Seyfrieds Kreuzberg: "Die Bullen räumen unser Haus"
Pionier der Kreuzberger Hausbesetzer
Wie Comiczeichner Seyfried eine Wohnung kaperte und eine Bewegung lostrat
Instandbesetzt! Karikaturist Gerhard Seyfried erbeutete 1979 mit einem Freund eine leerstehende Wohnung in Berlin. Das war das Auftaktsignal für die Anarcho-Szene, sich 165 Häuser anzueignen.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Berlin - Stadt der Revolte" von Michael Sontheimer und Peter Wensierski.
Gerhard Seyfried brachte mit seinen Anarcho-Comics von pfiffigen Freaks und tumben Bullizisten wie kein anderer das subversive Lebensgefühl der Siebzigerjahre in West-Berlin zum Ausdruck. Anfang 1979 wohnte er zusammen mit seinem Freund Christoph Ludszuweit in der Eisenbahnstraße, gleich an der Markthalle in Kreuzberg. Die kleine Wohnung war ein Loch, runtergekommen, nicht ordentlich beheizbar, und Berlin erlebte einen besonders kalten Winter.
Ein Freund der beiden wohnte nicht weit entfernt in einem stattlichen Haus in der Görlitzer Straße 74. Die Berliner Eisenbahngesellschaft hatte es 1874 als Direktoralgebäude gleich am Görlitzer Bahnhof errichten lassen. Im Krieg zerbombten die Briten das zentrale Hauptgebäude an der Ecke zur Skalitzer Straße, aber auch der unzerstörte Seitenflügel war ziemlich pompös. Unter der Wohnung von Seyfrieds Freund stand eine Wohnung leer. Schon seit mehr als einem halben Jahr.
Die Bewoge, eine der landeseigenen Berliner Wohnungsbaugesellschaften, der das Haus gehörte, wollte die Wohnung nicht vermieten. Die Manager wollten das Haus sanieren und im Rahmen eines Modernisierungsprogrammes üppige staatliche Subventionen einstreichen.
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Gerhard Seyfried
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Seyfrieds Kreuzberg: "Die Bullen räumen unser Haus"
Da die Mieter in diesem Fall zustimmen mussten, aber meist die Sanierung wegen der prompt folgenden Mietsteigerungen ablehnten, ließen Besitzer gern Wohnungen erst einmal leerstehen. In Kreuzberg waren es Anfang 1979 allein 263 Wohnungen der Bewoge.
Unter den Tapeten der "Völkische Beobachter"
Gegen diese Missstände hatte die Bürgerinitiative SO 36 schon länger mobilgemacht, Unterschriften gesammelt und gegen den Leerstand geklagt. Vergeblich. Am 5. Februar 1979 schritten Aktivisten zur Tat und tauschten zusammen mit Seyfried und Ludszuweit das Schloss in der Wohnung im Hochparterre links in der Görlitzer 74 aus und begannen umgehend zu renovieren.
Seyfried, der Sponti-Zeichner mit dem schrägen Humor, erinnert sich: "Es sah so aus, als ob seit dem Krieg niemand mehr drin gewohnt hätte. Wir haben Reichspfennigstücke gefunden, als Untergrund für die Tapeten war der 'Völkische Beobachter' geklebt."
Typisch Seyfried: Wimmelbild aus "Invasion aus dem Alltag" von 1981
Foto: Gerhard Seyfried
Der "Abend" berichtete über die Aktion - mit spürbarer Sympathie - unter dem Titel "Erboste Mieter besetzen leerstehende Wohnungen". Ein paar Tage später luden die Besetzer und die Bürgerinitiative zu einer Pressekonferenz in die instandbesetzte Wohnung ein. Ein Team von Schwedens Fernsehen erschien und ein paar Berliner Journalisten.
"Während wir erzählten, warum wir gegen Leerstand protestieren und eine Wohnung brauchen, hörten wir es krachen", erinnert sich Seyfried. "Kurze Zeit später schlug jemand die Wohnungstüre mit einer Axt ein, herein stürmte ein von der Bewoge beauftragter Architekt mit einem Trupp Bauarbeiter. Als die in die Fernsehkamera guckten, ergriffen sie sofort wieder die Flucht."
Die Wohnungsbaugesellschaft bot den Instandbesetzern einen Mietvertrag an, machte jedoch zur Bedingung, dass die Bürgerinitiative SO 36 die Liste mit den in Kreuzberg leerstehenden Bewoge-Wohnungen nicht veröffentlichen würde. Seyfried und Ludzoweit unterschrieben den Mietvertrag, aber die Initiative veröffentlichte anschließend dennoch die Liste. "Die Bewoge", so Seyfried, "war nicht wirklich gut auf uns zu sprechen."
Ein Baugerüst versank im Kanal
Die Beziehungen verbesserten sich auch dadurch nicht, dass ein für die Sanierung des Hauses vorgesehenes Gerüst auf unbekannte Weise seinen Weg in den nahe gelegenen Landwehrkanal fand. Christoph Ludszuweit notierte in seinem Tagebuch:
"Komme von der Arbeit heim, vergehen nicht 5 Minuten - da kommen 6 Zivilbullen durch die Tür. Kaum angeklopft, brechen sie rein und halten mir einen Durchsuchungsbefehl unter die Nase: Verdacht auf Urkundenfälschung. Auf unserem Auto klebte eine nachgemachte TÜV-Plakette, auf der vermerkt war: Gesinnungsgeprüft bis 11/79. Ca. 35 Minuten lang wurden unsere Sachen durchschnüffelt. Beschlagnahmt wird 1 angebliche Patrone, 1 Katschi (Zwille) ..."
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Gemeinsam mit der Bürgerinitiative setzten Ludszuweit und Seyfried einiges in Bewegung, ihr Beispiel machte in den folgenden Monaten und Jahren Schule. Wohnungs-Leerstände, Häuserabrisse und Flächensanierung trieben die linke Szene auf die Barrikaden gegen den "Kahlschlag" in der Stadtplanung. "Kommt wir stellen Kreuzberg auf den Kopf!", heißt es auf einem Flugblatt, mit dem für einen "Sanierungsumzug" am 9. Juni 1979 aufgerufen wurde. Treffpunkt war der Oranienplatz, 11 Uhr.
Es ist der Sound der kommenden großen Hausbesetzerbewegung des Jahres 1981, der in dem Aufruf anklingt: "Wacht auf! Die Kugeln der Baumafia zerstören weiter unsere Stadt. In Kreuzberg wird von der Bewoge mit Rückendeckung vom Senat wieder eine gut erhaltene, schöne, sonnige Fabrik (Pragma-Gebäude Waldemarstraße) zerstört. Sie zerschlagen das Dach, reißen die Fenster raus und machen Installationen unbrauchbar. Das Gebäude war nicht zum Abriß freigegeben. Woran sollen wir noch glauben?"
Weiter heißt es in dem Aufruf: "Sie zerstören unseren Lebensraum Tag für Tag ein Stückchen mehr. Setzen an die gleichen Stellen Betonklötzer, damit sie nur die Mark treffen, denn nur sie haben die großen protzigen Maschinen, um solche zu bauen. Sie versprechen den Leuten Arbeit, gekachelte Duschen - und keiner merkt, wie die Stadt lautlos stirbt. Diese Macht des Geldes in der Sanierungspolitik ist genauso gefährlich wie der Bau von Atomreaktoren. Der Kahlschlag hat schon vor Jahren begonnen. Bald haben sie alles zerschlagen, was der letzte Krieg übrigließ - und wieder verdient. Sie stecken uns in Häuser, die schon aussehen wie Karteikästen, können uns so besser kontrollieren; kassieren auch noch höhere Mieten - haben wieder verdient. Vor welchem Recht können sie das verantworten? Wir staunen. Unser Buckel wird langsam krumm, doch wer sich aufrichten will, kommt und zieht mit uns durch SO 36."
"Tausende von Berliner Altbauten gerettet"
Die Forderungen lauten: "Schluß mit dem Kahlschlag. Keine neue Mieterhöhung. Anerkennung eines Betroffenenrats bei allen Abrißfragen. Wiederherstellung des Pragma-Gebäudes in den ursprünglichen Zustand."
Unterzeichnet ist das Flugblatt so: "BI SO 36, Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk, Schule für Erwachsenenbildung, Handwerksgruppen, Drucker, Bäcker, Händler, Wohngemeinschaften, alle, die Lust am Leben haben."
Gerd Seyfried wohnte bis 1983 in der instandbesetzten Wohnung in Kreuzberg, dann zog er nach Charlottenburg, um mehr Ruhe zum Zeichnen zu finden. Inzwischen ist er 70 Jahre alt und hat gerade seinen neuen Comic-Band "Zwille" veröffentlicht, mit Wimmelbildern voller skurriler Kleinigkeiten und anarchischem Witz wie vor 40 Jahren.
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Christoph Ludszuweit sagt heute: "Ich bin stolz drauf, dass wir die erste Instandbesetzung gemacht haben. Sie war ein Startsignal für die Besetzerbewegung, die Tausende von Berliner Altbauten gerettet hat. Ich bin sehr stolz drauf. Meine erwachsenen Töchter haben mal gesagt: 'Warum haben wir nicht damals gelebt? Ihr hattet viel bessere Möglichkeiten und Bedingungen'."
17 BilderSeyfrieds Kreuzberg: "Die Bullen räumen unser Haus"
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"Freakadellen und Bulletten" war der Titel eines Comics von 1979. Bei aller Härte der politischen Auseinandersetzungen in den Siebziger- und Achtzigerjahren legte Seyfried Wert darauf, dass der Humor nicht verloren geht, und zeichnete die Freaks mit freundlicher Selbstironie. Auch Polizisten amüsierten manche seiner Zeichnungen.
Foto:
Gerhard Seyfried
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Instandbesetzt wegen Leerstand: Am 5. Februar 1979 besetzten der aus München nach Berlin-Kreuzberg zugewanderte Comiczeichner Gerhard Seyfried zusammen mit seinem Freund Christoph Ludszuweit eine leerstehende Wohnung in der Görlitzer Straße 74, unterstützt von der Bürgerinitiative SO 36. Seyfried zeichnete gleich ein Plakat - zum Zwecke der Propaganda.
Foto: Gerhard Seyfried
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Sponti-Cartoonist: Gerhard Seyfried, ein in München geborener und aufgewachsener Achtundsechziger, hatte ab 1973 für das "Blatt", die erste alternative Stadtzeitung der Bundesrepublik, Comics gezeichnet. Da ihm der "Bullenterror" nach rund 20 Razzien in seiner Münchner Wohngemeinschaft zu viel wurde, zog er 1976 nach Berlin-Kreuzberg. Nach der "Instand(be)setzung" verschönerte er den Hauseingang in der Görlitzer Straße 74.
Foto: Gerhard Seyfried
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Kahlschlag: Die seit 1948 in West-Berlin regierende SPD setzte in der Stadtplanung auf Flächensanierung und begann in den Siebzigerjahren mit dem Abriss ganzer Altbaukarrees in der Innenstadt, um darauf hoch subventionierte Neubauten aufbetonieren zu lassen. Zumindest die Hinterhäuser und Quergebäude wurden abgerissen, die Blöcke "entkernt", die Vorderhäuser aufwendig saniert - was erhebliche Mietsteigerungen nach sich zog.
Foto: Henning Langenheim/ akg-images
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Gerhard Seyfried (Foto von 1993) drückte wie kein anderer das Sponti-Lebensgefühl der Berliner Szene aus. Aus eigener Anschauung und Erfahrung zeichnete er den Anarcho-Alltag zwischen WG-Küchentisch, Matratzenlager, Joint und Demos.
Foto: imago stock&people
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"Berlin stirbt abrißweise": Der SPD-Senat wollte durch Kreuzberg eine Schneise für eine Stadtautobahn schlagen, der Oranienplatz hätte einem Autobahnkreuz weichen müssen. Ab Mitte der Siebzigerjahre begannen die Bürgerinitiative SO 36 und Mietergruppen, gegen die "Kahlschlagsanierung" zu protestieren - zunächst ohne Erfolg.
Foto: ullstein bild/ Sven Simon
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Sie waren die ersten "Instand(be)setzer" West-Berlins: Christoph Ludszuweit (vorn) und sein Freund Gerhard Seyfried. Wenige Wochen, nachdem sie die Wohnung in der Görlitzer Straße 74 besetzt hatten, bekamen sie von der landeseigenen Wohngemeinschaft BeWoGe einen Mietvertrag.
Foto: Gerhard Seyfried
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Protest in Kreuzberg: Gut vier Monate nach der Besetzung durch Seyfried und Ludszuweit zogen am 9. Juni 1979 etwa tausend Menschen durch Kreuzberg, hier in der Adalbertstraße, um gegen die Abrisspolitik des SPD-Senats zu protestieren. Bei der Demonstration besetzte eine Gruppe Linksradikaler eine ehemalige Ufa-Kopierfabrik in Tempelhof.
Foto: Henning Langenheim/ akg-images
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Kreuzberg war Ende der Sechzigerjahre noch ein Arbeiterbezirk, in dem kaum Studierende wohnten, und wurde in den Siebzigerjahren zur Hochburg von türkischen Einwandern und von Dissidenten aller Art. Ihre Kulturrevolution beeinflusste ganz West-Berlin. In seinen Wimmelbildern zeigte Seyfried Kreuzberg als eigenen Kosmos.
Foto: Gerhard Seyfried
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Überall Leerstand: Das Beispiel von Seyfried und Ludszoweit machte in Kreuzberg Schule. Innerhalb weniger Monate waren mehr als ein Dutzend Häuser besetzt, es hatte sich ein Besetzerrat zusammengetan, schließlich sprang der Bazillus auf weitere West-Berliner Bezirke über, auch im Wedding wurde ein leerstehendes Haus besetzt.
Foto: Henning Langenheim/ akg-images
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Nach der Räumung eines leerstehenden, gerade besetzten Hauses am Landwehrkanal in Berlin-Kreuzberg, kam es am 12. Dezember 1980 zu einer Straßenschlacht zwischen Besetzern und ihren Sympathisanten und der Polizei, bei der etliche Scheiben zu Bruch gingen und die Polizei sich zeitweilig zurückziehen musste. Tausende forderten in den nächsten Tagen die Freilassung der in der Randalenacht Verhafteten.
Foto: ullstein bild/ Günter Peters
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Aus den Instandbesetzungen in Kreuzberg erwuchs in der ersten Hälfte des Jahres 1981 in West-Berlin eine Hausbesetzerbewegung, die sich etwa 165 Häuser aneignete und zum Teil äußerst militant zu verteidigen versuchte - Straßenschlachten inklusive. Der Abriss großer Teile von Kreuzberg konnte so verhindert werden.
Foto: ullstein bild/ Quax
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Seyfried machte sich über viele Linke eher lustig. Den Achtundsechzigern und nachfolgenden Linksradikalen hielt er ihren Bierernst vor. Mit Parteifunktionären und der Heldenverehrung kommunistischer Größen hatte er nichts am Hut.
Foto: Gerhard Seyfried
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Einen Job, den Seyfried nie ausschlug: eines seiner typischen Wimmelbilder für den Wahlkampf des prinzipientreuen linken Grünen Christian Ströbele zu zeichnen. Der vormalige "RAF-Anwalt", hier vor dem Seyfried-Poster, wurde zwischen 2002 bis 2013 im Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichshain viermal direkt in den Bundestag gewählt - was ihm als einzigem Kandidaten der Grünen gelang.
Foto: imago stock&people
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Der unreformierbare Anarcho und Sponti Seyfried fand, nachdem flaschengrüne Karrieristen die radikale Ökopartei der Grünen weitgehend übernommen hatten, höchstens noch die Linke wählbar. Für den Bundestagswahlkampf 2017 zeichnete er ein Plakat für die Linken in Kreuzberg-Friedrichshain und ihren Kandidaten Patrick Meiser.
Foto: imago/ Seeliger
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Im März 2017 wurde Gerhard Seyfried 70 Jahre alt. Er hat lange in verschiedenen Berliner Bezirken und in der Schweiz gewohnt, wird aber im Sommer 2018 wieder in eine kleine Wohnung nach Kreuzberg ziehen. Nicht aus Heimweh, sondern weil seine Wohnung in Berlin-Schöneberg zu teuer wurde.
Foto: Christoph Soeder/ picture alliance / Christoph Soe
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Im März 2018 veröffentlichte Gerhard Seyfried nach langen Jahren wieder ein Comic-Buch: "Zwille. The law returns to Kreuzberg". Die Anarcho-Figur Zwille, bekannt aus früheren Seyfried-Comics, bewegt sich durch das gentrifizierte Berlin, das immer langweiliger wird und in dem die Hausbesetzer, Freaks, Punks und andere Extremisten fehlen.