
Der Fall Kurras: Ein Schuss, der Deutschland verändert
Der Fall Kurras Ein Schuss, der Deutschland verändert
Der 2. Juni 1967 in Berlin war ein wunderbarer Frühsommertag, doch er endete im Desaster. Es wurde zum Fanal für die Revolte von 1968 und war Initialzündung für die Gründung der terroristischen "Bewegung 2. Juni" und der "Rote Armee Fraktion" (RAF) von Andreas Baader und Ulrike Meinhof.
Am Abend hatten sich Hunderte Studenten vor der Deutschen Oper an der Bismarckstraße versammelt, um gegen den Besuch des Schahs von Persien zu demonstrieren, der mit Mord und Folter sein Land beherrschte. Den ganzen Tag über hatten schon iranische Schlägertrupps, sogenannte Jubelperser, für eine aggressive Stimmung gesorgt - unter den Augen der Berliner Polizei. Der Berliner Senatssprecher prophezeite mittags: "Heute gibt's Dresche!", und genau so kam es.
Kaum waren der Schah und Bundespräsident Heinrich Lübke um 20 Uhr in der Oper verschwunden, sprangen Polizeieinheiten über die Absperrgitter und prügelten wie von Sinnen auf die Protestierer ein. Polizeipräsident Duensing, früher Stabschef der Heeresgruppe Süd bei der Wehrmacht, beschrieb das Einsatzkonzept später so: "Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hinein stechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt."
Blutüberströmte Demonstranten, prügelnde Polizisten
Binnen Minuten lagen blutüberströmte Demonstranten auf der Straße. Die Fluchtwege waren versperrt. "Ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom" - so urteilte später der Publizist Sebastian Haffner über die Polizeiaktion. Zugleich rief sie ein einziges Chaos hervor.
Wie einige andere rennt der 26-jährige Romanistikstudent Benno Ohnesorg, Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde mit seinen Jesuslatschen, der hellen Hose und dem roten Hemd in die Krumme Straße, auf einen Parkplatz im Hinterhof. Polizisten schlagen ihn zusammen. Es ist etwa 20.30 Uhr, also noch hell. Plötzlich fällt ein Schuss. Eine Kugel Kaliber 7,65 aus der Walther PKK des Kriminalobermeisters in Zivil, Karl-Heinz Kurras, 39, trifft Benno Ohnesorg aus etwa eineinhalb Metern Entfernung. Wenig später stirbt er. Todesursache: "Gehirnsteckschuss".
Unmittelbar danach verbreitet die Polizei Meldungen von zuvor abgegebenen Warnschüssen, angeblich blitzenden Demonstrantenmessern und einer Notwehrsituation des Beamten. Zusätzlich wird noch das Gerücht verbreitet, Demonstranten hätten einen Polizisten erstochen.
Den Schützen schnell nach Hause geschickt
In den Morgenzeitungen der Springer-Presse steht dagegen nichts vom Todesschuss in der Krummen Straße. Stattdessen wurden die Demonstranten für den "Terror" verantwortlich gemacht. Die Boulevardzeitung "B.Z." schreibt: "Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen."
Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) verteidigt derweil seine uniformierten Schlägertruppen: Die Polizei habe sich "bis an die Grenzen des Zumutbaren zurückgehalten". Nicht zuletzt wegen dieser unwahren Äußerung tritt er ein halbes Jahr später zurück.
Karl-Heinz Kurras wird nach der Tat von seinem Vorgesetzten sofort nach Hause geschickt - "Schnell weg! Kurras gleich nach hinten! Los!" -, wo er in das Magazin der Tatwaffe verschwinden ließ. Am nächsten Morgen bringt er auch noch seine Klamotten zur Reinigung. Perfekte Spurenverwischung.
Kein Mord, sondern Notwehr?
Wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, wird er dreimal nacheinander, zuletzt vom Bundesgerichtshof, freigesprochen. "Putative Notwehr" war das Zauberwort. "Es hat sich sogar nicht ausschließen lassen, dass es sich bei dem Abdrücken der Pistole um ein ungesteuertes, nicht vom Willen des Angeklagten beherrschtes Fehlverhalten gehandelt hat", resümierte der Richter des Moabiter Landgerichts.
Ein psychiatrisches Gutachten hatte dem bekennenden Waffennarren Kurras für den Abend des 2. Juni zudem eine "eingeschränkte Kritik- und Urteilsfähigkeit" attestiert. Die Schussfähigkeit war offenbar nicht eingeschränkt.
Kein Wunder: Kurras galt als hervorragender Schütze. In einem "Stern"-Interview gab er später zum Besten: "Wenn ich gezielt geschossen hätte, wie es meine Pflicht gewesen wäre, wären mindestens 18 Mann tot gewesen."
Das unverhüllte Gesicht der Repression
So kam es dazu, dass Kurras, der bis dahin bei der Abteilung I des Berliner Staatsschutzes gearbeitet hatte, wo er auch für die "Innenbeobachtung" der Polizei zuständig war, straffrei und unbehelligt blieb. Für eine Weile wurde er vom Dienst suspendiert und dann 1987 ordnungsgemäß in Rente geschickt.
Für Tausende von entsetzten, aufgebrachten Studenten war er im Juni 1967 selbstverständlich der "Faschobulle", die Manifestation jener "strukturellen Gewalt" des kapitalistischen "Schweinesystems", wie man noch in den achtziger Jahren gesagt hätte.
Kurras - das war plötzlich das unverhüllte Gesicht jener autoritär-faschistoiden Repression, die der Studentenbewegung fundamental und feindlich gegenüberstand. Selbst der liberalkonservative Publizist Karl-Heinz Bohrer urteilte in der "FAZ", die Polizeibrutalität vom 2. Juni in Berlin habe man sich bislang nur in "faschistischen oder halbfaschistischen Ländern" vorstellen können. "Das postfaschistische System in der BRD ist zu einem prä-faschistischen geworden" - so sah es Rudi Dutschkes Sozialistischer Deutscher Studentenbund" (SDS).
Am radikalsten formulierte die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin ihre Lehre aus Kurras' Todesschuss des 2. Juni, als sie von der "Generation von Auschwitz" sprach, mit der man nicht diskutieren könne. Ihre Konsequenz: Wir müssen uns bewaffnen.
42 Jahre später ist nun alles anders
Nun also, 42 Jahre später, wissen wir dank Aktenauswertung in der Birthlerbehörde, dass Karl-Heinz Kurras seit 1962 Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war und ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, kurz: ein tapferer Kundschafter des real existierenden Sozialismus, glühender Freund der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ein Spion, der aus der Überzeugung kam.
Dies alles eine Ironie der Geschichte zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung. Andererseits: Die Geschichte der Studentenbewegung muss nun auch nicht gerade umgeschrieben werden. Hypothetische Erwägungen, wie die Revolte ohne den Tod Ohnesorgs verlaufen wäre, führen nicht viel weiter. Die Radikalisierung der Revolte, die in den theoretischen Debatten schon angelegt war, hätte sich womöglich an anderen Ereignissen entzündet - oder sie wäre etwas gemäßigter verlaufen.
Wer weiß. Die vielfältigen Motive der 68er jedenfalls, die sich schon in den frühen sechziger Jahren entwickelten, werden nicht besser und nicht schlechter durch einen Stasi-Agenten, der offenbar immer schon sehr persönliche Probleme mit seiner Wahrnehmungsfähigkeit hatte - wie seine Reaktion auf die Vorwürfe im übrigen erneut beweist: "Nach 42 Jahren, was soll denn das, können die uns nicht endlich mal in Ruhe lassen", sagte der frühere West-Berliner Polizist laut dpa-Informationen dem "Tagesspiegel".
Verschwörungstheorien, wo man nur hinblickte
Gleichwohl bringt die Enthüllung des Jahres ein bestimmendes Kennzeichen der Revolte von 1967/68, vor allem in Berlin, auf den Punkt. Sie war, mitten im Kalten Krieg, das Feld einer gigantischen, fast eschatologischen Freund-Feind-Projektion. Staat und Springer-Presse hielten die rebellierenden Studenten für die "fünfte Kolonne Moskaus", eine wilde Mischung aus langhaarigen Anarchisten und "vom Osten gesteuerten" Kommunisten, denen man zeigen musste, was eine Harke ist, bevor der Untergang des Abendlands seinen Lauf nehmen würde.
Die linken Studenten wiederum steigerten sich in die Vorstellung hinein, entweder die Revolution gegen den "repressiven Staat" anzetteln zu müssen oder selbst, wie das damals gegen Amerikas Bomben "kämpfende Volk" von Vietnam, auf dem Schlachtfeld der Geschichte zerschlagen zu werden. Kein Wort konnte damals groß genug sein, keine Vision zu abwegig. Die RAF radikalisierte dieses Denken schließlich mit der Parole "Sieg oder Tod".
Den Machthabern der DDR ihrerseits war jedes Mittel recht, um die verhasste "imperalistisch-revanchistische" BRD in ein finsteres Licht zu rücken. Zugleich war ihnen die anfangs sehr unorthodoxe, bunte und spontane Rebellion der Weststudenten, samt Kommune 1, Haschisch und Rock'n'Roll, äußerst suspekt.
Die Stasi als Studentenmörder?
Vielleicht repräsentiert der absurde Fall Kurras - die Stasi Ost als Studentenmörder West - die ultimative Interpretationsfläche für all die tendentiell verschwörerischen Feindbildkonstruktionen dieser Jahre. Geheimdienste aus Ost und West traten sich damals in Berlin regelrecht auf die Füße, und ein Mann wie Peter Urbach (im Szenejargon "S-Bahn-Peter") arbeitete praktisch für alle Seiten: Für den westdeutschen Verfassungsschutz, für die Stasi und für die Kommune 1.
1968 ist bis heute eine der großen Erzählungen der deutschen Nachkriegsgeschichte - eine verdammt gute Story. Jetzt wissen wir genauer denn je: Sie war auch eine irre Agentenstory, in der rinks und lechts nicht immer leicht zu unterscheiden waren.
Die zwei großen Jubiläen aber, die wir gerade feiern - 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und 20 Jahre Mauerfall - zeigen eindrucksvoll, dass unter halbwegs demokratischen Verhältnissen am Ende nicht die Untergrundmachenschaften von Geheimdiensten entscheiden, so widerlich ihre Aktivitäten sind, sondern das Volk - und die Menschen, die ihre Geschichte doch lieber selbst machen wollen.