

20 Jahre lang rottete das Gebäude vor sich hin. "Türen und Fenster fehlten, Wasser tropfte von der Decke, in den Zimmern wuchsen Moose und Farne", erinnert sich Rüdiger Kurth. "Überall lagen Haufen mit den zertrümmerten Überresten des Mobiliars. An den Wänden wucherte der Schimmelpilz." Trotzdem zog es Kurth und seine Mitstreiter 2014 in das verfallende Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Irgendwo in dieser Hinterlassenschaft der untergegangenen DDR vermuteten sie einen wahren Schatz.
Und sie fanden ihn: den Bildschirm und Teile des Gehäuses eines "Polyplay". In der DDR galt der "Polyplay" als eine Legende. Er war in seinem glänzenden Holzkorpus mit 50-Pfennig-Geldeinwurfschlitz und Joystick der einzige Videospielautomat des Arbeiter- und Bauernstaates. In knallig-bunten Farben leuchtete der Schriftzug "Polyplay" über dem Bildschirm. Lediglich rund 2000 dieser Geräte verließen die Hallen des VEB Polytechnik in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Die meisten sind verschollen, lediglich drei solcher Geräte befinden sich in Berlin und Karlsruhe.
Zehn Monate später steht das seltene Stück restauriert hinter der Schiebetür eines alten Getränkemarkts in Halle an der Saale. Dahinter stapeln sich Kabel, Monitore und Computeranlagen: Auf über 600 Quadratmetern lagert die sogenannte Digital AG hier ausrangierte DDR-Rechentechnik. In einer Ecke blinkt das neueste Objekt der Sammlung. "Er ist jetzt soweit, dass er wieder funktioniert", verkündet Ronny Kunze - und schaltet das Gerät ein. Doch etwas geht schief. Der Rechner stürzt ab.
"Vorm Aussterben bewahren"
Seit 19 Jahren rettet Kunze zusammen mit seinen Kollegen von der Digital AG alte DDR-Computer, die normalerweise auf dem Schrottplatz landen - von kleinen Bürogeräten bis hin zu Steuerungsanlagen von Kraftwerken. Im ehemaligen Getränkemarkt wird gesammelt, repariert und ausgestellt. Anfangs trafen sich nur ein paar Schüler, die sich für Elektronik interessierten, im Plattenbauviertel Halle-Silberhöhe. Sie schleppten immer wieder neue, zentnerschwere Rechner vom Sperrmüll nach Hause, um sie zu reparieren. Mit der Zeit kamen immer mehr Technikretter dazu. Inzwischen zählt die Gruppe neun Mitglieder. Aus einem Schülerhobby wurde Besessenheit.
"Uns geht es darum, die Geräte vorm Aussterben zu bewahren, denn wir sehen sie als einen Teil der Industriekultur an, die es zu erhalten gilt", meint Rüdiger Kurth. Jeden Freitagabend reist er aus dem sächsischen Crimmitschau an, um zu löten, schrauben und basteln. Eigentlich ist er Automobilentwickler. Seine Kenntnisse über Rechentechnik hat er sich selbst angeeignet: "Bei vielen Geräten gibt es gar nichts, woran wir uns orientieren können, da müssen wir improvisieren. Aber bei den Robotrongeräten war es üblich, dass auch technische Dokumentationen und Unterlagen mitgeliefert wurden, und die helfen uns enorm bei der Wiederherstellung."
Diese Unterlagen stapeln sich in einer anderen Ecke der Halle. Dazwischen steht Gerhard Just, der sie durchblättert, sortiert und studiert. Der ehemalige Dozent der Technischen Hochschule Merseburg ist ungefähr doppelt so alt wie seine jungen Kollegen. "Ich hatte, das muss 1962 oder 1963 gewesen sein, das erste Mal mit einem Computer zu tun", meint Just. Seither faszinieren ihn diese Geräte. Mit seinen mehr als 80 Jahren beschäftigt sich Just immer noch täglich mit alter Rechentechnik.
" Ob überhaupt noch etwas da steht "
Um die Sammlung immer weiter zu vergrößern, gehen die Jungs mehrmals im Jahr auf "Industrie-Exkursionen". In stillgelegten Betrieben finden sie technische Überbleibsel. Früher konnten die Sammler die Fabriken einfach aufsuchen und fragen, ob sie die Technik mitnehmen durften. Doch derart unberührte Gelände sind 25 Jahre nach der Wende selten geworden.
Deswegen liegt ein großer Stapel alter Telex-Bücher auf einem Tisch in der Ecke der Werkstatt: "Telex" war ein System zur Textnachrichtenübermittlung per Fernschreiber. "Wir filtern die Einträge nach Volkseigenen Betrieben oder wissenschaftlichen Zentren und erfassen diese in einer Liste, die inzwischen 27.000 Einträge hat", erklärt Sebastian Czech. "Dann vergleichen wir mit Luftbildern, ob überhaupt noch etwas da steht, nehmen die GPS-Daten und fahren hin." Vor Ort beginnt die Suche in den DDR-Ruinen. Die Industriegebäude sind oft schwer zugänglich, die Hallen heruntergekommen und teilweise einsturzgefährdet.
So war es auch bei der Bergung des Spielecomputers "Polyplay": Schon lange hatte sich die Digital AG eines der seltenen Geräte für ihre Sammlung gewünscht. Der Zufall spielte ihnen in die Hände: Im Internet entdeckten sie die Aufnahme eines unbekannten Ruinenfotografen, das unverkennbar eine auf dem Fußboden liegende Gehäuseblende des Polyplay zeigte. Die Digital AG ermittelte den Standort und fuhr hin. Wo genau das war, bleibt ein Geheimnis. Weitere DDR-Technik harrt dort auf ihre Bergung.
" Uns macht das Reparieren einfach Freude "
Haben die Jungs in den Ruinen die Rechenzentren gefunden, müssen sie die schwere Technik über kaputte Wege und Geröll zum Auto schleppen. In Wäschekörben sammeln sie Einzelteile, für Großrechner organisieren sie einen Transporter. In ihrer Werkstatt im alten Getränkemarkt angekommen, nehmen sie jedes Einzelteil unter die Lupe, reinigen es, suchen nach Ersatzteilen und bauen die Rechner wieder zusammen.
So wie den "Polyplay": Auf dem Bildschirm erscheint ein Flackern. Der Rechner springt an, die Soundanlage dudelt eine Melodie der Achtzigerjahre. Ronny Kunze und Rüdiger Kurth strahlen: "Uns macht das Reparieren einfach Freude. Das ist unser Kick."
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Begrenzter Spaß: Als einziger Videospielautomat der DDR war der "Polyplay" äußerst beliebt. Allerdings verließen nur rund 2000 Exemplare den VEB Polytechnik im heutigen Chemnitz. Dieses Exemplar wurde von der Digital AG in einem verlassenen Ferienheim geborgen und restauriert. Es ist wieder funktionstüchtig.
Unpolitischer Spaß: Acht Spiele standen den Nutzern zur Verfügung. Wie der "Abfahrtslauf". Programmierer und Gestalter hatten vor dem Entwurf des "Polyplay" die Anweisung erhalten, die Spiele unpolitisch zu gestalten.
Geschenkter Gaul: Der "AC1" war ein klassischer Heimcomputer zu DDR-Zeiten. Dieses Exemplar erhielt die Digital AG von einem Spender. Derzeit harrt es aber noch seiner Instandsetzung. Die Tastatur ist eine kommerzielle Schreibmaschinentastatur, die der Konstrukteur anscheinend im Amateurhandel erworben hat.
Spartaner: Schulen, Universitäten und Arbeitsgemeinschaften erhielten in der DDR diesen spartanisch wirkenden Computer. Sie sollten die Arbeitsweise des U880-Prozessors und seiner Maschinenbefehle kennenlernen, der in einem Großteil der DDR-8-Bit-Rechner im Einsatz war. Ab 1984 wurde das Gerät vom VEB Mikroelektronik Erfurt hergestellt. Der Rechner ist betriebsbereit und erfreut beim Einschalten mit der Melodie von "Popcorn".
Parade: Die Technikretter von der Digital AG sammeln, reparieren und stellen ihre Funde aus. Hier sind DDR-Bürocomputer aus den Achtzigerjahren zu sehen.
Jung und Alt: Das älteste Mitglied der Digital AG ist Gerhard Just mit mehr als 80 Jahren. Er beschäftigt sich gerade mit der Restaurierung einer Rechenmaschine aus den Sechzigerjahren. Hier sichtet Just alte technische Unterlagen.
Harter Kern: Ronny Kunze reinigt und erforscht das Innenleben einer Industrierobotersteuerung. Er gehört zu den neun Kernmitgliedern der Digital AG.
Bruderherz: Dieser PC sieht nicht nur äußerlich Produkten aus dem Westen ähnlich. Er konnte auch mit "MS-DOS" von Microsoft betrieben werden. Statt wie normal mit zwei 5,25"-Diskettenlaufwerken und einer Festplatte ist dieser ohne Festplatte aber dafür mit vier Diskettenlaufwerken ausgerüstet. Diese Version wurde vermutlich konzipiert, weil Festplatten teuer und selten waren.
Marke Eigenbau: Der ehemalige Getränkemarkt in Halle an der Saale beherbergt jede Menge ausrangierte DDR-Technik. Im Vordergrund ist ein selbstgebastelter Heimcomputer aus der DDR zu sehen. Wer keine Verwandtschaft in West-Deutschland hatte, die eventuell einen Computer in den Osten schicken konnte, musste sich in der DDR meist selber einen bauen. Im Hintergrund sind Wolfram Weigt, links, und Sebastian Czech, rechts, von der Digital AG zu sehen.
Lohn der Mühsal: Einst standen diese Apparate im Braunkohlekraftwerk Thierbach bei Leipzig. In jahrelanger Kleinarbeit hat die Digital AG die unvollständige Anlage mithilfe von Software, Dokumenten und Komponenten aus anderen Städten wieder instand gesetzt.
Massiver Einsatz: Ohne die entsprechende Software lässt sich die reparierte Rechentechnik nicht wieder in Betrieb zu setzen. Hier sind Wechselplatten, die in der DDR Kassettenplatten genannt wurden, und Magnetbänder zu sehen.
Harte Nuss: Dieser elektronische Buchungsautomat vom Typ "Ascota 1355" wurde im Maschinenwerk Karl-Marx-Stadt hergestellt. Das Gerät stammt aus einer Gärtnerei in Pößneck. Momentan weiß die Digital AG nicht recht, wie sie das Gerät reparieren kann. Aber aufgeben will sie auf keinen Fall.
Exklusiv: Teuer und selten waren die Rechner vom Typ "KC87_02", die heute als "klassische" Heimcomputer der DDR gelten. Sie waren fast ausschließlich "gesellschaftlichen Bedarfsträgern" vorbehalten. Also für Lehreinrichtungen wie Schulen, Universitäten oder eben Betriebe gedacht. Dass bis zur Wende dennoch einige Tausend Geräte in Privatbesitz gelangten, lässt sich deutlich an den zahlreichen Artikeln zu Erweiterungs- und Modifikationsmöglichkeiten in Fachzeitschriften ablesen. Erweiterbar war der KC mit einer Vielzahl an Modulen (Speicher, Programme, Schnittstellen). Das Gerät ist wieder funktionstüchtig und wartet, wie alle anderen Maschinen der Digital AG, auf Besucher, die es benutzen und erforschen wollen.
Externe Festplatte: Dieses Gerät ist der Peripheriespeicher eines Großrechners. Oben rechts wird der Wechselplattenstapel eingesetzt. Der Plattenstapel besteht aus zehn einzelnen Platten, besitzt ein Gewicht von fast fünf Kilogramm und eine Kapazität von 29 Megabyte. Baujahr des Geräts war 1988. Momentan arbeitet die Digital AG an der Wiederinbetriebnahme.
Stromsparer: Dieses mikroprozessorgesteuerte Gerät diente in Betrieben mit größerem Energieverbrauch wie Großbäckereien oder Gießereien der Energieverbrauchserfassung und -steuerung. Je nach Tageszeit oder Lastregime konnten Verbraucher "abgeworfen" werden. Das Gerät ist betriebsbereit. Es stammt aus einem Mühlenwerk in Zeitz.
Sperrmüllfund: Dieser 9-Nadel-Drucker vom Typ "Soemtron K6319" war Anfang 1990 einer der letzten Verkaufserfolge des Büromaschinenwerks Sömmerda. Diese Drucker waren mit einer Vielzahl von Schnittstellenmodulen ausrüstbar und wurden in Katalogen in der Bundesrepublik unter anderem als Zubehör für Computer von "Commodore" angeboten. Der Drucker wurde 1992 in Halle-Silberhöhe vom Sperrmüll gerettet und ist wieder betriebsbereit.
Kohle her: Banken und Postfilialen setzten diesen Robotron "SLE K6501" zum Schreiben und Lesen mit Magnetkarten ein. Ab 1987 begann die DDR mit dem Einsatz von Geldautomaten. Entsprechend waren die heute noch bekannten Magnetkarten im Einsatz. Das Gerät wird über eine Steckkarte mit einem Bürocomputer oder einem Schalterterminal verbunden. Es stammt von einem lokalen Schrottplatz und funktioniert noch.
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