DDR-Abenteurer Fotos einer verbotenen Reise

Sie trampten durch die Wüste Gobi, schliefen in der Wildnis und überlisteten sowjetische Kontrollposten: Mit gefälschten Papieren erkundeten im Sommer 1987 zwei Ost-Berliner Studenten die Mongolei und China. Ihr Abenteuer dokumentierten sie auf rund 5000 faszinierenden Fotos.
Foto: Marion Mentel

An einen Fall der Mauer war noch nicht zu denken, da nimmt sich das Ost-Berliner Studentenpaar Jens und Marie die Freiheit, von der andere immer nur reden: Sie organisieren vom Flohmarkt eine Schreibmaschine mit kyrillischen Buchstaben, fertigen sich selbst Einladungen oder benutzen welche von anderen und versuchen mit dem so erschlichenen Visum, ihren Traum einer Reise in den Fernen Osten zu verwirklichen. Sie leben bei Wildhütern und mongolischen Nomaden, tauchen ein in die ursprünglichen Landschaften der Sowjetunion und der Mongolei, durchstreifen ein verwunschenes China.

Ihre Abenteuer hielten die damalige Kunststudentin und der angehende Biologe auf Tausenden Farb- und Schwarzweißfotos fest. Bei den Recherchen zum SPIEGEL-Buch "Die verbotene Reise", das erstmals die Geschichte von Jens und Marie erzählt, habe ich diese Bilder mit ihnen gemeinsam wiederentdeckt. Ein versunkener Schatz, der beinahe vergessen in Schuppen und auf Dachböden lagerte.

Die Reiseroute Berlin - Peking: 10.806 Kilometer

Die Reiseroute Berlin - Peking: 10.806 Kilometer

Foto: DVA

Marie und Jens hatten sich Mitte der achtziger Jahre verliebt und waren in der Rykestraße im Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg in einer besetzten Wohnung zusammengezogen. Sie gehörten nicht zur Szene der DDR-Oppositionellen, sondern hatten bis dahin all das gemacht, was man machen musste, um die begehrten Studienplätze zu erhalten. Doch Jens diskutierte auch mit Studenten aus dem Westen über das Unglück im Kernkraftwerk Tschernobyl und engagierte sich in kirchlichen Umweltkreisen. Schließlich wurde er von der Humboldt-Uni geschmissen - angeblich wegen versäumter Russischstunden. Obwohl er bestens Russisch sprach, denn er gehörte zu jenen Abenteurern in der Republik, die Lücken im Überwachungsstaat suchten und fanden und so unerkannt durch die Sowjetunion trampten - bis zum Baikalsee und weiter. Doch mit dem Studienverbot und anderen Schikanen machte der Staat Jens das Leben so schwer, dass er, wie so viele andere, die Ähnliches erlebten, nur noch ans Abhauen dachte.

Zwölf Kilo Fotoausrüstung

Im Sommer 1987 verließen Jens und Marie die Rykestraße und stiegen am Ost-Berliner Hauptbahnhof in den Zug - an der polnischen Grenze wurden sie erstmals kontrolliert. Die Uniformierten staunten nicht schlecht, als sie die prallgefüllten Rucksäcke der beiden auseinandernahmen: Sie zählten 144 Schwarz-Weiß- und 100 Farbdia-Rollfilme, jeder Film ermöglichte zwölf Aufnahmen im Mittelformat 6x6, genug also für 3000 Fotos. Jens erzählte den Kontrolleuren, dass er Biologie studiere und Naturaufnahmen plane, das leuchtete ihnen ein. Außerdem konnten sie ja ihr trickreich erworbenes Visum für die Mongolei vorweisen.

Die Fotoausrüstung von Jens wog zwölf Kilo: drei Pentacon-Six-Mittelformatkameras mit fünf Wechselobjektiven, das stärkste Teleobjektiv war fast einen halben Meter lang und wegen seiner Glaslinsen schon allein mehr als zwei Kilo schwer.

Die beiden wussten, dass sie unterwegs Außergewöhnliches erleben würden. Und sie planten noch mehr: In der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator wollten sie versuchen, in der dortigen chinesischen Botschaft ein Visum für China zu bekommen. In Ost-Berlin hatte sie das nicht gewagt, weil sie fürchteten, man würde sie sofort der Republikflucht verdächtigen. Doch so weit weg von zu Hause war das Visum kein Problem. Nach 10.806 Kilometern waren sie am Ende ihrer verbotenen Reise in Peking angekommen.

Nahaufnahmen aus einem verschlossenen Land

Die mitgenommenen Filme hatten sie zu diesem Zeitpunkt bereits belichtet und sich an der sowjetisch-mongolischen Grenze sogar noch Nachschub besorgt. Der Einkauf war allerdings nicht ungefährlich, weil das Magasin - ein von russischen Händlern betriebener Krämerladen mit allerlei Waren - direkt im Eingangsbereich einer sowjetischen Kaserne lag. Jens war das trotz seiner unauffälligen grau-grünen, in Russland gekauften Kleidung nicht geheuer, und er beobachtete erst eine Weile das Kasernentor. Als er sah, dass die Wachposten andere Zivilisten unkontrolliert durchließen, näherte sich der Verhaltensbiologe den Wachhabenden so, wie er es bei den anderen gesehen hatte: Festen Schrittes und mit einem kurzen Nicken ging er an ihnen vorbei. Es klappte. Im Regal hinter der Verkäuferin entdeckte er große Packungen mit ORWO-Diafilmen. Filme, die es in der DDR selten gab, in der letzten Stadt vor der mongolischen Grenze! Jens fragte, wie viele er kaufen könne. Die Verkäuferin antwortete: alle! Jens sagte: Dann nehme ich alle, und er kaufte hundert Diafilme und zwanzig Schwarz-Weiß-Filme - genug für ihren langen Marsch durch China.

Das kommunistische Land hatte sich gerade erst ein wenig für Besucher aus dem Ausland geöffnet, viele Orte und Regionen waren noch gesperrt. Die politische Lage in Tibet und in Peking war angespannt. Ein Wunder, dass die beiden bei nächtlichen Bahnreisen und auf ihren Fahrten mit Bussen oder mit dem Schiff auf dem Gelben Fluss unbehelligt blieben und alles erkunden konnten. So entstanden ungewöhnliche Nahaufnahmen des Lebens im kommunistischen China. Etliche dieser Bilder sind im Buch "Die verbotene Reise" abgedruckt. Mit dem Blick zweier junger Ost-Berliner hielten sie das Leben in diesem Land vor dem großen Umbruch fest - professionell im Mittelformat.

Dies ermöglicht nun, einen kleinen Teil des Fotoschatzes der beiden Abenteurer in einer Ausstellung zu zeigen. Ab dem 11. April werden zwei Dutzend Bilder aus der Mongolei und China zu sehen sein: Zuerst in Berlin, ausgerechnet in Erich Honeckers ehemaligem Vorzeige-Luxus-Hotel, dem heutigen Westin Grand, vor dessen Eingang in der Friedrichstraße eines der wenigen verbliebenen Segmente der Berliner Mauer steht. Vom 3. Juni an ist die Fotoausstellung "Die verbotene Reise" in München zu sehen. Danach - Ironie der Geschichte - in den ehemaligen Interhotels von Leipzig, Dresden und Potsdam.


Alle Termine der Wanderausstellung "Die verbotene Reise":

11. April bis 27. Mai 2014: Berlin - The Westin Grand

3. Juni bis 2. Juli 2014: München - The Westin Grand München

13. August bis 10. September 2014: Leipzig - The Westin Leipzig

16. September bis 16. Oktober 2014: Dresden - The Westin Bellevue Dresden

18. Oktober bis 19. November 2014: Potsdam - Mercure Hotel Potsdam-City

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Peter Wensierski:
Die verbotene Reise

Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht.

Deutsche Verlags-Anstalt;
256 Seiten; 19,99 Euro.

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