
Chemiker Fritz Haber: Forscher an vorderster Front
Chemiker Fritz Haber Forscher an vorderster Front
Als die deutschen Truppen am frühen Abend des 22. April 1915 nahe der belgischen Kleinstadt Ypern mehr als 160 Tonnen Chlorgas freisetzten, stand der Wind aus Sicht der Heeresleitung günstig: Die mehrere Kilometer lange Giftgaswolke trieb direkt auf die französischen Truppen zu, bis hinein in die feindlichen Schützengräben. Mindestens 1200 alliierte Soldaten erstickten, 3000 weiteren Männern verätzte das Gas die Atemwege und Augen.
Es war der weltweit erste erfolgreiche Einsatz von Chemiewaffen und das Resultat einer neuen engen Kooperation von Wissenschaft, Militär und Industrie, in dessen Zentrum der deutsche Wissenschaftler Fritz Haber stand. Der Chemieprofessor hatte das Chlorgas waffentauglich gemacht und dessen Einsatz bei Ypern persönlich und an vorderster Front überwacht, wofür er - unter "Tränen des Glücks" - zum Hauptmann befördert wurde.
Eine Woche nach dem Giftgasangriff von Ypern nahm sich seine Frau mit seiner Dienstwaffe das Leben. Clara Haber, selbst promovierte Chemikerin, hatte an der Ehe gelitten und daran, ihren Beruf nicht mehr auszuüben. Vor allem aber war sie eine vehemente Pazifistin. Und auch wenn sich die Zusammenhänge nicht zweifelsfrei klären ließen, könnte der Ypern-Einsatz ihres Mannes letzter Auslöser der Verzweiflungstat gewesen sein.
Mit Giftgas Leben retten
Der 1868 in Breslau geborene "Vater der Giftgaswaffen" war ein glühender Patriot. Getreu seiner Devise "Der Wissenschaftler dient im Frieden der Menschheit, im Kriege dem Vaterland" reiste er schon einen Tag nach Claras Suizid nach Galizien - zum nächsten Gaseinsatz. Bis zum Kriegsende trieb Haber in einem letztlich erfolglosen Wettrüsten mit den Alliierten das deutsche Gaswaffenprogramm voran. Skrupel kannte er nicht. Tot sei schließlich tot, meinte er, egal ob ein Soldat nun am Gas erstickte oder langsam an einer schweren Verletzung verblutete. Mehrfach hatte er gar die Hoffnung geäußert, mit Hilfe von Gaswaffen den Krieg verkürzen und so Tausende von Menschenleben retten zu können.
Der Geist seiner Zeit hatte Habers Forscherleben bestimmt: Die schon 1914 schwächelnde Munitions- und Sprengstoffindustrie Deutschlands war auf einen lange dauernden Krieg nicht vorbereitet. Habers größte wissenschaftliche Errungenschaft rettete sie vor dem Zusammenbruch.
Dabei war die Synthese von Ammoniak aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff ursprünglich für eine friedliche Nutzung gedacht: Angesichts einer weltweit drohenden Hungersnot sollte sie in nahezu unbegrenztem Umfang Kunstdünger liefern, um ausgelaugte Böden fruchtbar zu machen und die Getreideproduktion massiv zu steigern. "Brot aus Luft", so war Habers Geniestreich griffig umschrieben worden, der half, die drohende Krise abzuwenden und bis heute die Versorgung von Milliarden Menschen sichert.
Den Stickstoff, den Pflanzen fürs Wachstum benötigten, aber nicht in ausreichenden Mengen in den Ackerböden fanden, lieferte zunächst ein Naturdünger, vor allem der Guano südamerikanischer Vögel. Doch die natürliche Ressource ist begrenzt. Haber gelang es, eine praktisch unerschöpfliche Stickstoffquelle anzuzapfen: Die Atmosphäre, die zu gut drei Vierteln aus elementarem Stickstoff besteht, der aber zu reaktionsträge ist, um von den Pflanzen direkt genutzt zu werden.
Haber konnte den Stickstoff erstmals bei hohen Temperaturen und unter immens hohem Druck mit Wasserstoff in die stabile Verbindung Ammoniak zwingen. Noch aber gab es keine Technik, die diesen Belastungen in großem Maßstab gewachsen war. Zusammen mit Haber führten Carl Bosch und Alwin Mittasch das Verfahren zur Industriereife, wofür unter anderem neue Stahlarten und eigene Konstruktionen entwickelt werden mussten.
1913 lief das Haber-Bosch-Verfahren in einem Werk der BASF bei Ludwigshafen-Oppau erstmals in industriellem Maßstab an. Vielen gilt Habers Methode als wichtigster industrieller Prozess des vergangenen Jahrhunderts. Noch heute werden jedes Jahr mehr als 100 Millionen Tonnen Stickstoff der Luft entnommen und in Ammoniak umgewandelt. Nach Schätzungen hat jedes zweite Stickstoff-Atom in unseren Körpern das Haber-Bosch-Verfahren durchlaufen. Ohne diesen Prozess müssten zwei Milliarden Menschen, wenn nicht die Hälfte der Menschheit verhungern.
Grundstein für Massenmord
Die dunkle Seite des Verfahrens zeigte sich schon kurz nach seiner Einführung: Ammoniak liefert neben Kunstdünger auch Sprengstoff, der bis vor einem Jahrhundert auf der Basis von Chile-Salpeter produziert wurde. Erst der Habersche Prozess machte das Deutsche Reich unabhängig von ausländischen Lieferungen und hielt die Kriegsmaschinerie mindestens ein zusätzliches Jahr am Laufen.
Nach dem Krieg befand sich Haber, der ab 1911 das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie leitete, in einer paradoxen Situation: Von den Alliierten wurde er als Kriegsverbrecher gesucht und floh für kurze Zeit in die Schweiz - während er wegen der Ammoniaksynthese als Anwärter für den Nobelpreis galt. Als ihm 1919 die Auszeichnung rückwirkend für das Jahr 1918 tatsächlich zugesprochen wurde, kam es international wegen der Giftgaseinsätze zu Protesten. Einige geladene Gäste blieben der Zeremonie fern.
Sein Patenonkel Fritz Haber, so erklärte der Historiker Fritz Stern später in einem Interview, sei nach dem Krieg in seinem Urteil über das Kaiserreich sehr viel kritischer geworden und habe "eine Art Bekehrung" erfahren. Treu war Haber seinem Vaterland aber trotz aller Zweifel geblieben: Von einem "schwimmenden Labor" aus wollte er Gold aus Meerwasser filtern, um die hohen deutschen Reparationen zu begleichen, ein letztlich unrentables Unterfangen.
Umso tragischer seine persönliche Biografie: Geboren in eine jüdischen Familie, war Haber als 24-Jähriger zum Protestantismus konvertiert. Als schließlich die Nazis an die Macht kamen und an den Kaiser-Wilhelm-Instituten den Arierparagrafen durchsetzten, emigrierte er nach Cambridge in England. Auch wenn er nicht direkt davon betroffen war und sich in den Ruhestand hatte versetzen lassen: Die Entlassung seiner jüdischer Mitarbeiter konnte er nicht verhindern. "Ich habe zu lange gelebt", soll er gesagt haben, bevor er am 29. Januar 1934 auf der Durchreise in Basel als verbitterter Mann starb.
Als Chemiker hatte Haber mit seiner Arbeit an Schädlingsbekämpfungsmitteln auf der Basis von Blausäure den Grundstein für die Entwicklung von Zyklon B gelegt. Er selbst sollte indes nicht mehr erfahren, dass dieses Gas im "Dritten Reich" zur Vernichtung von mehr als einer Million Menschen eingesetzt wurde - darunter auch Angehörige seiner Familie.