Chemiekatastrophe von Bhopal Stadt unterm Leichentuch
Apokalypse ohne Ende: In der Nacht zum 3. Dezember 1984 entwich im indischen Bhopal hochgiftiges Gas aus einer US-Chemiefabrik. Bei einem der schlimmsten Industrieunfälle der Geschichte starben Tausende Menschen - doch für Zigtausende ist der Alptraum auch Jahrzehnte nach der Katastrophe noch nicht vorbei.
Hajra Bee fühlt sich schwach, sie kann nicht mehr richtig sehen. Wenn sie zu lange redet, geht ihr die Luft aus, sie atmet dann schwer. Aber sie will nicht schweigen. Hajra Bee hat sich entschieden zu reden, zu erzählen von ihrem Leben und Leiden, auch so viele Jahre nach der Tragödie. Sie will sich nicht zurücklehnen und warten. Nicht auf Hilfe und nicht auf den Tod, der die Menschen hier im zentralindischen Bhopal seit dieser furchtbaren Nacht vor einem Vierteljahrhundert viel schneller ereilt als zuvor.
Hajra Bee, Muslimin, war 28 Jahre alt, Mutter von vier Kindern, als das Unglück über sie, über die ganze Stadt hereinbrach. "Wir schliefen, als mein Mann mich plötzlich weckte und sagte: 'Sag mal, hat hier jemand Chilipulver verstreut?' Seine Augen brannten, auch die Kinder wachten auf und weinten. Da merkte ich, dass auch meine Augen brannten und dass irgendetwas nicht stimmt. Ich kriegte kaum noch Luft und auch die Kinder husteten ganz furchtbar."
Hajra Bee schaute aus ihrer Lehmhütte im Armenviertel direkt neben der Chemiefabrik der US-Firma Union Carbide. Menschen rannten an ihr vorbei und schrien "Weg, bloß weg!" Andere liefen in die entgegengesetzte Richtung, hin zur Industrieanlage, weil sie glaubten, dort bekämen sie Medizin für das plötzliche unheimliche Leiden. "Ein paar Leute riefen, dass es ein Gasleck bei Union Carbide gebe", erinnert sich Hajra Bee. "Ich wusste nicht einmal, was Union Carbide ist."
Irgendwann begannen die Sirenen der Firma zu heulen. Aber was bedeutete das? Niemand hatte den Menschen je erklärt, wozu die Sirene gut ist. Und so ahnte auch Hajra Bee nicht, dass sie und ihre Familie wie Tausende andere Menschen gerade Opfer eines der größten Industrieunfälle der Geschichte geworden waren.
Apokalyptische Zustände
Union Carbide produzierte Pflanzenschutzmittel. Am Abend des 2. Dezember 1984, um 23.10 Uhr, hatte ein Kontrolleur an einem Gastank einen erhöhten Druck bemerkt. Doch die Gefahr erkannte er nicht - es gab keinen Alarm. Etwa zwei Stunden später breitete sich über dem Firmengelände ein beißender Geruch aus. Eine hochgiftige Wolke von Methylisocyanat (MIC), einem Zwischenprodukt bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln, legte sich über Bhopal - "gleich einem Leichentuch über 65 eng besiedelte Quadratkilometer", wie der SPIEGEL eine Woche nach der Katastrophe schrieb. "Als sie schließlich verflogen war, verbreitete sich der süßliche Geruch der Verwesung." Es waren apokalyptische Zustände.
Hajra Bees Mann packte in aller Eile eines der vier Kinder und floh mit dem Fahrrad. Sie selbst wickelte die anderen Kinder in ein Bettlaken und rannte ebenfalls aus der Hütte. "Nach einigen hundert Metern erst merkte ich, dass ich in meiner Panik ein Kind im Bett vergessen hatte. Also lief ich zurück."
Der jungen Frau bot sich ein schrecklicher Anblick. Auf der Straße lagen nun tote Menschen, Kühe, Hunde, Katzen, auch Vögel. "Ein paar Polizisten entdeckten mich und führten mich zu einer Stelle, wo ich Medizin für mich und meine Kinder bekam", erzählt Hajra Bee.
"Das Gift ist noch da"
Das Gift wirkte bei vielen mit Verzögerung. Nach Erkenntnissen des Indian Council of Medical Research starben in den ersten drei Tagen nach dem Unfall 8000 bis 10.000 Menschen. In den ersten zehn Jahren seien mehr als 25.000 Menschen in Folge des Unglücks ums Leben gekommen, inzwischen mehr als 30.000. "Mindestens 100.000 Menschen leiden gesundheitlich bis heute", sagt Rachna Dhingra, Aktivistin der Organisation Internationale Kampagne für Gerechtigkeit in Bhopal (ICJB). "Sie haben Atemnot, bekommen Geschwüre aller Art, erblinden. Viele haben Krebs. Und ich weiß nicht, wie viele Kinder mit Missbildungen und schweren Krankheiten geboren werden. Viele Frauen können keine Kinder mehr bekommen."
Für die Menschen in Bhopal ist die Katastrophe längst noch nicht Geschichte. "Das Gift ist nach wie vor da, und die Verantwortlichen weigern sich noch immer, die betroffene Region mit sauberem Trinkwasser zu versorgen", kritisiert Rachna Dhingra. "Von finanziellen Entschädigungen wollen wir gar nicht reden. Es ist unglaublich, aber ein Vierteljahrhundert danach warten immer noch die meisten Opfer auf Geld."
Außerdem, sagt Dhingra, habe Union Carbide beziehungsweise der US-Chemieriese Dow Chemical Company, der das Unternehmen 2001 kaufte, bis heute nicht offengelegt, wie es exakt zu der Katastrophe gekommen war und welchen Giften genau die Menschen damals ausgesetzt waren. War ein Ventil defekt? Oder gab es einen Riss im Tank? Trat tatsächlich nur MIC aus? "Es waren sicher noch andere Stoffe dabei", ist Dhingra überzeugt.
Sicherheitsstandards ignoriert
Union Carbide gehörten damals 51 Prozent an der erst fünf Jahre alten Fabrikanlage in Bhopal, die kurz nach der Katastrophe stillgelegt wurde. Der Grundstein dafür hätte eigentlich nie gelegt werden dürfen - so nah an einem dichtbesiedelten Viertel. Doch Sicherheitsauflagen waren missachtet worden, korrupte Politiker hatten den Bau genehmigt. Sie sahen, wie das Management von Union Carbide, in dem Wohngebiet der Armen einen Pool von billigen Arbeitskräften.
Kaum war die Fabrik in Betrieb, schraubte das indische Management des Unternehmens die Sicherheitsstandards herunter, die Sicherheitsausbildung der Arbeiter wurde von sechs Monaten auf zwei Wochen reduziert. Aus Spargründen wurde das Kühlsystem ausgeschaltet, obwohl MIC sehr schnell verdampft und daher gekühlt werden muss. Sprinkleranlagen wurden falsch angebracht - sie hätten das Ausmaß der Katastrophe reduzieren können, weil MIC in Verbindung mit Wasser längst nicht so gefährlich ist.
Doch weder Politiker noch Manager scherten sich um Sicherheit, sie pflegten gute Kontakte miteinander: Die politische Elite des Bundesstaates Madhya Pradesh, dessen Hauptstadt Bhopal ist, durfte das luxuriöse Gästehaus des Konzerns nutzen. Dabei war schon 1981 ein Arbeiter gestorben, nachdem aus einem Leck das Giftgas Phosgen ausgetreten war. Auch in den Folgejahren kam es zu schweren Unfällen, aber Management und Politik wollten nur Erfolge sehen - und von Gefahren nichts wissen.
Warten auf Enschädigung
Amerikanische Staranwälte boten den Opfern nach der Katastrophe ihre Hilfe an - kostenlos, aber mit Hoffnung auf eine Beteiligung an möglicherweise milliardenschweren Entschädigungen. Doch die indische Regierung kam dem zuvor: In einem außergerichtlichen Vergleich einigte sie sich mit dem Management von Union Carbide auf eine Zahlung von 470 Millionen Dollar. Indiens Politiker wollten den Ruf des Wirtschafts- und Industriestandortes Indien nicht gefährden und der Firma deshalb Forderungen der Opfer in Milliardenhöhe ersparen. Die Entschädigung der Opfer lag damit in der Hand der Regierung.
Und die kam dieser Aufgabe nach Angaben der Opfer nur unzureichend nach: "Ich habe einmalig 10.000 Rupien erhalten und bekomme monatlich 400 Rupien, das ist alles", sagt Hajra Bee. 400 Rupien - das entspricht rund fünf Euro. Viele andere Opfer gingen gänzlich leer aus. Noch immer stapeln sich die Akten zu dem Fall, manche seien im Laufe der Jahrzehnte unleserlich geworden. Dabei seien die meisten Opfer arm und dringend auf finanzielle Hilfe angewiesen. "Ich bin zum Beispiel fast blind, obwohl ich erst 53 Jahre alt bin. Mein Mann hat mich verlassen, so dass ich durch Näharbeiten allein für die vier Kinder sorgen musste. Einer meiner Söhne hat inzwischen selbst eine Tochter, sie ist zwei Jahre alt, kann aber nicht gehen." Auch das, ist Hajra Bee überzeugt, sei eine Folge der Katastrophe.
Wegen der noch offenen Entschädigungen liegt es im Interesse der Regierung, die Zahl der Opfer möglichst niedrig zu halten. "Es gibt viele Betrüger unter den Antragstellern auf Hilfe", sagt ein Beamter aus der Landesregierung von Madhya Pradesh. "Wir müssen deshalb jeden Fall genau überprüfen." Aber, räumt er ein, er könne den Frust der Betroffenen verstehen.
"Dow ist nicht verantwortlich"
Der Konzern Dow Chemical Company übernahm die US-Firma Union Carbide Corporation, als diese ihren Anteil an Union Carbide India schon verkauft hatte. Das einflussreiche Unternehmen heißt jetzt Eveready Industries India. Dow Chemical äußert heute Bedauern über die Katastrophe vor 25 Jahren, weist aber jede Verantwortung von sich. "Dow ist für die Ereignisse von Bhopal nicht verantwortlich; dennoch ist uns diese Katastrophe in bleibender Erinnerung und wir haben dazu beigetragen, die Leistungen unserer Branche weltweit zu verbessern", teilt das Unternehmen mit.
Bei Eveready Industries sieht man den Fall Bhopal dagegen abgeschlossen. Die Verantwortung für Entschädigungen liege bei der Politik, und die Unfallursache sei sehr wohl aufgeklärt: Die Beratungsfirma Arthur D. Little habe kurz nach dem Unglück intensive Untersuchungen durchgeführt und sei zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Gasleck nur durch Sabotage entstanden sein könne. "Jemand hat absichtlich Wasser in den Tank gefüllt, was zu einer heftigen chemischen Reaktion führte", teilt Eveready mit.
Die Regierung von Madhya Pradesh wollte die Anlage von Bhopal, die bisher nur Umweltschützer, Fachleute und Ermittler betreten durften, Anfang November für die Öffentlichkeit zugänglich machen - als Beweis, dass jetzt alles bestens sei. 25 Jahre nach dem Unfall, sagte der zuständige Minister Babulal Gaur, glauben immer noch viele Menschen fälschlicherweise, auf dem Gelände lagerten giftige Abfälle. Die Gesundheit der Anwohner sei aber keineswegs gefährdet und auch das Grundwasser sei nicht belastet. Nach Berechnungen des Centre for Science and Environment, einer Umweltschutzorganisation mit Sitz in Neu-Delhi, ist dagegen das Grundwasser selbst drei Kilometer vom Unglücksort entfernt immer noch 40-mal stärker mit Giftstoffen belastet als durchschnittlich in Indien. Vergangene Woche zog die Regierung die Öffnungspläne nach Protesten wieder zurück.
"Was auch immer die Ursache war, die Folgen waren und bleiben verheerend", sagt Hajra Bee. "Wahrscheinlich sind wir tot, bis sich endlich jemand einmal entschieden hat, uns Geld zu zahlen. Uns Opfer hat man einfach vergessen, wir sind ja nur arme Leute", sagt sie. Dann packt sie ihre Sachen und macht sich auf den Weg zu einer Kundgebung. Sie will zum Jahrestag der Katastrophe, die ihr Leben veränderte, so vielen Menschen wie möglich von ihrem Schicksal erzählen.