
Champions-League-Finale 1960: Fußball wie von einem anderen Stern
Champions-League-Finale 1960 Fußball wie von einem anderen Stern
Tommy Malcolm erinnert sich an die Fußball-Sternstunde, als wäre sie erst gestern gewesen. 18. Mai 1960, Hampden-Park-Stadion in Glasgow. Finale im Europapokal der Landesmeister. Real Madrid schlägt Eintracht Frankfurt mit 7:3.
Es ist nicht irgendeine Begegnung in der Geschichte des Fußballs. In verschiedenen Umfragen der englischen Fachblätter "World Soccer" und "FourFourTwo" und des Weltverbands Fifa nach dem besten Spiel aller Zeiten wählten Expertenjurys diese Partie beharrlich auf Platz eins. Die BBC zeigte mehrfach ihre TV-Aufzeichnung.
Auch Tommy Malcolm haben sich die zehn Tore ins Gedächtnis eingebrannt. Malcolm ist Tour-Guide im Hampden-Park, er führt Besucher durch das schottische Nationalstadion und erzählt dabei von früher: Damals, an jenem legendären Mai-Mittwoch 1960, war er 16 Jahre alt und einer der offiziell 127.621 Glücklichen, die dem Spektakel beiwohnen durften. Inoffiziell sollen es sogar noch ein paar tausend Zuschauer mehr gewesen sein. Verschiedene Quellen sprechen von 134.000 Augenzeugen - niemals zuvor und auch nie mehr danach fand ein europäisches Endspiel vor einer größeren Kulisse statt. Die Fans zahlten die höchsten Preise, die in Glasgow bis dahin für Fußball verlangt wurden: 50 Schilling für die besten Plätze, 5 Schilling fürs Stehen hinter dem Tor. Doch das Fassungsvermögen des damals größten Stadions Europas reichte nicht aus. Allein 40.000 Glaswegians standen am Vorverkaufstag Schlange, um ein Ticket zu ergattern. Viele von ihnen vergeblich. Also versammelten sie sich vor dem Stadion, um das Spiel wenigstens zu hören. Und die später aufbrandende, fast nie abebbende Geräuschkulisse, der unvergleichliche "Hampden-Roar", ließ sie erahnen, was sie an diesem Tag verpassten.
Filmriss beim Jahrhundertspiel
So detailreich Tommy Malcolm auch einzelne Spielzüge und Torszenen schildern kann - wie er und seine Freunde damals nach dem Abpfiff nach Hause gekommen sind, kann er nicht mehr sagen. Filmriss. Seine Erinnerung ist komplett überlagert von den Eindrücken dieser "überwältigenden Darbietung". Das ging Vielen so. Noch eine halbe Stunde nach dem Abpfiff hatte kaum ein Zuschauer Hampden verlassen.
Malcolm erinnert sich ganz besonders an einen Landsmann, dem Tränen über sein Gesicht liefen, und der ganz offenkundig einen Weg suchte, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Aber wie bloß? Sein einziges Wissen über Spanien basierte auf einem Hollywood-Film über den mexikanischen Revolutionär Emiliano Zapata. Und so reckte er seinen Arm in die Luft und rief zur Ehre des Siegers ununterbrochen: "Viva Zapata ... Viva Zapata!" Und auch wenn dieser nun wirklich nichts mit Real Madrid zu tun hat, verstanden alle anderen, was gemeint war.
Das Finale von 1960 wurde für die Schotten auch deshalb zur Legende, weil der Gegner mitspielte. Eintracht Frankfurt hatte sich über die Stationen Young Boys Bern (4:1, 1:1) und Wiener SK (2:1, 1:1) ins Halbfinale gespielt, wo sie geradezu sensationell den haushohen Favoriten Glasgow Rangers deklassierten. Im Hinspiel verwandelte die Elf mit dem "hessischen Fritz Walter" Alfred Pfaff am Regiepult das heimische Waldstadion in ein Tollhaus. Ein schottischer Reporter versuchte seinen ungläubigen Kollegen in Glasgow den Spielbericht durchzutelefonieren: "Five-one. Yes - no, not for Rangers: Eintracht 5, Rangers 1 - o, no! Eintracht 6, Rangers 1!"
Hessische Amateure gegen spanische Über-Kicker
Im Rückspiel konnten sich die schottischen Zuschauer dann selbst ein Bild vom Frankfurter Angriffswirbel machen. Vor 77.000 Zuschauern kassierten ihre Rangers im Ibrox-Park beim 3:6 erneut ein halbes Dutzend Gegentore und zeigten sich als faire Verlierer, die nach Schlusspfiff ein Spalier für den Gegner bildeten. Wie sehr sich die Frankfurter in die Herzen der schottischen Fans gespielt hatten, zeigte sich nur zwei Wochen später, als die Eintracht zum Finale nach Glasgow zurückkehrte. Bus- und Taxifahrer weigerten aus Anerkennung für die große Leistung, von den deutschen Anhängern Fahrgeld zu kassieren. Das Gros der Zuschauer im prall gefüllten Hampden-Park hielt zu den Deutschen und hoffte auf eine weitere Sensation.
Die Finalgegner trennten Welten. Auf der einen Seite der Deutsche Meister bei seiner Europacup-Premiere. Die Eintracht-Elf rekrutierte sich dabei aus Fußballern aus Frankfurt und Umgebung, lediglich der aus Franken stammende Torwart Egon Loy und der in Fulda aufgewachsene Richard Kress bildeten Ausnahmen. Die Spieler gingen fast alle einem alltäglichen Beruf nach, kamen erst abends zum Training zusammen. An Spieltagen mussten sie morgens oft noch arbeiteten, für Auswärtsspiele nicht selten unbezahlten Urlaub nehmen.
Auf der anderen Seite die Weltauswahl von Real Präsident Santiago Bernabéu - die "Unschlagbaren" aus Madrid, die seit der Einführung des Europapokals den Wettbewerb viermal in Folge gewonnen hatten. 1956 gegen Stade Reims, 1957 gegen den AC Florenz, 1958 gegen den AC Mailand und 1959 erneut gegen Reims. Bernabéus Konzept eines über Zuschauereinnahmen finanzierten Star-Ensembles war voll aufgegangen. Nie wieder würde ein Team Europas Fußball derart dominieren wie die ganz in Weiß gewandte Elf um internationale Größen wie den argentinischen Regisseur und Sturmführer Alfredo di Stéfano und seinen kongenialen ungarischen Partner Ferenc Puskás, Flügelstürmer Francisco Gento oder den damals wohl weltbesten Mittelläufer José Emilio Santamaria aus Uruguay.
Zehn Superfüße, hundert Hyperzehen
Doch von dem so gerne zitierten Klassenunterschied war im Spiel zunächst nicht viel zu sehen. Schon in der ersten Minute traf Ernst Meier die Latte des Real-Tors, in der 18. Minute erzielte Richard Kress dann die Frankfurter Führung. Ob die Eintracht bei einem 2:0 als Sieger den Platz verlassen hätte? "Nie und nimmer", verriet Abwehrspieler Friedel Lutz jüngst dem Sportmagazin "Kicker". "Wir hätten sogar 3:0 führen können, und doch hätten wir verloren." Ein Doppelschlag di Stéfanos (26., und 29.) dreht das Spiel, Puskás erhöht mit dem Halbzeitpfiff auf 3:1. "Als Wettkampf war das Finale schon zur Pause vorbei", schrieben die Engländer John Motson und John Rowlinson in ihrer "History of the European Cup", "aber als Darbietung der höchsten Kunstfertigkeit, die der Fußball anzubieten hat, ist es zu einem Sammlerstück geworden."
In Halbzeit zwei beginnt Real zu zaubern. Hacke, Spitze, Tor. Das Spiel hat vor allem keine Längen. Es gibt kaum Fouls, Einwürfe, Ecken und Freistöße werden innerhalb von Sekunden nach dem Pfiff ausgeführt. Erst in der 70. Minute pfeift Referee Jack Mowatt aus Glasgow das erste Mal Abseits. Der überragende Puskás mit einem lupenreinen Hattrick binnen 15 Minuten und noch einmal di Stéfano schrauben das Ergebnis für Real in die Höhe. Friedel Lutz erklärt rückblickend: "Die zwei waren nicht zu halten, die holten sich den Ball schon am eigenen Strafraum, und plötzlich waren sie in unserem Rücken und schossen ein. Das war eine andere Welt. Wir alle waren Mann gegen Mann chancenlos." Trotzdem steckte die Eintracht nie auf und kam durch Erwin Stein noch zu zwei Treffern. Endstand: 7:3. Dieses Mal bildeten die unterlegenen Frankfurter nach dem Abpfiff das Ehrenspalier.
Reals Triumph markiert den Höhepunkt einer Ära. Bei der fünften Auflage des Europapokals der Landesmeister holte sich Real Madrid zum fünften Mal die Trophäe. Der SPIEGEL umschrieb das Gesehene als "zweite Weltherrschaft der Spanier nach Pizarro", und noch im September 1973 schwelgte das "Zeit"-Magazin in seliger Erinnerung: "Canario - Del Sol - Di Stefano - Puskas - Gento. Nie wieder wird es einen solchen Sturm geben. Zehn Superfüße, 100 Hyperzehen. Um das in einer anderen Dimension zu verdeutlichen, muss man sich vorstellen Bach, Mozart, Beethoven, Haydn und Händel hätten alle zusammen für den Fürstbischof von Salzburg komponiert. Zur gleichen Zeit, das gleiche Concerto, am gleichen Klavier. Mit Brahms auf der Reservebank."
Doch auch für die Frankfurter ist das Duell vom Hampden-Park bis heute der unvergessliche Höhepunkt ihrer Karriere. Über 100.000 Menschen jubelten ihnen bei der Rückkehr nach Deutschland auf der Fahrt vom Frankfurter Flughafen in die Innenstadt zu. Acht Spieler, die 1960 in Glasgow im Kader standen, leben heute noch. Sie wurden vom europäischen Verband Uefa zum aktuellen Endspiel zwischen dem FC Bayern und Inter Mailand eingeladen. Adolf Bechtold, Dieter Lindner, Egon Loy, Friedel Lutz, Wolfgang Solz, Erwin Stein, Dieter Stinka und Hans Weilbächer freuen sich auf das Estadio Santiago Bernabéu - und auf ein Wiedersehen mit ihren alten Kontrahenten aus dem Jahrhundertspiel.