
Stammbaum-Schwindel: Doch kein Mann aus der Morgenröte
Gefälschter Ur-Mensch Blamiert bis auf die Knochen
Was für ein später Triumph über die Heimat der Barbaren, den unkultivierten, alten Kontinent, ja sogar über die ganze Welt! Der älteste Mensch der Erde, ein Mann von der Insel, ein Brite! Ein überaus intelligenter Engländer auch noch mit einem überdurchschnittlich großen Gehirnvolumen - das legte zumindest der direkte Vergleich mit den kleineren Schädelformen anderer Funde wie die des Neandertalers nahe.
Musste nur noch ein passender Name her für den spektakulären Schädelfund, der im Sommer 1912 in einem Kiesbett in der Nähe des Dörfchens Piltown aufgetaucht war und nun, am 18. Dezember 1912, der elektrisierten Fachwelt präsentiert wurde. "Piltdown-Mensch", das ehrte zwar ein Dorf und ein Stückchen englische Heimat, klang aber viel zu banal für den womöglich 500.000 Jahre alten Ur-Briten. Etwas feingeistiger und poetischer durfte es bei so einer Weltsensation schon sein. Warum also nicht "Eoanthropus dawsoni"? Was, grob übersetzt, so viel heißt wie: "Dawsons Mann der Morgenröte".
Das schien eine angemessene Metapher: Ein Mann aus der Morgenröte der Menschheitsgeschichte, das so lange verzweifelt gesuchte Bindeglied zwischen dem Affen und dem Menschen: Denn bei Piltdown war ein menschlich wirkendes Schädeldach und ein eher affenähnlicher Unterkiefer ausgegraben worden. Beide bräunlich verfärbten Fragmente schienen perfekt zueinander zu passen. Und dann trug der Finder der Knochen auch noch einen äußerst wohlklingenden Namen: Charles Dawson, Rechtsanwalt und Hobby-Geologe.
Jähes Ende des Wintermärchens
Charles Dawson, das klang irgendwie nach Charles Darwin, jenem berühmten Briten, auf dessen Evolutionstheorie überhaupt erst der Gedanke beruhte, dass sich die gemeinsame Entwicklungsgeschichte von Affe und Mensch in einem "Affen-Menschen" ausdrücken müsse. Mitte Dezember 1912 schien sich also der Kreis zwischen Darwin und Dawson wundersam zu schließen. Ein besseres Weihnachtsgeschenk hätten sich alle Patrioten der damaligen Weltmacht Großbritannien kaum wünschen können.
Knapp 41 Jahre dauerte es, bis das Wintermärchen von 1912 am 21. November 1953 jäh zerplatzte. Wieder schrieb das Dörfchen Piltdown in der Grafschaft Sussex Weltgeschichte, wieder beherrschten Superlative die Schlagzeilen - diesmal allerdings ganz anderer Natur: Vom größten Betrug in der Wissenschaftsgeschichte war plötzlich die Rede. Das altehrwürdige National History Museum in London hatte kleinlaut einräumen müssen, dass sein berühmtestes Ausstellungsstück nichts weiter war als eine Fälschung - nun aufgedeckt durch eine neue Methode der Altersbestimmung.
Was für ein Debakel. Die Knochen: chemisch verfärbt und auf alt getrimmt. Das Schädeldach des vermeintlichen Ur-Briten: ein gewöhnliches Fossil aus dem Mittelalter. Der affenähnliche Unterkiefer und die Zähne: gerade mal 500 Jahre alt und aus Borneo stammend, fern jeder urbritischen Heimat. Das stolze Piltdown: im wahrsten Wortsinn bis auf die Knochen blamiert. Die Fundstelle war längst mit einem Denkmal geehrt worden und in der nahegelegenen Kneipe "The Piltdown Man" gedachten die Engländer bei einem Bier der einstigen Sensation. Vorbei. Fortan stand Piltdown nur noch für Pfusch und Schwindel in der Wissenschaft.
Umso erstaunlicher, dass der Fall bis heute, 60 Jahre nach der Entdeckung der Fälschung, immer noch nicht restlos geklärt ist. Verdächtige gab es zu Hauf, vom Entdecker Dawson sogar bis hin zum Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle. Hunderte Publikationen und Untersuchungen sind über Piltdown veröffentlicht worden, eindeutig überführt werden konnte niemand. Frustriert fasste ein Forscher des Natural History Museum die Situation einmal so zusammen: "Piltdown ist ein Stück Blödsinn, an das wir eine phänomenale Menge Zeit verschwendet haben."

Stammbaum-Schwindel: Doch kein Mann aus der Morgenröte
Der Blödsinn konnte nur deshalb so lange unentdeckt bleiben, weil der Fund bestehende Erwartungen schlagartig zu bestätigen schien - sicher eine interessante Fallstudie für jeden Sozialpsychologen. Man suche, hatte der Paläontologe Arthur Smith Woodward bereits 1885 gesagt, "eine Kreatur mit übergroßem Hirn und affenähnlichen Gesicht". Jahre später - Woodward war inzwischen Präsident der einflussreichen Geological Society of London - lieferte ihm Dawson scheinbar das fehlende Mosaiksteinchen. Der ambitionierte Laie und Fossilienjäger hatte Woodward um eine fachliche Einschätzung seines Fundes gebeten - und der verlieh dem Piltdown-Menschen den wissenschaftlichen Ritterschlag.
Alles, was skeptisch hätte machen können, wurde fortan rigoros ausgeblendet. Dabei gab es einige Punkte, die Fragen aufwarfen: Da fehlten etwa ausgerechnet die Gelenke, die den äffischen Unterkiefer mit dem menschlichen Schädeldach hätte verbinden müssen. Nach gängiger Forschung hätte zudem der ganze Piltdown-Kopf genau umgekehrt konstruiert sein müssen: Affenschädel mit einem Menschenkiefer statt Menschenschädel mit einem Affenkiefer. Viele Forscher hatten nämlich vermutet, dass sich in der Evolution vom Affen zum Menschen zunächst der Kiefer und dann erst das Gehirn weiterentwickelt habe.
Spielte der Ur-Brite schon Kricket?
Stutzig machte auch, dass weltweit weiterhin mehrere ähnlich alte Schädelfragmente gefunden wurden, die aber viel kleinere Gehirne und menschenähnliche Kiefer aufwiesen. Mit Verweis auf die Piltdown-Entdeckung wurden die neuen Funde aber von vielen Wissenschaftlern gar nicht ernst genommen. Die Fälschung blockierte die seriöse Forschung und führte sie in eine Sackgasse.
Kaum jemand wunderte sich dagegen 1914 über einen weiteren Fund in Piltdown: ein seltsam geschnitzter und bearbeiteter Elefantenknochen, der an einen Kricket-Schläger erinnerte. Nur ein Wissenschaftler fragte damals vorsichtig, "welchen Nutzen" denn so ein Gerät damals gehabt haben soll. Dawson und Woodward jedoch nannten den Knochen ein "höchst wichtiges Beispiel für die handwerklichen Fähigkeiten" der Menschen aus der Piltdown-Ära. Mit anderen Worten: der Ur-Brite frönte womöglich schon vor hunderttausenden Jahren dem späteren englischen Nationalsport.
Wer aber war der Täter? Und vergrub er womöglich den Pseudo-Kricket-Schläger in der Grube, weil er seinen Schwindel absichtlich auffliegen lassen wollte?
Sherlock-Holmes-Erfinder Doyle war es!
In den vergangenen sechs Jahrzehnten geriet so ziemlich jeder an der Grabung Beteiligte in Verdacht. War der ehrgeizige Fossilienjäger Dawson in Wahrheit ein Betrüger, der sich Weltruhm erschleichen wollte? Auf dem Totenbette murmelte er zumindest irgendetwas von einem Schädel. Gegen ihn sprach jedoch, dass Dawson als Laie das Wissen für eine chemische Verfärbung der Knochen fehlte. Lange galten auch die Altertumsexperten Woodward und sein Kollege Pierre Teilhard de Chardin als verdächtig, bis 1983 das US-Wissenschaftsmagazin "Science 83" die Bombe platzen ließ: Sherlock-Holmes-Erfinder Doyle war es!
Sieben Jahre lang hatte sich der US-Wissenschaftler John Hathaway Winslow mit dem Fall beschäftigt. Seine Indizienführung klang auf den ersten Blick so geistreich wie die Ermittlungen des Meisterdetektivs: Doyle wohnte nur 15 Kilometer von Piltdown entfernt. Er kannte nachweislich die Fundgrube und wusste über einen Freund auch von dem Ehrgeiz des Fossilienjägers Dawson. Als studierter Mediziner hatte er das notwendige Fachwissen für die Manipulation, und zu guter Letzt hatte er auch noch 1912 (dem Tatjahr!) einer seiner Romanfigur den scheinbar verräterischen Satz in den Mund gelegt: "Knochen lassen sich so einfach fälschen wie Fotografien, wenn man nur schlau genug ist."
Am wichtigsten aber: Den Romancier trieb womöglich ein uraltes Motiv an - Rache. Doyle hatte sich nach dem Medizinstudium immer mehr zum Spiritualismus hingezogen gefühlt, doch sein Glaube an Übersinnliches und die Kraft von spiritistischen Seancen brachten ihm viel Spott ein. Wollte er, zutiefst gekränkt, mit einem Schelmenstück die etablierte Wissenschaft vorführen und blamieren?
Ein verstaubter Koffer voller Knochen
Ganz ausgeräumt wurde der Verdacht nie. Doch 13 Jahre später, 1996, trat wie in einem guten Sherlock-Holmes-Roman plötzliche eine unerwartete Wendung ein, die den Schriftsteller entlastete. Ein verstaubter Reisekoffer voller kleiner Fläschchen mit Nagetierpräparate war auf dem Dachboden des Natural History Museum aufgetaucht. Ganz versteckt am Boden des Koffers lagen etliche bearbeitete und gebeizte Knochen, die den Piltdown-Funden in Farbe und Struktur frappierend ähnelten.
Eine chemische Analyse erhärtete den Verdacht: Auf den Knochen fanden sich Spuren von Eisenoxid, Manganoxid und Chrom - und zwar im gleichen Verhältnis wie auf den Fälschungen von 1912. Mit diesen Chemikalien ist es möglich, Knochen bräunlich verfärben und alt wirken zu lassen. Hatte also hier jemand fleißig geübt?
Die Initialen eines Martin A.C. Hinton standen auf dem Koffer, und damit schien das Rätsel endlich gelöst. Hinton war zur Zeit der Fälschungen zwar nur als Biologe in dem Museum angestellt, doch galt seine Leidenschaft der Paläontologie. Hin und wieder jobbte er in der dortigen Abteilung auch als Präparator. Die Bezahlung des Aushilfsjobs war aber offenbar so mies, dass Hinton sich darüber mit seinem Vorgesetzten zerstritt. Das war damals schon jener Smith Woodward, der später auf die Fälschungen reinfiel. Waren ein paar zu wenig bezahlte Pfund also die banale Ursache für die größte Betrugsposse der Wissenschaftsgeschichte?
"Unwiderstehliche" Versuchung
Befragen konnte man Hinton 1996 dazu nicht mehr, er war schon 35 Jahre zuvor gestorben. Die Möglichkeiten zur Fälschung hätte er aber gehabt. Schon mit 16 Jahren verfasste er eine Studie darüber, wie sich Knochen verfärben, wenn sie lange in Flussgeröll lagern. Und kurz vor seinem Tod schrieb er verschmitzt einem Freund, "die Versuchung, die Entdeckung eines Affenmenschen zu erfinden" habe bei den ungefestigten Charakteren in der Paläontologie durchaus "unwiderstehlich" sein können.
Ein Geständnis war das jedoch nicht. Genauso gut könnte der Satz als Beschuldigung Woodwards, die Knochen gefälscht zu haben, interpretiert werden. Und nach allen den Peinlichkeiten war man auf der Insel - dieser zu früh beanspruchten Wiege der Menschheit - nun zurückhaltender geworden. Der Piltdown-Fälscher hat, so scheint es, die Wissenschaft zumindest langfristig zur Vorsicht erzogen.