
Fluchthelfer: Im Kofferraum raus aus der DDR
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Fluchthilfe aus der DDR Unter Brüdern
Dutzende Male war es gut gegangen. Im Kofferraum eines Diplomatenfahrzeugs, das normalerweise am Grenzübergang nicht kontrolliert wurde, hatten es bereits mehr als 60 DDR-Bürger nach West-Berlin geschafft. Doch am 9. September 1966 wurde Kamal Hamdi, syrischer Konsul in Ost-Berlin, am Checkpoint Charlie gefilzt und ein Ehepaar im Versteck entdeckt. Die Flucht organisiert hatte Volker Heinz, der 23-jährige Student wurde bei der Ausreise am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße verhaftet.
Heinz war einer der zahlreichen Fluchthelfer, die seit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 Ostdeutsche auf abenteuerlichen Wegen in den Westen holten: mit falschen Pässen oder geliehenen Ausweisen, in umgebauten Autos, durch Abwasserkanäle oder unter der Sektorengrenze gegrabene Tunnel. Die Fluchthelfer, aus Sicht der DDR-Machthaber nur "kriminelle Menschenhändler", riskierten ihre Freiheit, oft auch ihr Leben. Hunderte wurden gefasst und in Schauprozessen zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, die sie großteils auch absitzen mussten.

Volker G. Heinz
Foto: Corps/ Bodo VitusVolker Heinz indes kam schon zehn Monate nach seiner Festnahme frei, zwei Wochen nach der Verurteilung zu zwölf Jahren Zuchthaus wegen "fortgesetzter Verleitung zum illegalen Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik". Die rasche Freilassung verdankte Heinz einem prominenten "Alten Herrn" seiner Studentenverbindung Suevia Heidelberg: Hanns Martin Schleyer war zu dieser Zeit Daimler-Benz-Vorstandsmitglied. Später wurde er Präsident des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände und 1977 von der terroristischen "Rote Armee Fraktion" entführt und ermordet .
"Ich fand den Mut dieser Leute umwerfend"
Schleyer setzte sich für Volker Heinz bei seinem Corpsbruder Werner Knieper ein, damals Chef des Kanzleramts unter Kurt Georg Kiesinger. Knieper erreichte, dass Heinz auf der Austauschliste der Bundesregierung für politische Gefangene in der DDR ganz nach oben rückte.
"Das war ein großes Glück, aber auch irgendwie absurd", sagte Volker G. Heinz jetzt in einem Interview mit "Corps", einem Magazin von Studentenverbindungen . Denn er wurde Nutznießer von Anstrengungen der DDR, den KGB-Spion Heinz Felfe aus westdeutscher Haft freizubekommen. Als Doppelagent in der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes war Felfe 1963 zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

Fluchthelfer: Im Kofferraum raus aus der DDR
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In die Fluchthelferszene geriet Volker Heinz zufällig. Nach drei Semestern in Heidelberg kam er im Frühjahr 1965 als Jurastudent nach West-Berlin und bot spontan seine Mithilfe an, als er einen Fluchthelfer kennenlernte. "Ich war fasziniert, fand den Mut dieser Leute umwerfend", so Heinz im "Corps"-Interview.
Es war seine Idee, ein Diplomatenfahrzeug für den Menschenschmuggel zu nutzen. Heinz gewann dafür den syrischen Konsul, der gern sein schmales Salär aufbessern wollte. Für Kamal Hamdi wurde ein gebrauchter weißer Mercedes 220 angeschafft und die Hinterachse verstärkt, damit die menschliche Last im Kofferraum nicht durch ein tief liegendes Heck auffiel. Heinz schickte Kuriere zu den Fluchtwilligen und dirigierte sie in abgelegene Gegenden Ost-Berlins, wo sie dann unter seiner Obhut unauffällig in den Mercedes kriechen konnten. Mit seinem Tagesvisum reiste er anschließend wieder aus.
Seine Eltern weihte Heinz nicht in die hochriskante Tätigkeit ein und offenbarte sich allein seinem Corpsbruder Schleyer, mit dessen Sohn Hanns-Eberhard, ebenfalls Mitglied der Suevia Heidelberg, er befreundet war. Bei einer "Semesterantrittskneipe" erzählte er Hanns Martin Schleyer von seinen Fluchthilfeaktionen; 14 DDR-Bürger seien schon auf diese Weise in den Westen gekommen.
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Schleyer hörte sich den Bericht an und sagte nur, es gebe "da etwas, was sich vielleicht mit deinen Tätigkeiten verknüpfen lässt". Einige Tage später, so schilderte es Heinz 2016 in seinem Buch "Der Preis der Freiheit", habe sich Schleyer bei ihm gemeldet. Die Schwester eines Corpsbruders und ihr Ehemann, ein Arzt, wollten mit ihren vier Kindern die DDR verlassen. Das barg besondere Gefahren: Die Familie musste bei zwei Fahrten über die Grenze gebracht werden, und eines der Kinder war erst etwa zwei Jahre alt, weshalb es der Vater während der Aktion mit Medikamenten ruhigstellte.
Messungen am Diplomatenfahrzeug
Bei dieser Gelegenheit, so schildert es Heinz, habe er erstmals erfahren, dass Wolfgang Fuchs, der Chef seiner Fluchthelfergruppe, Geld für die Schleusungen verlangte - in diesem Fall 75.000 Mark für fünf Personen, das Kleinkind durfte gratis mit.
Doch bald beobachtete die DDR-Staatssicherheit Volker Heinz. Hinweise auf seine Identität gaben ein in die Fuchs-Gruppe eingeschleuster Spion und ein zurückgekehrter DDR-Flüchtling, den die Stasi in die Mangel genommen hatte. Zudem hatte die Stasi seit geraumer Zeit bei jeder Ein- und Ausreise privilegierter Personen, die an der Grenze nicht kontrolliert wurden, mit einem optischen Gerät den Abstand zwischen Fahrzeug-Unterboden und Straße sowie den Winkel der Hinterräder zur Senkrechten gemessen. In langen Listen wurde jedes ein- und ausfahrende Auto samt Nummernschild und Messergebnis notiert. Man filterte die Daten verdächtiger Wagen heraus und glich sie mit den Visa-Listen eingereister Westdeutscher ab.

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So fiel Hamdis Mercedes auf, und auch Heinz wurde überführt. Nach seiner Festnahme informierte ein Mitglied der Fuchs-Gruppe den Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel sowie Schleyer und die Eltern von Heinz. Vogel verhandelte für die DDR mit der Bundesregierung über den Austausch inhaftierter Agenten und den Freikauf politischer Gefangener. Er versuchte sofort, Heinz als Tauschobjekt für den KGB-Maulwurf Felfe ins Spiel zu bringen. Die Sowjets drängten auf Felfes Freilassung, aber da er erst einen kleinen Teil seiner Strafe verbüßt hatte, weigerte sich die Bundesregierung beharrlich. Zudem war der idealistische Fluchthelfer Heinz ein kleiner Fisch neben dem ausgebufften Topspion.
Immerhin erreichte Vogel die Begnadigung eines KGB-Komplizen Felfes im Sommer 1967. Im Gegenzug entließ die DDR am 11. Juli 1967 Volker Heinz und 15 inhaftierte Gefährten. Heinz wurde an der innerdeutschen Grenze bei Herleshausen seinen Eltern übergeben, legte nun zügig seine juristischen Examen ab und wurde Rechtsanwalt.
Zerwürfnis über Schleyers Nazi-Vergangenheit
Nach der gescheiterten Flucht im Kofferraum wurde das geschnappte Ehepaar zu je vier Jahren Gefängnis verurteilt und nach zweieinhalb Jahren von der Bundesregierung freigekauft. Konsul Hamdi wurde aus der DDR ausgewiesen und konnte seinem Stasi-Bewacher, der ihn nach Damaskus bringen sollte, bei einer Zwischenlandung auf Zypern entkommen. Hamdi floh in die Bundesrepublik und erhielt Asyl. In Syrien wurde er, wie das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" am 18. Oktober 1967 meldete, in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Als Volker Heinz freikam, wusste er noch nicht, dass Hanns-Martin Schleyer einst ein überzeugter Nationalsozialist gewesen war. Erst als er in den Siebzigerjahren die Geschichte des Corps Suevia erforschte, sei er auch auf Schleyers braune Vergangenheit gestoßen, berichtete Heinz dem SPIEGEL.
Schleyer war 1933 in die SS eingetreten, ebenso in das Corps Suevia und den NS-Studentenbund. Als die Suevia sich weigerte, zwei jüdische "Alte Herren" aus ihren Reihen auszuschließen, erklärte Schleyer 1935 öffentlich seinen Austritt, weil er nicht verstehen könne, "dass ein Corps aus der Auflage, zwei Juden aus der Gemeinschaft zu entfernen, eine Existenzfrage macht". Im besetzten Prag wirkte Schleyer maßgeblich daran mit, dass die tschechische Wirtschaft mit brutaler Zwangsarbeit in den Dienst der deutschen Rüstungsindustrie gestellt wurde. Erst 1958 wurde er gegen den Widerstand vieler Corpsbrüder wieder in die Suevia aufgenommen.
Diese Erkenntnis, sagt Heinz, habe ihn in einen "tiefen inneren Zwist" gestürzt. Einerseits habe er "große Dankbarkeit" für Schleyers Hilfe empfunden, andererseits habe ihn dessen fanatischer Antisemitismus angewidert. Heinz verließ die Suevia, die Schleyers Rolle in der Nazizeit lange vertuscht hatte.
Erst in den Neunzigerjahren wurde er wieder Mitglied. Mit Schleyers Sohn sorgte Volker G. Heinz dafür, dass im Suevia-Corpshaus neben Gedenktafeln für die Kriegsgefallenen der Verbindung auch eine für die 35 ausgeschlossenen jüdischen Corpsbrüder angebracht wurde.