der ehemalige Gärtner seiner Eltern, dem gekündigt worden war, nachdem er das Haus der Booths im Suff beinahe abgefackelt hatte, half bei Lagerarbeiten. Und Richard Booth selbst fuhr unermüdlich tagelang quer durch Großbritannien, um Zentner alter Bücher, die niemand haben wollte, aufzukaufen und nach Hay zu schaffen. Die Dorfbewohner, so Booth, hielten ihn für verrückt: "Sie dachten, ich würde es nie länger als zwei oder drei Wochen durchhalten. Denn niemand in Hay las Bücher." Doch genau das war der Punkt.

Denn schon bald begann Booths absurdes Antiquariat in der Provinz, Käufer von weither anzulocken. Die "Western Mail" lobte Hay-on-Wye bald als "walisisches Mekka für keltische Literaturstudien". Wenig später fielen Horden von Liebhabern walisischer Bücher in Booths Laden ein. Das Geschäft lief nun blendend. Booth richtete ein zweites Büchergeschäft ein, kaufte ganze Bibliotheken auf - und zog aus der elterlichen Wohnung um in eine alte normannische Burg im Ort. Er begriff: Wenn es ihm gelänge, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen, könnte er nicht nur selbst ein Riesengeschäft machen, indem er Käufer aus ganz Großbritannien anzog - er könnte auch das wirtschaftlich darbende Hay in ein blühendes Tourismuszentrum verwandeln.

König der Bücher

Durch den illustren Londoner Bekanntenkreis aus seinen Studienzeiten hatte Booth einen guten Draht zur britischen Presse: "Ich war zufällig befreundet mit der Popsängerin Marianne Faithfull, die mit Mick Jagger zusammen war. Und weil sie keine Lust hatte, mit der Presse zu sprechen, kamen regelmäßig Horden von Journalisten nach Hay, nur um mich darüber auszufragen, was bei ihr so los war."

Booth nutzte seine Kontakte für einen bizarren PR-Stunt: Am 1. April 1977 trat er in Hay mit Hermelinrobe, Reichsapfel und goldener Krone vor eine Gruppe britischer Journalisten und erklärte feierlich die Abspaltung Hays vom Vereinigten Königreich sowie den Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft. Sich selbst ernannte Booth vor den schmunzelnden Journalisten zum König Richard des Unabhängigen Königreichs Hay-on-Wye. Und sein Pferd zum Premierminister. Es folgte ein ungeheures Medienecho. "Es waren damals mehr Journalisten in Hay als Einwohner", erinnert Booth sich kichernd.

Nicht jeder konnte über diesen Aprilscherz lachen. Ein Beamter des Gemeinderats ließ sicherheitshalber offiziell verlautbaren, Hay-on-Wye sei noch immer Teil der Britischen Inseln. "Ein paar Dorfbewohner", so Booth, "fühlten sich damals so angegriffen, dass sie mir meine Fenster einschmissen." Sein Königreich fand offenbar keine Anerkennung - doch sein Plan sollte trotzdem aufgehen.

"What's Hay-on-Wye? Some kind of sandwich?"

Booths Königreich der Bücher zog immer mehr neugierige Fremde in das Dorf. Booth erweiterte seinen Buchbestand pausenlos, aber auch andere Dorfbewohner begannen nun, Antiquariate zu eröffnen und einen eigenen Nischenmarkt zu finden: Ein Geschäft für vergriffene Kinderbücher, der einzige reine Lyrik-Buchladen Großbritanniens, das angeblich weltgrößte Antiquariat zu Bienenzucht und Gartenpflege - all diese und mehr Interessengebiete bedienen die unzähligen Bücherläden der Stadt heute, deren Angebot sich längst nicht mehr nur auf englischsprachige Literatur beschränkt. Der Bestand der Antiquariate des winzigen Dorfes wird auf rund 10 Millionen Bände geschätzt, Tendenz steigend. Selbst das einstige Kino des Ortes wurde inzwischen zum Buchladen umgebaut.

Jahr für Jahr kamen mehr Leseratten ins entlegene Hay, und Jahr für Jahr kamen sie von weiter her. Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis hier ein Literaturfestival entstehen musste. Und eine Frage des Glücks: 1988 gewann der Schauspieler und Kulturmanager Norman Florence sehr viel Geld beim Pokern - und beschloss, gemeinsam mit seinem Sohn Peter von diesem Geld ein jährliches Fest des Buches in dem walisischen Bücherdorf einzuführen. Das Hay Festival war geboren.

Wenn am 2. Juni 2013, das 35. Hay Festival seinem Ende entgegengeht, werden wieder zigtausende Touristen die Heimreise antreten, mit hunderttausenden Büchern aus den Läden der Stadt im Gepäck. Seit seiner Einführung ist das Fest kontinuierlich gewachsen. Prominente wie Julien Assange oder Bob Geldof geben sich hier die Klinke in die Hand, Ex-US-Präsident Bill Clinton lobte das Fest 2001 als "Woodstock des Geistes" und Star-Autoren wie Salman Rushdie, Henning Mankell oder Arthur Miller haben hier vorgetragen - auch wenn letzterer auf seine Einladung in das walisische Nest zunächst noch geantwortet haben soll: "What's Hay-on-Wye? Some kind of sandwich?"

Weltweites Bücherdorf-Imperium

Ausgerechnet König Richard will mit dem Festival jedoch nichts am Hut haben. Für ihn ist der Handel mit gebrauchten Büchern mehr als ein Geschäftsmodell - es ist ein Mittel zur Demokratisierung von Bildung. Denn "jeder kann sich gebrauchte Bücher leisten", so Booth, "und jeder kann ein Buchhändler werden". Zutiefst suspekt sind ihm jedoch die Massenmedien, allen voran das Fernsehen. Und so schmeckte es ihm gar nicht, dass der Fernsehsender Sky Arts zum Hauptsponsor des Festivals wurde - der zum Imperium des Medienmoguls Rupert Murdoch gehört.

Booth konzentriert sich lieber auf andere Projekte, die er trotz seiner 75 Jahre mit unermüdlichem Eifer betreibt. Er versucht, Bücherfreunden in aller Welt zu zeigen, wie sie es Hay gleichtun können. "Ein Bücherdorf zu gründen", erläutert Booth, "ist billig. Das offizielle Bücherdorf Schwedens, Mellösa, ist das perfekte Beispiel dafür. Die Gemeinde war sehr arm. Alles, was sie auf die Beine stellen, war ein Café, ein Bed & Breakfast und ein Geschäft für Kinderbücher - und es funktionierte!" Mittlerweile hat Booths Idee international Schule gemacht: Vom französischen Montolieu über das australische Clunes bis zu Kampung Buku in Malaysia umspannt heute ein Netz von Bücherdörfern den Globus, die internationale Touristen anlocken.

Sein nächstes Projekt beginnt im Oktober in Japan: "Ich werde in Tokio einen Vortrag über die Geschichte von Hay-on-Wye halten. Denn die Japaner wollen ein eigenes Bücherdorf schaffen - mit 150.000 Einwohnern."

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