Stillstand in der DDR
Arbeiter und Bauern, erstarrt
Wie festgefroren scheint die Zeit in der DDR der Achtzigerjahre. Fotograf Gerhard Gäbler hat damit sein Thema gefunden. Er porträtierte eine Gesellschaft im Stillstand. Hier sind seine Bilder.
Die DDR der Achtzigerjahre ist ein Land im Wartezustand. Seine Bürger warten in langen Reihen vor dem Delikatessenladen, sie warten auf eine Wohnung, einen Trabi, eine Zulassung zum Studium, das Ende der Schicht im Backwarenkombinat oder auf den Ausreiseantrag. Sie warten auf Veränderung.
Gerhard Gäbler, Fotograf aus Leipzig, hat dieses Warten in Schwarzweißbildern konserviert. Seit 40 Jahren beobachtet er die Menschen in seiner Umgebung und drückt im richtigen Augenblick auf den Auslöser: In dem Moment inniger Nähe zum Beispiel, wenn ein junges Paar im D-Zug gerade eingeschlafen ist. Und in Momenten historischer Einzigartigkeit, als am 22. Dezember 1989 das Brandenburger Tor wieder geöffnet wird und ein junger Mann in Kleidchen und Engelsflügeln den Korken knallen lässt.
Gäbler arbeitete 1976 in einer Chemiefabrik bei Leipzig, als er nebenbei mit dem Fotografieren begann. Bald schon fand er sein Thema: "Ich hatte nicht die Absicht, Naturstudien zu betreiben, vielmehr verfolgte ich das Ziel, das Porträt einer Gesellschaft zu erstellen."
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Einer Gesellschaft, die es so heute nicht mehr gibt. Die Menschen, die für eine Dose Ananas Schlange standen, sind Vergangenheit, ebenso die Fahnenweihe beim Sportfest, die Politiker, die sich zum 1. Mai auf den Tribünen des Landes bejubeln ließen, und die Rentner mit prall gefüllten Taschen, die von einem Westbesuch zurückkehrten.
143 Momente aus der Zeit zwischen 1978 und 1990 zeigt Gäbler in seinem Bildband "Zeit ohne Wiederkehr", der gerade auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurde. Es ist eine persönliche Langzeitstudie. Sie zeigt Momente des Alltags, als die Wende noch nicht abzusehen war, und die Zeit danach, als das Schlangestehen wieder begann: Vor den Banken, um die ersten D-Mark-Bündel abzuholen, an der Grenze in den Westen, am Leipziger Marktplatz beim Warten auf den neuen Beate-Uhse-Katalog.
Zeitweise brachte sich Gäbler für seine Fotos in Gefahr. Als am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, die Volkspolizisten mit Helm, Schild und Schlagstock an den Straßenecken Wache hielten, fotografierte Gäbler sie heimlich, die Kamera unter seinem Mantel versteckt. Einige Monate zuvor, im Januar 1989, war er bei einer Gedenkveranstaltung für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verhaftet worden. Auch dort hatte er fotografiert, das war verboten. Bevor er zum Verhör gerufen wurde, konnte Gäbler den Film in der Kamera gerade noch durch einen neuen ersetzen.
Zeit für Spiele:
Natürlich geht es so viel schneller. Die leeren Bierfässer sind zwar immer noch ziemlich schwer, das stört die beiden Hünen - fotografiert 1983 in Altenburg - aber nicht.
Foto: Gerhard Gäbler
Gäblers Bilder zeigen die Trostlosigkeit des Sozialismus, die Eintönigkeit der Plattenbauten, die Ödnis in den Städten, in denen manche Viertel in den Achtzigerjahren noch so aussehen, als sei der Krieg gerade erst vorbei. Viele versuchten, vor dieser Tristesse zu fliehen. Gäbler nicht. "Ich wollte keinen Ausreiseantrag stellen und einfach gehen", sagt er heute. "Ich konnte nicht anders, als bewusst das durchleben, was da passiert."
Deswegen nahm er besonders die Nischen im Alltag in den Fokus, in denen die Menschen Veränderung suchten: Einen Punk, der mitten in Leipzig in einen Springbrunnen hüpft, ein Kind, das vor Plattenbauten Ski fährt, und natürlich die entschlossenen Menschen auf den Straßen, die die Mauer zu Fall bringen wollten.
Auch hier war Gäbler dabei. Am 9. Oktober 1989 steht er in einem neunstöckigen Plattenbau in der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofs und hält einen der entscheidenden Momente der friedlichen Revolution fest: als die Volkspolizei zum ersten Mal den Weg um den Leipziger Innenstadtring frei gibt für die 70.000 Demonstranten.
Gäbler hat viele solcher Bilder geschossen, die große Momente der Wendezeit festhalten. Doch ihm sind die "stillen Bilder" viel wichtiger, die oft übersehen werden. Wie seine Aufnahmen von den Kandidatinnen der ersten Leipziger Miss-Wahl. Er fotografierte sie zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz, ganz normale, junge Frauen, die ihren eigenen Weg suchten, aus der bleiernen Schwere ihrer Zeit zu entkommen.
Und das Warten ging weiter. Nach der Wende warteten die Menschen darauf, dass westdeutsche Politiker ihre Wahlversprechen erfüllen. Dass nun alles besser wird, dass die große Freiheit endlich kommt.
20 BilderDDR-Fotograf Gäbler: Das Warten geht weiter
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Todmüde: Wolfgang S. arbeitet als Kraftfahrer, ein anstrengender Job. Er ist froh, als er 1989 endlich eine Bleibe gefunden hat. Sie ist noch nicht renoviert und kaum eingerichtet, aber mehr können DDR-Bürger bei dem Wohnungsmangel der Achtzigerjahre kaum erwarten. Dieses Foto nahm Gäbler als Teil seiner Serie "Sofabilder 88/89" auf. Wolfgang S. wollte sich auf seinem Sofa fotografieren lassen - und schlief prompt dabei ein.
Foto: Gerhard Gäbler
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Ein zärtlicher Moment: Vom Rattern der Räder und dem Schaukeln des Wagons sind diese beiden Menschen eng aneinander gekuschelt eingeschlafen. Gerhard Gäbler hält den Moment aus der Distanz fest, ohne in diesen friedlichen Bereich einzudringen. Seine Kamera zeigt den Blick eines Reisenden, der selbst vielleicht bald vom Schaukeln des Wagons eingelullt wird.
Foto: Gerhard Gäbler
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Spaß auf dem Sofa: Ein Bild aus Gäblers Serie "Sofabilder 88/89" - und eines, das sich abhebt von allen anderen. Nicht nur, weil das Paar auf der Couch viel fröhlicher wirkt als die meisten anderen Protagonisten der Sofabilder. Sondern auch, weil diese beiden Menschen in Gäblers Leben einen wichtigen Platz einnehmen: Es sind seine Eltern.
Foto: Gerhard Gäbler
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Fahrtüchtig: Die DDR - ein Land in Wartestellung. Manche Häuserruine wartet in Leipzig auch 1981 noch auf eine Renovierung. Und die Menschen warten bis zu zehn Jahre auf einen Neuwagen. Glücklich muss das Paar sein, das einen gebrauchten Trabi abbekommen hat. Mit ein bisschen technischem Geschick wird er wieder flott gemacht.
Foto: Gerhard Gäbler
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Ohne Wiederkehr: Eythra war ein Dorf südlich von Leipzig. Mitte der Achtziger musste es dem Braunkohlebergbau weichen. Geblieben sind nur ein paar Säulen, die einst zum Schloss Eythra gehörten und heute an das Dorf erinnern. Drei Jahre, nachdem die letzten Bewohner aus Eythra umgesiedelt worden waren, ging auch die DDR unter.
Foto: Gerhard Gäbler
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Ein Blick in die Vergangenheit: Als ein blonder Junge gerade seinen Ball gegen eine Ziegelwand brettert, drückt Gerhard Gäbler auf den Auslöser. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1978. Doch die Häuser sehen aus, als sei der Krieg erst seit wenigen Jahren vorbei. Den Kindern ist es egal. Sie können auch zwischen Ruinen Fußball spielen.
Foto: Gerhard Gäbler
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Sonderangebot: Delikatessen wie Orangen oder Dosen mit Ananas sind für DDR-Bürger eine Seltenheit. Doch während der Mustermesse in Leipzig, wie hier 1985, sind die Delikatessengeschäfte besser gefüllt als sonst. Da lohnt sich auch das Schlangestehen. Warten, das war man ja gewohnt.
Foto: Gerhard Gäbler
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Porträt am Arbeitsplatz: 1989 fand die erste Leipziger Miss-Wahl statt. Gerhard Gäbler hatte allerdings kein Interesse an den jungen Mädchen in Bikini und knappem Kostüm. Er interessierte sich für die Mädchen in ihrem echten Leben. Für eine Bilderserie fotografierte er die Kandidatinnen zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz - so wie hier im VEB Backwarenkombinat, wo Salzstangen vom Fließband rutschen. 18 Jahre später besuchte er die Frauen noch einmal gemeinsam mit Regisseur Gunther Scholz für den Dokumentarfilm "Sag mir, wo die Schönen sind".
Foto: Gerhard Gäbler
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Trotz allem: In einem Land, in dem Protest und Aufbegehren im Gefängnis enden oder die Drangsalierung von Verwandten und Freunden zur Folge haben konnte, waren Punks mehr als eine farbenfrohe Subkultur. Sie gründeten Bands wie (R)ostblock oder Happy Cadavres, deren Namen allein schon zeigten, was sie von dem DDR-Staat hielten. Sie flohen mit Iro und grellen Klamotten vor der Eintönigkeit der Pionier-Uniformen. Sie wollten Spaß haben - egal was die Nachbarn sagen.
Foto: Gerhard Gäbler
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Jubelveranstaltung: Gerhard Gäbler reihte sich gleich zwei Mal in den Zug ein, der in Ost-Berlin am 1. Mai unter den DDR-Größen vorbeizog. Er wollte diesen Moment festhalten: Wie Egon Krenz, damals hinter Erich Honecker noch zweiter Mann im Staat, mit verstörendem Grinsen der Menge vor der Tribüne zuwinkt und wie Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, sich nicht einmal ein Lächeln abringen kann.
Foto: Gerhard Gäbler
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Winterspaß: Wer nicht in die Alpen fahren darf, muss sich anders helfen. Wo auch immer ein Hügel zugeschneit war, düsten Kinder auf Schlitten und Skiern die wenigen Meter den Abhang hinunter. Und vergaßen eine Zeit lang die triste Kulisse aus sozialistischen Plattenbauten.
Foto: Gerhard Gäbler
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Vorkriegswerbung: Der Schriftzug "Kaiser Brikett" ist fast verblichen und ganz sicher nicht mehr "Hier zu haben". Die Werbeanzeige, mit beständiger Farbe an die Hauswand gepinselt, stammt noch aus der Zeit vor dem Krieg. Sie hat bis 1985 überdauert. Vergangen ist das Wirtschaftssystem von damals, nun herrscht der Sozialismus. Und der braucht keine Werbung.
Foto: Gerhard Gäbler
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Zeichen des Protests: Der Jugendverband FDJ hatte das Konzert mit Bruce Springsteen 1988 eigentlich organisiert, um sich bei den Jugendlichen im Land wieder beliebter zu machen. Doch dann wurde das Konzert in Ost-Berlin zur Bühne des Protests. Ein junger Mann schwenkt eine Amerika-Flagge über den Köpfen Tausender Zuschauer. Ein Zeichen des nahenden Umbruchs.
Foto: Gerhard Gäbler
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Historischer Moment: An diesem 9. Oktober 1989 entscheidet sich alles. Werden die Polizisten schießen, die an den Straßenecken in voller Kampfmontur lauern? Werden die Panzer in den Seitenstraßen ein Blutbad anrichten, wie nur wenige Monate zuvor in Peking auf dem Platz des himmlischen Friedens? Es ist ein Wendepunkt: An dieser Kreuzung wurde der Zug in den Wochen zuvor immer aufgehalten. An diesem Tag gab die Staatsmacht dem Druck nach und ließ die 70.000 Demonstranten um den Leipziger Innenstadtring ziehen.
Foto: Gerhard Gäbler
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Nichts gesehen: Oben stehen sie noch, die Soldaten der Nationalen Volksarmee, und bewachen eine Grenze, die seit einem Tag löchrig geworden ist. Am 9. November 1989 stürmen Tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen, fordern Reisefreiheit, lassen sich ihre Pässe stempeln, wollen einfach nur mal kurz in den Westen. Auch Tage später tobt die Euphorie weiter. Die Mauer ist zerbrochen, sie ist kein Hindernis mehr, bald ist sie Geschichte.
Foto: Gerhard Gäbler
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Freudentaumel: Ein Moment, den niemand planen könnte. Gerhard Gäbler drückt genau in dem Moment auf den Auslöser, als der Mann in Kleidchen und Engelsflügen den Korken knallen lässt. Es ist der 22. Dezember 1989, der Tag, an dem auch das Brandenburger Tor endlich geöffnet wird. Ein Tag, an dem es trotz Nieselwetter und Sektregen kein Halten mehr gibt.
Foto: Gerhard Gäbler
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Neue Töne: Auf der Tribüne steht jetzt ein anderer. Helmut Kohl hält am 14. März 1990 eine Rede auf dem Platz in Leipzig, der damals noch Karl-Marx-Platz heißt. Der Mauerfall ist erst wenige Monate her, Hoffnung hat er gebracht, aber sonst noch nicht viel Neues. Nun kommen die westdeutschen Parteien und kämpfen um Wählerstimmen im Osten. Wenn der Sozialismus niedergerungen ist, vielleicht hat ja dann das Warten ein Ende.
Foto: Gerhard Gäbler
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Das gab es bis dahin noch nicht: Eine Werbeveranstaltung für das Beate-Uhse-Versandhaus im März 1990 auf dem Leipziger Marktplatz.
Foto: Gerhard Gäbler
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Warten auf die Mark: Schlangestehen, das gab es in der DDR zur Genüge. Doch diese Schlange könnte eine der letzten sein. Im Juni 1990 stehen Dutzende Menschen vor einer Sparkasse in Leipzig an, um die ersten Bündel D-Mark abzuholen. Die neue Währung ebnet den Weg in die Zukunft. Der Teerwagen nur die Straße vor der Bank.
Foto: Gerhard Gäbler
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Davongekommen:Wieder so ein Glücksmoment im Fotografenleben. Und sicher auch im Leben des Fahrers, der nur mit einer Kopfverletzung aus seinem Auto gekrochen war. Gerhard Gäbler schießt das Foto in dem Moment, als der frisch verbundene Fahrer gerade noch Aktentasche und Jacke aus dem zerstörten Wartburg holt. Einen neuen wird er sich wohl nicht kaufen. Wartburg und Trabi sind ein Relikt aus einer untergehenden Epoche. Und nicht jeder schafft es unbeschadet in die Zukunft.
Foto: Gerhard Gäbler
Zeit für Spiele:
Natürlich geht es so viel schneller. Die leeren Bierfässer sind zwar immer noch ziemlich schwer, das stört die beiden Hünen - fotografiert 1983 in Altenburg - aber nicht.