
Holocaust-Drama auf dem Schwarzen Meer: "Warum starben die anderen und ich nicht?"
Holocaust-Drama auf dem Schwarzen Meer "Warum starben die anderen und ich nicht?"
David Stoliars Haus liegt am Ortsrand von Bend, einer kleinen Stadt im Herzen Oregons. Steinstufen führen zur Tür. Stoliars Frau Marda öffnet, gefolgt von einem aufgeregten Beagle. "Kommen Sie rein", ruft sie fröhlich und winkt, "kommen Sie rein."
Ihr Mann sitzt im Wohnzimmer, umringt von Andenken und Familienfotos. Stoliar wirkt viel jünger als 90, seine wasserblauen Augen blitzen. Er lacht, redet übers Wetter, fragt nach den Straßenverhältnissen am Mount Hood. Er macht Smalltalk, so lange wie möglich, als meide er das eigentliche Thema dieses Besuchs.
David Stoliar braucht Zeit, um seine Gedanken - sich selbst - zurückzuzwingen in jene Nacht im Jahr 1942.
Noch nie hat er mit einem deutschen Reporter darüber gesprochen. Und will nach diesem Treffen auch nie wieder darüber sprechen, mit niemandem, egal welcher Nationalität. "Das sind keine guten Erinnerungen", sagt er, "ich möchte mein Leben lieber in Ruhe beenden."
In Ruhe, das bedeutet für ihn ohne Gedanken an die Explosion, die ihn ins Wasser katapultierte. Die Schreie der anderen, die langsam verstummten. Das Warten auf den eigenen Tod, die Eiseskälte.
"Es gab keinen guten Grund, dass ich es geschafft habe"
Stoliar ist Zeitzeuge eines fast vergessenen Kapitels des Holocaust, bei dem die Alliierten eine fragwürdige Rolle spielten. Im Gegenteil: Sie schauten weg - vorher, währenddessen und danach. "Jeder", sagt Marda Stoliar, "hatte eine andere Ausrede."
Die Katastrophe geschah im Morgengrauen des 24. Februar 1942: Ein sowjetisches U-Boot versenkte das jüdische Flüchtlingsschiff "Struma" im Schwarzen Meer. 786 Menschen, darunter 101 Kinder, kamen entweder sofort um - oder erfroren und ertranken qualvoll.
Nur ein einziger überlebte.
"Es gab keinen guten Grund, dass ich es geschafft habe", sagt Stoliar. "Es war Glück, reines Glück." Bis heute leidet er an Schuldgefühlen, weil er damals nicht umgekommen ist, Psychologen nennen diese Reaktion "Holocaust-Syndrom".
Stoliar nähert sich der Geschichte über Umwege, als würde er hoffen, ihr doch noch ausweichen zu können, auch so viele Jahre später noch. Doch seine Frau - eine gebürtige Amerikanerin, fast 20 Jahre jünger und keine Jüdin - steuert ihn sanft. Sie ist frei von seinem Trauma, kennt seine Geschichte heute fast besser als er.
"Erzähl erst mal von Rumänien", souffliert sie.
David Stoliar wuchs in Rumänien auf, wo vor dem Zweiten Weltkrieg fast 800.000 Juden lebten. Spätestens im Sommer 1940 war die Gefahr, die von Deutschland ausging, auch dort nicht mehr zu leugnen: Hassgesetze, Deportationen, blutige Pogrome.
Passage auf einem Schrotthaufen
Stoliars Mutter floh nach Paris, er selbst blieb in Bukarest beim Vater. Dieser kaufte dem 19-Jährigen schließlich die Freiheit. Besser gesagt die Hoffnung darauf - einen Reisepass und ein Ticket nach Palästina, auf dem Flüchtlingsschiff "Struma". Der Fahrschein kostete umgerechnet 1000 Dollar.
Schon seit Kriegsbeginn steuerte eine immer größere Flotte dieser oft heillos überladenen Flüchtlingskähne das gelobte Land an. Die Passagen waren meist illegal: Die Briten, unter deren Mandat Palästina stand, drosselten die Einreise seit 1939 und blockierten sie dann nahezu ganz. Angesichts des drohenden Krieges in Europa wollten sie die Araber damit vor einer möglichen Waffenbrüderschaft mit Nazi-Deutschland abhalten.
Die "Struma" war ein Schrotthaufen. 1867 erbaut, diente die einstige Luxussegelyacht längst nur noch als Viehtransporter. Die Masten waren verschwunden, der Holzrumpf wurde lediglich notdürftig mit Metallplatten verstärkt. Der nachträglich eingebaute Motor funktionierte nur sporadisch.
Trotzdem charterten zwei jüdische Gruppen die "Struma" 1941. Auf Flugblättern warben sie mit wohlklingenden Worten für die Reise ins Ungewisse. "Bon voyage!", stand da und: "Willkommen in Palästina!"
Warten unter Quarantäneflagge
Auch Stoliars Verlobte Ilse Lothringer und ihre Eltern waren dabei. Doch als sie die "Struma" im Hafen von Constanta erblickten, ahnten sie das Schlimmste: Das Schiff, für höchstens 150 Personen gedacht, sollte nun beinahe 800 Passagiere fassen, in winzigen Holzkojen auf drei Ebenen - und das im kältesten Winter seit Generationen.
"Wir hockten wie Sardinen aufeinander", sagt Stoliar, "aber es gab keinen Weg zurück."
Nach mehreren Verzögerungen liefen sie am 12. Dezember 1941 endlich aus. Ihre Route: durch das Schwarze Meer, den Bosporus und das Mittelmeer nach Haifa. Doch schon nach wenigen Kilometern stockte der Motor. Als sie den Bosporus erreichten, gab er ganz auf.
Ein türkischer Schlepper brachte sie in den Hafen von Istanbul, wo die "Struma" wieder seetüchtig gemacht werden sollte. Von Bord gehen durften die Flüchtlinge aber nicht, da sie keine Visa hatten. Stattdessen hissten die Behörden die schwarz-gelbe Quarantäneflagge.
"Wir galten ja nicht als Menschen"
Hinter den Kulissen begann ein diplomatisches Gerangel. Großbritannien weigerte sich, die "Struma" nach Palästina zu lassen. Bulgarien wollte sie auch nicht zurückhaben. Die USA hielten sich ganz heraus. Und die Türkei, noch neutral, wollte es sich mit keinem verderben und verweigerte einen Landgang ebenfalls.
"Wir galten ja nicht als Menschen", sagt Stoliar. "Warum sollte man uns also helfen?"
Die Zustände an Bord verschlimmerten sich. Lebensmittel wurden knapp, eine Frau hatte eine Fehlgeburt. Hilfe kam nur von Simon Brod, dem Leiter der jüdischen Gemeinde Istanbuls: Er brachte Wasser und Nahrung.
Schließlich handelte die Türkei auf eigene Faust. Am 23. Februar 1942 stürmten Polizisten die "Struma", sägten die Ankerkette ab, schleppten das Schiff aufs Schwarze Meer zurück und überließen es seinem Schicksal.
"Wir wussten, dass wir nirgendwo anders hinkommen würden", beschreibt Stoliar die verzweifelte Stimmung. "Wir ahnten das Ende."
"Als ich wieder auftauchte, war das Schiff weg"
Hilflos trieb die "Struma" in der Strömung. Dann, in der ersten Nacht - eine Explosion.
"Es war drei oder vier Uhr", erinnert sich Stoliar. "Ich flog durch die Luft und landete im Wasser. Als ich wieder auftauchte, war das Schiff weg."
Was die Menschen an Bord damals nicht wussten: Ein sowjetisches U-Boot hatte aus 1118 Metern Entfernung einen Torpedo auf sie abgefeuert. Hintergrund war ein Geheimbefehl Stalins, alle neutralen Schiffe, die das Schwarze Meer befuhren, zu versenken. Doch das würde erst Jahrzehnte später bekannt werden.
Die meisten Passagiere und Crew-Mitglieder der "Struma" starben, als der Torpedo explodierte. Darunter auch Stoliars Verlobte Ilse und ihre Eltern. Sie hatten tief unten im Schiff gelegen. Stoliar hatte Glück gehabt. Sein Schlafplatz lag direkt unterhalb des Decks.
Stoliar steht auf, kramt ein Fotoalbum hervor. Ein einziges Bild von Ilse hat er nur noch, sie steht lachend auf einem Balkon, einen Welpen im Arm.
Marda stupst ihn an: "Damals", sagt sie, "wie ging es weiter?"
Ach ja, damals. Stoliar seufzt.
Ringsum strampelten mehr als 100 Flüchtlinge im eiskalten Wasser. Eine Gruppe klammerte sich an ein Trümmerstück, er auch. Doch einer nach dem anderen erfor und versank. "Schließlich", sagt Stoliar, "war ich alleine."
Diesmal unterbricht ihn Marda nicht. Es wird still im Wohnzimmer.
Selbstmordversuch im Eiswasser
Der Morgen verstrich, der Nachmittag, der Abend, es wurde wieder Nacht. Stoliar gab die Hoffnung auf. Er versuchte, sich mit seinem Taschenmesser die Pulsadern aufzuschneiden. Doch nicht mal das klappte: "Meine Finger waren durch den Frost zu stark geschwollen."
Dann endlich, nach 24 Stunden, las ihn ein Ruderboot der Küstenwache auf. Er kam nach Sile, einen kleinen Hafen, dann in ein Militärkrankenhaus in Istanbul. Eine Woche später wurde er in ein Gefängnis verlegt, da er illegal "eingereist" sei.
71 Tage saß Stoliar dort. Erst dann genehmigte ihm die britische Regierung die Einreise nach Palästina, "ausnahmsweise". Ein Zug brachte ihn nach Aleppo, ein Auto dann nach Tel Aviv.
Stoliar versuchte, die "Struma" zu vergessen, begann ein neues Leben. Seine Mutter war in Auschwitz umgekommen. Sein Vater hatte in Bukarest überlebt, Stoliar holte ihn zu sich.
Seiner ersten Frau Adria, die er 1945 in Kairo heiratete, erzählte er nie von der "Struma".
Stoliars langes Schweigen
1954 landete Stoliar mit einer Handelsfirma in Tokio. 1961 starb Adria an Krebs. Einige Jahre später arrangierte ein Freund ein Treffen mit Marda, einer Schuhdesignerin aus Oregon. Die beiden verliebten sich, heirateten, zogen nach Paris, 1979 dann nach Bend.
Der Freund hatte Marda von Stoliars Schicksal erzählt. Sie machte sich in Bibliotheken über die "Struma" schlau, sprach ihn aber nie darauf an. Marda wartete darauf, bis ihr Mann von selbst erzählen würde. Er tat es. Doch erst, als sie schon zwei Jahre verheiratet waren.
Das Schicksal der "Struma" geriet schnell in Vergessenheit. Stoliar war das recht. Einmal wollte MGM seine Geschichte verfilmen, er lehnte ab. Es gab ein paar Zeitungs- und Magazinartikel. Die US-Journalisten Douglas Frantz und Catherine Collins rekonstruierten die Tragödie 2003 in ihrem Buch "Death on the Black Sea". Stoliar war ihre Hauptquelle, wenn auch widerwillig.
Und jetzt will er also ein für allemal dichtmachen. "Warum starben die anderen und ich nicht?", fragt sich Stoliar immer noch. Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt.
Die Geschichte ist erzählt. Zum letzten Mal. Stoliar wirkt erleichtert. Seine wasserblauen Augen blitzen. Jetzt lacht er wieder, redet übers Wetter, fragt erneut nach den Straßenverhältnissen am Mount Hood. Der Beagle springt ihm auf den Schoß.
Zum Weiterlesen: Douglas Frantz, Catherine Collins: "Death on the Black Sea: The Untold Story of the 'Struma' and World War II's Holocaust at Sea". HarperCollins, New York 2003, 384 Seiten.