
Später Schachsieg für die DDR
Karlheinz Schindler / picture alliance / dpa
Fernschach Wie die DDR ihre letzte Medaille gewann
Als sich 1990 auch die letzten Böller und Raketen der deutschen Wiedervereinigung in Schall und Rauch aufgelöst haben, schickt Fritz Baumbach aus Ost-Berlin eine Postkarte Richtung Frankfurt am Main. Darauf hat er seinen nächsten Zug im Fernschach-Duell vermerkt - und eine kurze Notiz: "Lieber Schachfreund! Ich begrüße Sie als Landsmann - kurios, daß Landsleute in verschiedenen Mannschaften spielen…"
Denn Baumbach, in Weimar geborener Patentingenieur, ist zu dieser Zeit noch immer Fernschach-Nationalspieler der DDR. Sein Frankfurter Kontrahent tritt für die BRD an. Beide duellieren sich an Brett zwei eines Länderkampfes, der zur 1987 begonnenen 10. Fernschach-Olympiade gehört. Und so eine Weltmeisterschaft gibt man doch nicht einfach auf. Schon gar nicht im Fernschach. Mag der Arbeiter- und Bauernstaat nun auch ganz offiziell Geschichte sein, auf den Schachbrettern in Ost und West lebt er weiter. The games must go on. Noch viereinhalb Jahre. Erst dann wird die untergegangene Sportnation ihre allerletzte Medaille erhalten.
Was als Kuriosum der deutsch-deutschen Geschichte endet, begann am 15. Dezember 1987 mit einem Standard: Dame-Bauer von d2 nach d4, entschied Baumbach und schrieb seine Eröffnung auf eine Postkarte an Karl-Heinz Maeder, Frankfurt am Main. Maeders Antwort: Springer von G8 nach F6. Königsindische Verteidigung. Mögen die Spiele beginnen.
Kleine Abenteuer über Grenzen
Als Fritz Baumbach 13 war, drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, las er eine Annonce in einer Schachzeitschrift: Fernschach-Partner gesucht. Man schickt sich, erfuhr er, die Züge per Post und hat drei Tage Bedenkzeit. Entscheidend ist der Stempel des Postamtes. Der Thüringer Teenager eröffnete seine allererste Fernschach-Partie. Es war der Beginn einer großen Liebe.
"Fernschach", sagt Baumbach heute, "ist ein Spiel im Verborgenen." Das hatte gewisse Vorteile in einem Land, das seine Einwohner mit Mauern und Stacheldraht einsperrte. Weil sich außer den Spielern selbst fast niemand für Fernschach interessierte, nicht mal die Stasi, entstanden Brieffreundschaften in der ganzen Welt. "Durch die gemeinsame Leidenschaft bekam man Kontakte zu fremden Kulturen, die sonst unmöglich blieben." Eine seiner ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Baumbach nach Rom, kurz darauf lud ihn ein Fernschach-Freund aus Los Angeles zur Rundreise an der US-Ostküste ein.

Später Schachsieg für die DDR
Karlheinz Schindler / picture alliance / dpa
Das Brettspiel aus der Ferne erweiterte die karge sozialistische Freizeitgestaltung. "Ich erinnere mich an ein Duell gegen einen Mann aus Moskau", erzählt der heute 85-jährige, "ich hatte ihm eine Falle gestellt und konnte es kaum erwarten, ob er tatsächlich hineingetappt war. Seine Karte kam in einem Umschlag mit kleinen Schlitzen. Ein Blick, und ich wusste: Mein Zug war erfolgreich."
Ein anderes Mal hatte Baumbach seine Karte bereits in den Briefkasten geworfen, da wurde ihm mitten in der Nacht klar, dass ihm ein Fehler unterlaufen war. Bei der Leerung am nächsten Morgen überredete er den Postbeamten, die Karte wieder herauszurücken. Das verhalf Baumbach 1988 zum Weltmeistertitel und brachte ihm die Ehrung als "Verdienter Meister des Sports" ein.
DDR in den letzten Zügen
Weil er auch im Nahschach brillierte, durfte Baumbach zu Turnieren in sozialistische Bruderstaaten reisen. Ein Stück Freiheit. Die Lähmung der DDR belastete Baumbach weniger als etwa seine Tochter: Im Sommer 1989 bat sie den Papa um ein Zelt und verschwand über die ungarische Grenze gen Westen. "Ich dachte, ich sehe sie erst in zehn Jahren wieder."
Zum Glück dauerte es nur wenige Monate, und selbst da zweifelte Baumbach, ob er dem Umbruch wirklich vertrauen sollte: "Ich war mir fast sicher, dass die nur etwas Druck ablassen wollen und den Laden in einem Vierteljahr wieder dicht machen." Doch der Laden blieb auf, elf Monate später war Deutschland tatsächlich wiedervereinigt.
Baumbachs Unsicherheit blieb. Aber nur am Schachbrett. Die zehnte Mannschafts-WM im Fernschach, Olympiade genannt, lief weiter. Zu den Favoriten zählten neben der DDR die Teams aus England, Italien und der Sowjetunion.
Am 23. Februar 1991 sendet Fritz Baumbach seinen letzten Zug nach Frankfurt: Läufer von d6 nach b8. Eine Woche später gibt Karl-Heinz Maeder auf. "Sie können stolz sein", schreibt er, "das ist meine erste Niederlage seit 1982."
Weltenwende? Pfft. Fernschach läuft weiter
Eine Medaille hat die offiziell jetzt inexistente DDR damit sicher, welche, muss sich noch entscheiden. Das kann dauern. Am 21. Dezember 1991 verglüht auch die Sowjetunion. Im folgenden Chaos brauchen manche Karten aus England oder Italien Monate, bis sie die Adressaten erreichen.
Schon 1992 beginnt deshalb die nächste Olympiade. Im nunmehr gesamtdeutschen Team spielen auch Fritz Baumbach und Karl-Heinz Maeder. Doch die Gedanken der Ostler kreisen um den parallel weiterlaufenden Wettbewerb, dem die Weltenwende partout nichts anhaben kann. Baumbach fragt vorsichtig bei befreundeten Nationalspielern aus Italien nach, doch die halten dicht. Erst im Frühjahr 1995 wird klar: Sieger der 10. Fernschach-Olympiade ist die Sowjetunion. Silber geht an England, Bronze an die Deutsche Demokratische Republik, Vierter wird die CSSR. Drei dieser vier Staaten sind bereits Geschichte.
Zu dieser Zeit ist Nationalspieler Baumbach schon seit zwei Jahren Präsident des Deutschen Fernschachbundes. Den Posten hat er auch deshalb angenommen, "um den Leuten zu zeigen, dass auch ein Ostler einen Verband führen kann". Anders als im Fußball oder in der Leichtathletik, wo wie selbstverständlich Westler an die Spitze der gemeinsamen Verbände rückten.
Im März 1995 beschert Baumbach den Spielern einen einzigartigen Moment. Eigentlich kennt das Fernschach keine feierlichen Pokalübergaben, die Medaillen werden in der Regel – natürlich – per Post verschickt. Diesmal aber organisieren Baumbach und Kollegen kurzerhand eine eigene Zeremonie. "Diese Möglichkeit, Aufmerksamkeit für unseren Sport zu erregen, wollten wir uns nicht nehmen lassen."
Postkarten waren gestern
Und so kommen am 12. März 1995 Vertreter aus Großbritannien, der Ex-Sowjetunion und der Ex-DDR im Magdeburger Hotel Ratswaage zusammen, um dort ihre Medaillen in Empfang zu nehmen. Ohne Fahnen und Hymnen, dafür mit fünf Fernsehteams und Reportern von einem Dutzend Zeitungen. "Es waren mehr Journalisten als Schachspieler anwesend", sagt Baumbach. Der Pressecoup ist geglückt. Als Höhepunkt erhält die DDR um Punkt 14.30 Uhr die letzte Medaille ihrer Geschichte.
Darüber berichten selbst britische Zeitungen. Immer noch schwer beeindruckt erzählt dort ein Fernschachspieler, wie ihn der Präsident des gesamtdeutschen Verbandes vom Flughafen Berlin-Schönefeld nach Magdeburg transportierte. Baumbach: "Ich habe den Mann standesgemäß mit meinem Trabant abgeholt. Auf der Fahrt lernte ich einen neuen englischen Begriff: driving kangaroo'd. Ihm hat es offenbar sehr gefallen."
Fritz Baumbach ist seiner ersten Liebe bis heute treu. Mit Postkarten spielen nur noch exzentrische Nostalgiker, alle anderen tauschen die Züge im Fernschach längst per E-Mail aus. Wo früher Fachbücher oder Freunde aus dem Schachklub beim Fernsieg halfen, sind es heute Computer - was das Fernschach "ziemlich gleich und etwas langweilig gemacht hat", findet Baumbach.
Siege sind bei solchen Duellen selten. Der letzte Weltmeister, ein Russe, gewann nur zwei seiner 16 Spiele, 14 endeten mit Remis. Aber am Austausch über Grenzen hinweg hat sich nichts geändert. "Aktuell spiele ich gegen einen Schweden", sagt Fritz Baumbach. Der Fernschach-Partner habe ihm auch von den ungewöhnlichen Maßnahmen seines Heimatlandes in der Coronakrise erzählt.
Ein bisschen Abenteuer ist also geblieben.