Historiker über Wunderkind Christian Heineken
»Das Opfer eines pädagogischen Traums – oder Albtraums«
Wieso befasst sich ausgerechnet ein Italiener mit dem Lübecker Wunderkind Christian Henrich Heineken? Hier erzählt Historiker Guido Guerzoni, welches persönliche Drama am Anfang seiner Forschung stand.
Den Tod im Nacken: Kupferstich des kleinen Heineken, angefertigt 1726 von Christian Fritzsch nach einem Gemälde der Wunderkind-Mutter Catharina Elisabeth Heineken
Foto: ÖNB
SPIEGEL: 2006 erschien in Italien Ihr Buch »Il bambino prodigio di Lubecca«. Wie waren die Reaktionen?
Guerzoni: Die Kritiker haben es wohlwollend rezensiert, Freunde waren begeistert, verkauft hat es sich eher mäßig (lacht). Aber das war mir völlig egal. Das Buch habe ich für mich geschrieben.
SPIEGEL: Wie kam es dazu?
Guerzoni: Das hat sehr persönliche Gründe. Im März 2001 arbeitete ich in der Bibliothek Braidense in Mailand und forschte über die Rolle der Zwerge in den europäischen Königshäusern. In einem Literaturverzeichnis stieß ich auf einen bizarren Kupferstich, der Christian Henrich Heineken darstellte: ein Säugling mit einem Skelett im Rücken, das ihm die Hand auf die Schulter legt. »Wer könnte dieses Kind sein?«, fragte ich mich beunruhigt, bevor ich hinausging. Sobald ich zum Auto kam, rief mich meine Frau an, die damals schwanger war. Sie sagte mir unter Tränen, dass das Baby, das wir erwarteten, die Geburt nicht überleben würde, da es schwere Missbildungen hatte. Ein Schock – den ich sofort mit der verstörenden Illustration von Heineken verband. Genau in diesem Moment schwor ich mir, die Geschichte dieses Kindes zu schreiben. Fünf Jahre lang arbeitete ich daran und widmete das Buch Isabella, dem Baby, das wir verloren hatten. Glücklicherweise wurde noch während der Recherche unsere Tochter Emma geboren.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die Fähigkeiten des kleinen Christian? Ist den Quellen wirklich zu trauen?
Guerzoni: Es mag sein, dass hier und da einige Dinge übertrieben wurden. Aber im Prinzip muss es eine außergewöhnliche Begabung gewesen sein, anders kann man ein so erstaunliches Wissen nicht erklären. Zahlreiche zeitgenössische Quellen zeugen davon, nicht nur deutsche.
SPIEGEL: Zudem wurde das Kind von seinem Mentor Christian von Schöneich enorm getriezt.
Guerzoni: Auf jeden Fall. Was für eine dramatische, tief bewegende Geschichte: Christian war das Opfer eines pädagogischen Traums – oder Albtraums. Und beileibe nicht das einzige Erziehungs-Experiment, in meinem Buch gehe ich auch auf andere ein. Allein im Jahr 1721 kamen zwei weitere Kinder zur Welt, die später als »Wunderkinder« gepriesen wurden: Jean-Philippe Baratier aus Schwabach und Claudio del Valle y Fernandez aus Madrid. Doch das Leben dieser Ausnahmekinder währte nicht lange – eine so forcierte Früherziehung fordert ihren Tribut.
SPIEGEL: Sie plädieren also dafür, herausragend talentierten Kindern anstelle einer intensiven Förderung ein unbeschwertes Heranwachsen zu gönnen?
Guerzoni: Meiner Meinung nach ergibt es keinen Sinn, dass ein Dreijähriger bereits Klavier spielen und fünf Sprachen sprechen muss. Ich möchte mein Buch über Christians tragisches Leben auch als Warnung verstanden wissen. Als Aufforderung an alle Eltern, den Kindern eine Kindheit zu ermöglichen. Und nicht besessen zu sein vom Wunsch, den Nachwuchs »zu seinem eigenen Besten« mit Wissen vollzustopfen – wie dies Christian vor dreihundert Jahren passiert ist.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Den Tod im Nacken: Kupferstich des kleinen Heineken, angefertigt 1726 von Christian Fritzsch nach einem Gemälde der Wunderkind-Mutter Catharina Elisabeth Heineken