
Mauer weg, DDR-Klubs noch da: Hoffen auf den Uefa-Pokal
DDR-Fußballklubs im Europacup Cup der enttäuschten Hoffnung
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Rund 200 Kilometer sind bewältigt, als bei Frankfurt an der Oder die Klimaanlage ausfällt. Der Fahrer würde die Reise an diesem 29. September 1991 am liebsten abbrechen, doch die Fahrgäste drohen ihm: »Wenn du jetzt umkehrst, stecken wir deinen Bus in Brand.« Also fährt er weiter. Heiß soll es auf den folgenden 1800 Kilometern nur noch selten werden – dafür bitterkalt.
Im Bus sitzen 24 Fans aus Halle an der Saale, unter ihnen Ronny Pfeiffer, 19 Jahre alt, und sein Freund, den alle nur »Mond« nennen. Die Mauer ist weg, die DDR Geschichte. Auch der Fußballverband des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates hat sich längst aufgelöst. Und doch treten in diesem Herbst 1991 im Europacup ein letztes Mal ostdeutsche Klubs an, die sich über die DDR-Oberliga qualifiziert haben.
Es ist ein skurriler Abschied, dem jede Menge Hoffnung innewohnt. Und an den sich Zeitzeugen wie Ronny Pfeiffer und HFC-Spieler Lutz Schülbe noch heute gut erinnern.
Zum ersten Mal seit 20 Jahren ist der Hallesche FC (HFC) wieder im Europacup, alles scheint möglich. Der HFC hat gerade eine seiner besten Saisons gespielt. Die Mannschaft um Dariusz Wosz, René Tretschok und Schülbe war in der letzten Oberligasaison der DDR Vierter geworden. Damit qualifizierte sie sich für den Uefa-Cup und die Zweite Bundesliga.
Stürmer Schülbe war damals 29 Jahre alt. In der Vorsaison war er mit 13 Toren zweitbester Torschütze der Liga. Seit 1985 war er in Halle, vorher, schon mit knapp 20, hatte er mit Dynamo Dresden bereits international gespielt. »Mich hat Europa 1991 nicht mehr verrückt gemacht«, sagt er im Interview. Dennoch sei es mit Halle etwas Besonderes gewesen. »Wir waren geil darauf, es zu schaffen, vor allem wegen der tragischen Vorgeschichte.«

Mauer weg, DDR-Klubs noch da: Hoffen auf den Uefa-Pokal
20 Jahre zuvor, im Herbst 1971, hatten sich die Hallenser zuletzt für den Uefa-Cup qualifiziert, zum zweiten Mal in ihrer Vereinsgeschichte. Damals aber führte der Wettbewerb den Verein nicht zu internationalem Ruhm, sondern in die Katastrophe.
Die Hallenser Elf trat gegen die PSV Eindhoven an. Nach einem 0:0 im Hinspiel in Halle rechneten sich die Spieler Chancen aufs Weiterkommen aus. Doch zum Rückspiel in Eindhoven kam es nicht mehr.
Am frühen Morgen vor dem Rückspiel, am 29. September, brach im Mannschaftshotel ein Feuer aus. Zwölf Hotelgäste starben, darunter der erst 21-jährige Stürmer Wolfgang Hoffmann. Vereinslegende Klaus Urbanczyk rettete mehrere Menschen aus den Flammen, verletzte sich beim Sprung aus einem Fenster jedoch schwer. Der HFC verzichtete aufs Rückspiel, Eindhoven zog kampflos in die nächste Runde ein.
HFC-Fan Ronny Pfeiffer
Im Herbst 1991 spielte der HFC endlich wieder auf der großen Bühne mit. »Wir wussten, es ist wahrscheinlich das erste und letzte Mal die Chance, so etwas zu erleben«, sagt HFC-Fan Ronny Pfeiffer rückblickend. Für ihn und seinen Freund »Mond« stand deshalb damals fest: Wir fahren mit, egal wohin.
Lauter Knall bei Dynamo
Im internationalen Vergleich war der DDR-Vereinsfußball meist nur Mittelmaß. »Der Fußball der DDR war nie Weltklasse, aber gemessen an der Größe unseres Landes und der Profikonkurrenz der westlichen Welt war er angemessen erfolgreich«, sagte der gebürtige Jenaer und frühere Bundesligatrainer Hans Meyer 2019 der »Zeit«.
1974 gewann der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger gegen den AC Milan – es blieb der einzige internationale Erfolg eines DDR-Vereins. Ganz nah dran waren DDR-Klubs jedoch mehrmals: 1962 erreichte Pokalsieger SC Motor Jena das Halbfinale, 1981 scheiterte der Nachfolgeklub FC Carl Zeiss erst im Finale an Dinamo Tiflis. 1987 kam Lokomotive Leipzig ebenfalls ins Endspiel, unterlag aber Ajax Amsterdam.

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Vor allem Dynamo Dresden scheiterte mehrmals aufsehenerregend: 1985 und 1986 unterlag der Verein jeweils im Viertelfinalrückspiel des Europapokals, 1989 schafften es die Dresdner sogar bis ins Halbfinale. Im März 1991 verließ Dynamo die internationale Bühne mit einem lauten Knall: Das Viertelfinalrückspiel des Landesmeistercups gegen Roter Stern Belgrad brach der Schiedsrichter wegen Fanausschreitungen ab, die Partie wurde für Belgrad gewertet. Die Jugoslawen gewannen schließlich den Pokal, Dynamo wurde für zwei Jahre international gesperrt.
Vorwärts in die Vergangenheit
Nur wegen der Sperre der Dresdner qualifizierte sich der Hallesche FC als Vierter überhaupt für den Europacup. Losglück war dem HFC allerdings nicht beschert: Während Meister Hansa Rostock auf den FC Barcelona traf, Pokalfinalist Eisenhüttenstadt auf Galatasaray Istanbul und der Drittplatzierte FC Rot-Weiß Erfurt erst den FC Groningen rauswarf und dann an Ajax Amsterdam scheiterte, stand für die Hallenser eine Reise in die Vergangenheit an.
Denn ihr Gegner war Torpedo Moskau – knapp zwei Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs alles andere als ein Wunschlos. »Ausgerechnet Moskau«, habe er sich damals gedacht, erzählt Stürmer Lutz Schülbe, »gegen die Russen hast du vorher schon gefühlt 50 Mal gespielt, aber scheiß drauf, das ist Uefa-Cup.« So pragmatisch dachten damals nicht viele in Halle. In einer Zeit, als sich der Alltag und alle Gewissheiten in Luft auflösten, schien Fußball nebensächlich.
Das zeigte sich auch beim Hinspiel im Kurt-Wabbel-Stadion am 18. September 1991: »An dem Abend waren beim Aufwärmen nur drei Ordner im Stadion. Da fragst du dich, was ist hier los?« Nur 3.700 Zuschauer kamen und sahen den 2:1-Sieg. Die HFC-Fans Ronny und »Mond« wollten dennoch zum Rückspiel nach Moskau reisen, das am 1. Oktober anstand.
Im Stadionmagazin hatten sie erfahren, dass es noch Plätze für eine Busfahrt gab. Als Ronny beim Treffpunkt am Hauptbahnhof mit zwei Sporttaschen voll Wurst, Brot und Frikadellen auftauchte, lachten die anderen noch. Der Busfahrer hatte schließlich Würstchen und Bier für alle an Bord. Aber schon bald waren sie dankbar für seine Vorsicht.
Westgeld und Größenwahn
Während die Mannschaft binnen wenigen Stunden nach Moskau flog, ging es für die Fans auf eine dreitägige Busfahrt über 2000 Kilometer. Auch ohne funktionierende Klimaanlage herrschte Aufbruchstimmung. Die Taschen voller Westgeld und die Köpfe voller Größenwahn reisten sie in die Sowjetunion.

Aufbruch voller Hoffnung: 24 HFC-Fans auf dem Weg nach Moskau
Foto: privatArroganz und Aufmüpfigkeit vermischten sich mit Nationalismus. Aus den Lautsprechern leierte Rechtsrock, bis der Busfahrer genug davon hatte. Und kurz hinter der polnischen Grenze hängte einer die Reichskriegsflagge ins Rückfenster.
Rechte Gesänge und Symbole waren Anfang der Neunzigerjahre in vielen Fanszenen verbreitet, doch im Osten trat der Rechtsruck besonders deutlich hervor. Mit dem Mauerfall seien alle Tabus gefallen, sagte der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im März 2021 dem »SZ-Magazin«: »Die Fußballstadien waren nicht die Orte, wo dieser seit Jahrzehnten versteckte Hass entstand, aber doch die Orte, wo er sich öffentlich austoben konnte.«
»Könige der Welt«
In Halle war das nicht anders. »Es waren mehr Rechte an Bord als Normale«, berichtet HFC-Fan »Mond« in dem 2007 erschienenen Sammelband »Stadionpartisanen nachgeladen – Fußballfans und Hooligans in der DDR« über die Moskaureise. »Nazis sind für mich Bekloppte, das fand ich damals schon und sehe es heute noch genauso.« Ansonsten habe die Gruppe aus »normalen Arbeiterjungs«, Heavy-Metal-Anhängern sowie einem älteren Ehepaar bestanden.
Auch Ronny hatte zumindest »ein mulmiges Gefühl«, sagt er heute: »Ich bin wahrlich kein Linker, aber das mit der Reichskriegsflagge war auch mir zu viel. Nach allem, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Polen angerichtet hatten.« Erst an der polnisch-sowjetischen Grenze verschwand die Fahne wieder im Gepäck.

Debakel in Moskau: Die Halleschen Kometen 1991
Foto: WEREK / imago imagesMächtig und groß fühlten sie sich dennoch: »Wir haben damals gedacht, wir sind die Könige der Welt«, sagt Ronny. Es endete wie so oft, wenn deutsche Männer gen Osten aufbrechen – im Debakel. »Wir dachten, mit D-Mark sind wir die Größten, deshalb hatten wir nichts umgetauscht«, erzählt »Mond« in »Stadionpartisanen«. Doch die Russen wollten ihr Westgeld nicht, nur Rubel zählten, sagt Ronny: »Wir haben uns nicht einmal eine Kugel Eis kaufen können.«
Die Shoppingtour durchs Kaufhaus GUM fiel ebenso flach wie der Besuch im Lenin-Mausoleum – es war an diesem Tag geschlossen. Vom Roten Platz ging es anschließend per Taxi zum Stadion, zunächst allerdings zum falschen. Trotz allem kamen sie noch rechtzeitig zum Anpfiff. So erlebten sie das Desaster live.
Abstieg in die sechste Liga
Zur Halbzeit stand es bereits 0:2. In der Pause interviewte ein deutsches Fernsehteam die Mitgereisten: »Umsonst sind wir nicht 2000 Kilometer gefahren«, sagte einer. Doch es wurde nicht besser. Zwei Hallenser flogen vom Platz, die Mannschaft verlor 0:3. Und die Fans brüllten: »Wir fliegen heim, und ihr nehmt den Bus!«
So kam es natürlich nicht, es waren schließlich wieder die Fans, die drei Tage lang im Bus saßen. Die Stimmung war im Keller, die Vorräte waren leer, die Kälte im ungeheizten Bus tat ihr Übriges. Doch das Bibbern der ernüchterten Fans war nichts gegen das, was für ihren Verein folgen würde.
Wenige Monate nach der Moskaureise wechselte Dariusz Wosz zum VfL Bochum, Lutz Schülbe war öfter beim Arzt als beim Training. Die Mannschaft konnte die Ausfälle nicht auffangen und stieg ab. In den folgenden zwei Jahrzehnten ging es für den Halleschen FC bis in die sechste Liga hinab. Erst 2012 kehrte der Klub wieder in den Profifußball zurück – mit dem Aufstieg in die dritte Liga.
Die Europapokalfahrt vor 30 Jahren ist heute eine Anekdote in der Halleschen Fußballhistorie. Denn es hat sich bestätigt, was Fan Ronny und andere damals bereits ahnten: So nahe dran an der großen Fußballwelt würden sie für lange Zeit nicht mehr sein.