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Superbunker Tessin: Überleben im Atomkrieg

Foto: Siegfried Wittenburg

DDR-Geheimbunker Warmes Grab im Kalten Krieg

Für einen gigantischen Millionenbetrag baute die DDR ihrer Armee Ende der Sechziger einen Superbunker, in dem Marinesoldaten sogar einen Atomschlag überleben sollten. Der Autor fotografierte den Koloss - eine Zeitreise in den Kalten Krieg.

Alarm! In der ganzen Stadt heulten die Sirenen. Das ungewöhnliche Auf- und Abschwellen des Signals bedeutete nichts Gutes. Für die Zivilbevölkerung hieß es: "Radiogeräte einschalten!" Den Marinesoldaten war das nicht möglich, die Nationale Volksarmee (NVA) erlaubte keine privaten Empfangsgeräte. Die Trillerpfeife des UvD, des Unteroffiziers vom Dienst, ertönte. "Waffenempfang!"

Noch in Unterhosen hasteten die an Land stationierten Matrosen zur Waffenkammer. Zurück in die Stube, rein in die Felddienstuniform, in die Stiefel, Marschgepäck vom Spind schnappen, Stahlhelm auf, Schutzausrüstung greifen und die Treppen runter zum Fahrzeugpark - zehn Minuten, dann meldeten die Fahrzeugführer Marschbereitschaft. Wieder ertönte ein Kommando. "Gas! Vollständige Schutzausrüstung anlegen!" Jetzt wurde es ungemütlich. Gasmaske überstülpen in sechs Sekunden. Die komplette Schutzausrüstung in zwei Minuten. Sekunden später setzte sich eine Truppe von über 200 Gummigespenstern in einer Kolonne von etwa zehn, fünfzehn armeegrünen Fahrzeugen in Bewegung.

Vom Kommando der Volksmarine in Rostock-Gehlsdorf führte die Fahrt über die Autobahn zur F 110, durch das Dorf Sanitz, das Kleinstädtchen Tessin. In einem Waldstück bog die Kolonne in Richtung Laage ab. Nach wenigen Kilometern begann ein Betonplattenweg. Es erschienen ein Doppelzaun und ein Schild. "Sperrgebiet. Unbefugten ist das Betreten, Befahren und die bildliche Darstellung verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft." Dann der Schlagbaum. Dahinter kamen ein Wach-, ein dreigeschossiges Unterkunfts- und weitere Nebengebäude in Sicht.

Geheime Verschlusssache

Die Kolonne stoppte auf einer Betonfläche. "Absitzen!" Die Zeit: 70 Minuten nach Auslösung des Gefechtsalarms. Weitere Gummigespenster in Schutzanzügen wiesen den Weg in den Wald hinein. Plötzlich eine Treppe, zwölf Meter in die Tiefe. Unten eine tonnenschwere Stahltür, ein Gang öffnet sich, eine Schleusenzone, vier weitere schwere Stahltüren. Nach weiteren 20 Minuten hatte der angeblich atomschlagsichere Bunker die Führungskräfte der DDR-Volksmarine in einer Stärke von 300 Menschen verschluckt. Gesamtzeit 90 Minuten. Die Türen schlossen sich und wurden verriegelt. "Schutzausrüstung ablegen!" Gegenseitig half man sich aus den Anzügen. Alle waren durchgeschwitzt. Die Waffen wurden abgegeben und die Aufgaben verteilt.

So jedenfalls sahen die Planspiele aus. In einem Krieg sollten von hier aus die Flotten ins Gefecht geführt werden. Doch dazu kam es nicht. Nach der politischen Wende in der DDR war der Hauptgefechtsstand der DDR-Volksmarine im mecklenburgischen Tessin militärisch bedeutungslos geworden. 1993 versiegelte die Bundeswehr den Bunker, von dessen Existenz selbst im Städtchen Tessin nur die wenigsten wussten. Erst jetzt, im Sommer 2011 kann das geheimnisvolle Relikt des Kalten Krieges besichtigt werden: eine zweigeschossige Anlage mit einer Nutzfläche von 3000 Quadratmetern, etwa zwei Eishockeyfelder übereinander. Es ist die Einladung zu einer Zeitreise.

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Superbunker Tessin: Überleben im Atomkrieg

Foto: Siegfried Wittenburg

Die beklemmende Atmosphäre, die hier herrschte, ist fast noch spürbar. Es muss warm gewesen sein, unangenehm warm. Ein Thermometer zeigte 34 Grad. Normaltemperatur. Die Wärme erzeugten die elektronischen Geräte, teilweise auf Röhrenbasis, das Rechenzentrum und die Maschinen, die zur Lebenserhaltung dienten, zur Sicherstellung von Luft, Wasser und Nahrung. Eine Wartungseinheit mit einer Stärke von 69 Mann hielt die Anlage rund um die Uhr betriebsbereit. Maximal 15 Prozent der Einheit durften abwesend sein, höchstens fünf Mann im Urlaub oder im Ausgang. Auch zu Weihnachten. "Jederzeit gefechtsbereit!" Es war absolutes Stillschweigen befohlen. GVS. Geheime Verschlusssache.

Nicht in den Atomblitz schauen!

Als der Bunker geplant und gebaut wurde, war heißer Krieg in Vietnam und Kalter Krieg in Europa. Die deutsche Mauer war gerade acht Jahre alt. Planungen und Bau begannen 1969, die Inbetriebnahme fand am 1. Dezember 1974 statt. 62 Millionen Mark der DDR hatte der Bau verschlungen, 100.000 durchschnittliche DDR-Monatslöhne. Europa war damals durch den Eisernen Vorhang geteilt, der vom Nordatlantik in Längsrichtung durch die Ostsee bis zum Schwarzen Meer verlief. Die westliche Ostsee - das war das Operationsgebiet der Schiffe der Volksmarine.

Deutschland, an der Frontlinie zwischen den beiden Militärblöcken Nato und Warschauer Pakt, galt als strategische Spielwiese für atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen. Hier standen sich die Weltmächte gegenüber, bedrohten sich und beschäftigten ganze Heere und Teile der Industrie. In einem Konflikt oder bei einem versehentlichen Schlagabtausch wäre das gesamte Land, Ost wie West, atomar verwüstet worden. Und alle darin lebenden Menschen wären Opfer der Druckwelle, der Hitzewelle, der Radioaktivität geworden. Dreimal tot.

Für die zig Millionen Menschen in Ost und West gab es für den Ernstfall kaum weitere Schutzeinrichtungen. In der DDR wurden Belehrungen durchgeführt: "Nicht in den Atomblitz schauen, eine Deckung suchen und flach auf die Erde legen." Es war so absurd, dass es schon lächerlich wirkte.

Töten, dann sterben

Keine Frage, dass auch die Ostseestadt Rostock und ihre 250.000 Einwohner, mit Umland eine halbe Million Menschen, zum Zielgebiet von Atomraketen der Nato gehörten. Hier befanden sich eine Flottille der Volksmarine, ein Artillerieregiment, ein Mot.-Schützenregiment mit Panzerbataillon, Flugabwehrraketen im Wald, Einrichtungen der Roten Armee sowie ein Jagdbomben- und ein Marinefliegergeschwader vor den Toren der Stadt. Eine Reparaturwerft für Schiffe der Marine und Produktionsbetriebe unter anderem für den militärischen Schiffbau beschäftigten unzählige Menschen.

Die ausgetüftelten Szenarien für einen dritten Weltkrieg liegen bislang weitgehend unter Verschluss. Auf beiden Seiten. Doch es gibt Anzeichen, dass die entsprechenden Bunker in der Reichweite von Atomraketen der Nato ausschließlich zum Führen eines "präemptiven" nuklearen Erstschlags in die Waldböden eingegraben wurden. Es gab nach Einschätzungen von Historikern Bestrebungen, dem Feind drei Minuten zuvorkommen, was ohnehin eine hierarchische Kettenreaktion ausgelöst hätte. "Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter." Eine völlige gegenseitige Vernichtung war eingeplant.

Der erste Bunker mit der höchsten Schutzklasse A war als Hauptführungsstelle des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR in Hennickendorf südlich von Berlin errichtet worden, der zweite bei Tessin in der Nähe Rostocks. Allem Anschein nach wurden sie mit dem Gedanken geplant und gebaut, zu töten und danach selbst zu sterben. Denn wurde die dreieinhalb Tonnen schwere Eingangstür verschlossen, konnte der Bunker im Ernstfall nur noch zum Grab mit einer Galgenfrist von 16 bis 20 Tagen werden, abhängig von der Luftzuführung.

Entscheidung über Leben und Tod

Frischer Sauerstoff ist das am dringendsten benötigte Lebenselixier des Menschen, gefolgt von Wasser und Nahrung. Gewaltige Mengen Luft, die in Behälter gepresst wurden, Filteranlagen und Belüftungssysteme sorgten für eine stete Sauerstoffzufuhr. Für den Fall einer radioaktiven Verseuchung entschied ein Schleusenkommandant darüber, ob der Mensch draußen stirbt oder drinnen, falls er noch an die Tür klopfen konnte. Bei einer Kernwaffendetonation von etwa 25 Kilopond pro Quadratzentimeter, also fünf Tonnen Druckwelle direkt auf die Schädeldecke, würde das Sterben draußen schneller gehen, wogegen die Menschen drinnen durcheinander gewirbelt würden.

Das ist auch der Grund, warum drinnen im Bunker alle technischen Geräte an Federn hängen. Die Fußböden zwischen den neun langen Gängen sind schwingungsgedämpft aufgehängt und federn beim Betreten, dazwischen bis zu 1,5 Meter dicke Betonwände.

Der Dispatcher in der technischen Zentrale, also der "Leitende Ingenieur" des Bunkermaschinenraums, saß in einem Sessel mit Kopflehne und kontrollierte sämtliche technischen Einrichtungen. Für Wasser sorgten riesige Vorratsbehälter und ein eigener Brunnen, um das Nass aus 15 Metern Tiefe zu holen, solange es noch nicht kontaminiert wäre. Für die Stromversorgung liefen drei Dieselaggregate, die wiederum Akkumulatoren für den Notfall speisten. Eine Bunkerkombüse sorgte für die Nahrung. Fleisch, Kartoffeln, Brot und weitere Zutaten bis hin zu Gewürzen lagerten in Vorratsräumen. Die seefahrende Volksmarine hatte Erfahrungen damit. Ein Arzt im Med-Punkt stand bei Beschwerden der Frauen und Männer zur Verfügung. Die Unterkünfte waren eng. Es gab Waschräume, Duschen, Toiletten, eine Offiziers- und eine Mannschaftsmesse.

Die Funktion des Hauptgefechtsstandes war nur einem Zweck untergeordnet: Dem Befehlen der Flotte in Abstimmung mit den militärischen Führungen des Warschauer Pakts. Um befehlen zu können, brauchten der Chef und sein Stab Informationen, über Funk, über Kabel, über eine Rohrpost. Alle Abteilungen arbeiteten der Zentrale zu, einem großen Raum, ausgelegt mit einem Teppich und als Kernstück eine Karte von der westlichen Ostsee. Hier wäre im Falle des Falles über Leben und Tod von Millionen Menschen entschieden worden, in der BRD, in der DDR und in Dänemark.

Wegdämmern unterm Paradies

Den Menschen, die im Falle des Falles gewollt oder ungewollt in diesen Bunker geraten wären, also Offiziere, Meister, Maate, Matrosen, Sekretärinnen, Köche, Techniker, Nachrichtenspezialisten, Fotolaboranten, Ärzte und Krankenschwestern, wäre vermutlich irgendwann ihre Lage bewusst geworden: Draußen in der Stadt hatten sie ihre Angehörigen, ihre Kinder ohne Abschied zurückgelassen. Der Kindergarten, die Schule, die Wohnung lägen womöglich schon in Trümmern, alles Leben verdampft, auch der Hund, die Katze, der Wellensittich. Öffneten sie die tonnenschwere Stahltür, würde sie eine lebensfeindliche, atomare Wüste erwarten. Die stickige Luft würde langsam knapp werden.

Es ist anzunehmen, dass die Menschen im Bunker in dieser Situation näher bei den Lüftungsanlagen zusammengerückt wären. Dort hatte jemand, als der Krieg noch kalt war, einen Raum gemütlich hergerichtet, mit Tapeten und einer Sitzecke. Man sollte nicht merken, wenn der Sauerstoff verbraucht wäre. Man dämmerte einfach langsam weg. Vielleicht hätte jemand eine eingeschmuggelte Flasche Goldbrand dabei. Man erzählte noch etwas, trank, lachte, auch wenn die Wirklichkeit unendlich traurig war. An der Wand hängt ein gerahmtes Bild von einem in der DDR beliebten Cartoonisten aus Frankreich, einem Land des Klassenfeindes. Es zeigt, wie sich Adam und Eva im Paradies lieben. Jean Effel: Die Erschaffung der Welt.

Für 1990 bis 1994 war ein gleich großer und modernisierter Erweiterungsbau geplant. Für weitere 62 Millionen Ost-Mark. Die demokratischen Revolutionen in Osteuropa und der Fall des Eisernen Vorhangs machten die Pläne zunichte. Die Geheimnisträger übrigens wurden nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes und im Zuge der deutschen Einheit nie entpflichtet. Es war einfach vergessen worden. Den Fall, dass der Krieg irgendwann zu Ende sein könnte, sah die Dienstvorschrift nicht vor.

Die ehemalige Anlage der Volksmarine der DDR kann besichtigt werden: Anmeldungen für Führungen werden auf der Homepage bunker-tessin.de entgegengenommen.

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