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Covid-19 – und die Welt geht auf Distanz: Die Pandemie in Bildern

Foto: Nguyen Huy Kham / REUTERS

Historiker zieht Seuchenbilanz »Nie zuvor ging Sicherheit über Freiheit«

Die vierte Welle rollt – trotzdem hat Malte Thießen bereits eine Corona-Geschichte geschrieben. Hier erklärt der Historiker, warum wir aus früheren Seuchen wenig lernen konnten. Und was gegen künftige Krisen hilft.
Ein Interview von Katja Iken und Eva-Maria Schnurr

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DER SPIEGEL: Covid-19 ist nicht die erste Pandemie, die über die Welt hereinbricht. Hätten wir aus den Seuchen der Vergangenheit mehr lernen müssen?

Thießen: Wir konnten aus der Historie nicht mehr lernen. Weil wir Kinder unserer Zeit sind.

SPIEGEL: Wie bitte? Die Spanische Grippe  weist so viele Parallelen zu Covid-19 auf. Das hätte uns doch helfen müssen bei der Bekämpfung.

Thießen: Ja, auch die Spanische Grippe war eine Atemwegserkrankung, die globale Verbreitung war ganz ähnlich. Und ja, auch die Pest  wies strukturelle Ähnlichkeiten auf: Wie wir Sündenböcke suchten, wie Stigmatisierung um sich griff, all das funktionierte ähnlich wie im Mittelalter. Dennoch bringt uns dieses Wissen nicht wirklich weiter.

SPIEGEL: Warum nicht?

Thießen: Weil wir heute in einer völlig anderen Gesellschaft leben. Die Pandemie sind wir – um es auf eine einfache Formel zu bringen. Damit will ich sagen: Das Virus ist nichts, das einfach so über uns kommt. Wir müssen schauen, wie die Gesellschaft darauf reagiert, welche Maßnahmen sie ergreift, wie wir alle die Pandemie also gemeinsam gestalten, mit der Bedrohung umgehen. Die sozialen Verhältnisse und die gesellschaftlichen Werte unterscheiden sich von jenen in früheren Pandemien.

SPIEGEL: Dann war die seit Beginn der Coronazeit allgegenwärtige Beschäftigung mit vergangenen Seuchen ja völlig für die Katz?

»Geschichte verkam in manchen öffentlichen Debatten zur Grabbelkiste.«

Thießen: Nein, das war ein grundmenschliches Bedürfnis, auch ich habe in der Anfangsphase der Pandemie mit Analogien zu vergangenen Seuchen hantiert. So funktionieren Menschen: Wenn etwas Neues kommt, möchten wir das einrahmen, verstehen, kontrollieren können. Und da hilft der Blick zurück. Problematisch war die oft mangelnde Differenzierung, die einfache Gleichsetzung: Geschichte verkam in manchen öffentlichen Debatten zur Grabbelkiste, aus der sich jeder und jede das Passende herausfischte, um die eigenen Argumente zu untermauern.

SPIEGEL: Der britische Medizinhistoriker Mark Honigsbaum hat von »kollektivem Versagen« in der Coronapandemie gesprochen. Kann die Geschichte erklären, warum Corona die Welt so überrascht hat? Wir waren doch alle gewarnt.

Thießen: In der Tat. Die Notfallpläne lagen in der Schublade, alle sechs Monate mahnte die WHO: »Es ist keine Frage, ob, sondern nur wann die nächste Pandemie kommt.« Dennoch wähnten wir uns aus drei Gründen in trügerischer Sicherheit: Erstens leben wir im Zeitalter der Immunität. Dank Antibiotika, dank systematischer Hilfsprogramme halten wir Infektionskrankheiten  nicht mehr für eine Bedrohung. Noch unsere Eltern wussten: Infektionskrankheiten gehören zum Leben dazu und können tödlich sein. Das Sicherheitsgefühl hat uns ein Stück weit blind gemacht für unsere eigene Verwundbarkeit. Diese Selbstsicherheit müssen wir aufgeben! Zweitens war die Schweinegrippe der Jahre 2009/10 ein großes Problem.

SPIEGEL: Wieso?

Thießen: Weil sie so glimpflich ausging. Anfangs war die Sorge enorm, in Schlagzeilen war von 40.000 möglichen Toten die Rede. Doch dann stand binnen kürzester Zeit ein Impfstoff bereit, was unser Immunitäts-Sicherheitsgefühl abermals verstärkte. Zudem erwies sich das Schweinegrippe-Virus als relativ harmlos, die gigantischen Impfstoffreserven waren also überflüssig. Es hagelte Kritik an der Hysterie und Panikmache. Die Schweinegrippe ist in unser kollektives Bewusstsein eingegangen als abschreckendes Beispiel für blinden Aktionismus.

»Unsere Arroganz wurde uns zum Verhängnis.«

SPIEGEL: Und was war der dritte Grund für trügerische Sicherheit?

Thießen: Dass wir Corona anfangs ganz stark für die Seuche der anderen hielten – der angeblich fledermausessenden, völlig beengt lebenden und arbeitenden Chinesen, so das Stereotyp. Wir dachten: So etwas kann uns nicht passieren. Ein fataler Irrtum. Unsere Arroganz wurde uns zum Verhängnis.

Isoliert bis über den Tod hinaus: Grabträger mit den sterblichen Überresten eines Coronatoten in Athen

Isoliert bis über den Tod hinaus: Grabträger mit den sterblichen Überresten eines Coronatoten in Athen

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Giorgios Moutafis / REUTERS

SPIEGEL: Was unterscheidet Corona am deutlichsten von allen vorangegangenen Seuchen?

Thießen: Es gibt keine Pandemie, in der so massiv eine ganze Gesellschaft auf Pause gestellt worden ist und in der es tatsächlich einen relativ breiten Konsens für sehr massive Einschränkungen gab.

SPIEGEL: Wieso haben wir die Lockdowns, Schulschließungen, Ausgangssperren anfangs mehr oder minder klaglos hingenommen?

Thießen: Weil wir heute ein anderes Risikoempfinden besitzen, eine ganz andere Sorge um die Alten und Erkrankten als beispielsweise noch bei der Hongkong-Grippe Ende der Sechzigerjahre. Eine Pressemeldung des Bundesgesundheitsamts beruhigte damals die Deutschen: Man müsse sich keine Sorgen machen, hieß es damals – ernsthaft betroffen seien nur Alte, Kranke, Diabetiker, Asthmatiker, Schwangere und so fort. Noch vor fünf Jahrzehnten nahm man den massenhaften Tod quasi als Kollateralschaden in Kauf. Haarsträubend, aber wahr.

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Covid-19 – und die Welt geht auf Distanz: Die Pandemie in Bildern

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SPIEGEL: Die Wirtschaft rangierte also vor der Gesundheit?

Thießen: Genau so war das seit der Antike bei jeder neu aufgetretenen Seuche. Corona ist die erste Pandemie, in der das Pendel zwischen Wirtschaft und Gesundheit zugunsten der Gesundheit ausschlägt, in der wir Sicherheit über Freiheit stellen. Das hat es bislang in der Geschichte noch nie gegeben. Wir haben wirtschaftliche Einbußen hingenommen, die zuvor undenkbar waren – auch, weil wir es uns leisten konnten. Ich bin nicht sicher, ob wir etwa auf dem Höhepunkt der Bankenkrise 2008 auch so gehandelt hätten. So aber sind wir auf einer relativ guten wirtschaftlichen Grundlage in diese Pandemie hineingeschlittert, der Staat konnte massive Ausgleichszahlungen leisten.

SPIEGEL: Hinzu kommt offenbar eine andere Einschätzung allgemeiner Lebensrisiken als noch in den Sechzigerjahren. Dass Menschen sterben, weil sie krank sind, nehmen wir nicht mehr so einfach hin.

Thießen: Heute können wir mit Vorerkrankungen anders und länger leben, sehen eine optimale medizinische Versorgung, ein hohes Lebensalter als selbstverständlich an. Dabei vergessen wir, dass dieser Goldene Herbst eine relative junge Errungenschaft ist.

Jeder stirbt für sich allein: Begegnung im Altenheim in Grace-Hollogne (Belgien)

Jeder stirbt für sich allein: Begegnung im Altenheim in Grace-Hollogne (Belgien)

Foto: John Thys / AFP

SPIEGEL: In Ihrer Gesellschaftsgeschichte der Coronazeit feiern Sie die gesellschaftliche Solidarität während der Pandemie, den Schutz von Alten und Vorerkrankten. Müsste man, wenn man sich die Sache nüchtern anschaut, aber nicht konstatieren: Solidarität gab es nur mit einem bestimmten Teil der Gesellschaft, mit Kindern und Jugendlichen hingegen kaum?

Thießen: Das stimmt, Heranwachsende wurden primär als Superspreader gefürchtet und als Bedrohung thematisiert, ihre Bedürfnisse zu lange ignoriert. Auch die Belange der Frauen spielten lange keine Rolle.

SPIEGEL: Haben Sie als Historiker die sozialen Verwerfungen überrascht, die sich in der Pandemie auftaten?

Thießen: In dem Ausmaß hat es mich wirklich erschreckt. Gerade weil es eine uralte Erkenntnis ist, dass Pandemien in der Geschichte stets die großen Ungleichheits-Macherinnen waren. Ärmere und sozial Schwache haben nicht nur ein höheres Infektionsrisiko, sondern leiden auch stärker unter den Eindämmungsmaßnahmen. Homeschooling muss man sich leisten können. Dass die Politik das nicht mitgedacht hat, fand ich ein extremes Armutszeugnis.

SPIEGEL: Auch internationale Solidarität gab es nur in Ansätzen.

Thießen: Immerhin haben wir auf europäischer Ebene Hilfsprogramme  gestartet – was in einem Europa der offenen Grenzen natürlich auch mit nationalem Eigennutz zu tun hat. Aber auf globaler Ebene haben Sie recht. Ich fürchte, wir fallen sogar hinter das zurück, was wir noch im Frühjahr 2021 diskutiert haben. Damals gab es eine starke Allianz, die forderte: Wir müssen Immunität global denken. Nur wenn alle geschützt sind, sind auch wir geschützt.

SPIEGEL: Auch in der deutschen Politik setzte sich diese Einsicht durch.

Thießen: Ich hatte gehofft, dass wir Gesundheit endlich als Weltgesundheit denken – die einen aus humanistischen, die anderen aus egoistischen Gründen. Aber momentan habe ich das Gefühl, dass dieser internationale Drive deutlich zurückgegangen ist. Auch deshalb war es mir wichtig, schon jetzt eine Geschichte der Coronapandemie zu schreiben. Damit die Dinge nicht in Vergessenheit geraten.

SPIEGEL: Wir befinden uns mitten in der vierten Welle – und Sie legen mit Ihrem Buch »Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie« bereits eine historische Deutung vor. Wie soll das gehen, Geschichte in Echtzeit zu schreiben?

Thießen: Das war in der Tat ein ziemliches Wagnis, da wir Historiker:innen qua Zunft eigentlich immer auf Abstand gehen müssen, um unseren Gegenstand betrachten zu können. Es war mir bewusst, dass ich Haue kriegen könnte von meinen Kolleginnen und Kollegen, weil der Untersuchungsgegenstand einfach zu nah dran ist.

SPIEGEL: Und, gab es Haue? »Die Historisierung in actu ist ein Unding«, schreibt Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Thießen: Bislang ist die Haue ausgeblieben (lacht). Ich bin das Risiko trotzdem eingegangen. Zum einen, weil es ein spannendes Experiment ist. Zum anderen, weil es in der zeithistorischen Forschung gar nicht so ungewöhnlich ist: Alle großen Ereignisse, etwa Erster und Zweiter Weltkrieg sowie »Drittes Reich«, sind schon während ihrer Zeit historisiert worden. Diese frühen Deutungen waren für die spätere Aufarbeitung stets ein zentraler Bezugspunkt. Ich hoffe, dass die Zeitgeschichte den Mut hat, die Geschichte der Gegenwart noch offensiver anzugehen. Zudem ist Corona für die Geschichtsschreibung ein absoluter Glücksfall.

SPIEGEL: Inwiefern?

Thießen: Noch nie ist ein Ereignis dermaßen breit dokumentiert worden. Diese Quellenvielfalt ist in zeithistorischer Perspektive ein absolutes Novum, eine einmalige Chance, die wir nutzen müssen. Leider gibt es in der Geschichtswissenschaft nach wie vor keine klare Idee, wie wir digitale Quellen sichern, etwa digitale Nachrichten, Social-Media-Interaktionen, behördliche Stellungnahmen. Auch deshalb wollte ich mit den Quellen arbeiten, solange sie verfügbar sind und die ganze Bandbreite darstellen.

Freiluft statt Muckibude: Fitnesstraining auf dem Balkon in Nantes

Freiluft statt Muckibude: Fitnesstraining auf dem Balkon in Nantes

Foto: Stephane Mahe / REUTERS

SPIEGEL: Aber ist es nicht frustrierend, ein Buch zu schreiben, dass sich zwangsläufig demnächst überholt hat?

Thießen: Natürlich. Dennoch ist eine frühe Historisierung auch deshalb notwendig, um gegenzusteuern und ein politisches Narrativ infrage zu stellen.

SPIEGEL: Das da lautet?

Thießen: Corona wurde gerade im Bundestagswahlkampf vielfach als Erfolgsgeschichte gedeutet, die nun an ihr Happy End kommt. Die Frühzeit von Corona, also das Jahr 2020, gerät zum Teil schon wieder in Vergessenheit. Es gibt den verständlichen Impuls, Konflikte zu glätten, all die Probleme und Spannungen zu überdecken.

»Wir müssen das Bewusstsein weltweiter Verletzlichkeit stärken.«

SPIEGEL: Kommen wir zum Fazit: Welche Lehren können wir aus der Coronapandemie ziehen? Was macht uns als Gesellschaft krisenresistenter?

Thießen: Wir müssen zu der banalen Erkenntnis gelangen: Die Krise sind wir, der Klimawandel sind wir. Er ist nicht etwas Extraterrestrisches, das auf uns niederkommt, sondern resultiert aus unserem Lebensstil, unserem Verhalten, unseren Verhältnissen. Also haben wir es auch in der Hand, etwas zu ändern.

SPIEGEL: Bei Corona hatte die Gesundheit Vorrang vor der Wirtschaft. Warum klappt das bisher nicht im Fall der Klimakrise?

Thießen: Corona wird als konkrete Bedrohung wahrgenommen, ein Risiko, das uns unmittelbar betrifft. Deshalb wurden ganz andere Ressourcen mobilisiert als sonst üblich. Beim Klimawandel ist das anders, er geschieht schleichend, wird auf eine ferne Zukunft projiziert. Wir müssten das Problem näher an uns ranholen, damit mehr passiert. Wenn der Klimawandel greifbar durchschlägt, wie jetzt im Sommer bei der Flutkatastrophe, ist plötzlich ganz viel möglich.

SPIEGEL: Sowohl beim Klima als auch bei Pandemien nützt das nichts, wenn wir Deutschen allein handeln.

Thießen: Nein. Und auch da war Corona eine Lehre: Wir müssen uns mehr als Teil einer weltweiten Gemeinschaft verstehen – und das Bewusstsein weltweiter Verletzlichkeit stärken. Krisen sind nur noch global denkbar, sind unser aller Problem. Wir müssen an einem Strang ziehen, uns global verständigen, den internationalen wissenschaftlichen Austausch pflegen. Das hat, bei allen Problemen, in der Coronapandemie binnen kurzer Zeit zu durchaus beachtlichen Erfolgen geführt.

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