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Deutsche Reichsbahn: Nächster Halt: Rundfunkstar!

Foto: Jan-Willem van Dorp/Geramond Verlag

Deutsche Reichsbahn Nächster Halt: Rundfunkstar!

Was für ein Service! Bis in die sechziger Jahre leistete sich die DDR in Schnellzügen eigene DJs und Touristenführer. Die sogenannten Zugfunksprecher sagten nicht nur Bahnhöfe an, sondern moderierten die Fahrt. Der Job forderte Kreativität und Einfühlungsvermögen - und ebnete vielen den Weg in den staatlichen Rundfunk.

"Verehrte Reisende, in Kürze erreichen wir Naumburg", schallte es aus den Lautsprechern, dann fuhr die Stimme fort: "Ich möchte Ihnen rasch etwas über die Stadt und ihren Dom mit der weltberühmten steinernen Uta erzählen…." Die Gespräche im Abteil verstummten. Der Sprecher am Mikrofon begann, munter über Land und Leute zu plaudern, dann fuhr der Zug auch schon in den Bahnhof ein.

Bis in die sechziger Jahre bot die Deutsche Reichsbahn ihren Passagieren in einigen Schnellzügen der DDR einen ungewöhnlichen Service: Bei längeren Wartezeiten, etwa in Halle, wurde ihnen die Martin-Luther-Universität vorgestellt, auf der Fahrt durch Thüringen über das berühmte Jenaer Glas gesprochen oder hinter Rostock eine Sage von der Insel Rügen erzählt.

Auf welchen Strecken sie das "Radio"-Programm der Bahn erwartete, konnten die Reisenden dem Kursbuch entnehmen: Die Verbindungen waren mit einem Blitz gekennzeichnet, der besagte, dass ihre Reise mit großer Wahrscheinlichkeit vom Zugfunk begleitet wurde. Voraussetzung dafür war, dass einer der Erste-Klasse-Wagen eine eigens dafür entwickelte Zugfunkkabine besaß. 1950 war der Zugfunk erstmals unterwegs auf den Strecken Berlin-Dresden und Berlin-Halberstadt; von Jahr zu Jahr wurde das Netz erweitert.

Ab 1959 arbeitete auch ich beim Zugfunk. Ich gehörte zum Team einer Außenstelle des Ministeriums für Verkehrswesen in der Reichsbahndirektion Erfurt. Das Anfangsgehalt lag bei knapp 400 Mark; etwas mehr gab es nach der Prüfung, die der Chef des Zugfunks Heinrich Eggebrecht während einer Bahnfahrt persönlich abnahm. Danach durfte man sich den vierten Stern eines Reichsbahn-Hauptsekretärs auf die Schulterstücke der Bahneruniform heften.

Sächsisch nicht erwünscht

Die größte Herausforderung in dem Beruf bestand darin, bei der Programmgestaltung die spezifischen Besonderheiten des maroden DDR-Schienennetzes zu berücksichtigen: Sehr genau studierten wir deshalb die Strecken, um beispielsweise bei Fahrten von Erfurt nach Dresden, Meiningen, Leipzig, Cottbus oder zur Ostsee zu wissen, wo es wegen der starken Fahrtgeräusche nicht angebracht war, Texte zu sprechen oder Musik zum stillen Genießen einzuspielen. Von solchen besonders lauten Abschnitten hatte das ostdeutsche Schienennetz viele, die "Langsamfahrstrecken" umfassten Hunderte Kilometer.

Während der Fahrt saßen wir Sprecher in der Zugfunkkabine, einem engen Raum, in dem sich ein Platz mit Mikrofon und "Räuspertaste", ein Studio-Tonbandgerät für 76er Bandgeschwindigkeit und thematisch geordnete Tonbänder befanden, außerdem ein abgefederter Plattenspieler mit etwa hundert LPs sowie ein zuschaltbares Rundfunkgerät. Darüber hinaus gab es für Nachtfahrten einen Liegeplatz zum Ruhen zwischen 0.00 und 6.00 Uhr.

Nach einer vierteljährigen Ausbildung und der Abschlussprüfung, die alle Sprecherinnen und Sprecher zu absolvieren hatten, durften wir in Fernzügen eigenständig Programme planen, die dann vom Chef der Außenstelle abgesegnet wurden. Darin enthalten waren auch Aufnahmen aus der zentralen Redaktion des Zugfunks, in der etwa politische Kommentare oder auch mit Schauspielern kurzweilige Unterhaltungssendungen produziert wurden.

Regelmäßig fand für alle Zugfunkmitarbeiter eine Sprecherziehung statt, für die der Berliner Schauspieler Bruno Lorenz engagiert wurde, ein altgedienter proletarischer Künstler, der sich seine ersten Sporen in Brechts Film "Kuhle Wampe" (1932) verdient hatte. Jeden Monat bereiste er für mehrere Tage die Außenstellen und trieb uns einzeln und im Kollektiv mit berühmten Übungsvorlagen ("Abraham saß nah am Abhang…" oder "Spitzfindig ist die Liebe…") mehr oder weniger erfolgreich die Dialekte aus. Besondere Mühe hatte er mit dem Sächsischen.

Extratour

Unsere Arbeit als Sprecher bestand hauptsächlich darin, Bänder oder Platten aufzulegen und durch thematisch gestaltete Programme zu führen - von der Volksmusik über gesamtdeutsche Schlager bis zur Klassik. Außerdem sendeten wir eigene Beiträge. Wir beschrieben die Herstellung künstlicher Edelsteine in Bitterfeld, erzählten Geschichten über das Schlossgespenst von Stolberg, beschrieben die Saalfelder Feengrotten als Naturwunder und schilderten den Bau des über einen Kilometer langen Eisenbahndamms durch den Templiner See, wenn wir gerade darüber hinwegfuhren. Wir sagten die Bahnhöfe an und verwiesen auf Anschlussmöglichkeiten.

Dazwischen bekam unser westdeutscher Klassengegner sein Fett weg. Allerdings nimmt die Politik in dem von mir gesammelten Stapel von Beiträgen einen geringen Platz ein. Die platte Agitation hielt sich in Grenzen, zumal mancher politische Kommentar zwar im Sendeprotokoll erwähnt, aber nie gesendet wurde. Die Sprecher wollten es den Reisenden auf dem Weg in den Urlaub an der Ostsee in übervollen Zügen einfach nicht zumuten, auch noch politisch oktroyiert zu werden.

Bei Wunschkonzerten, die auf langen Touren spontan gestaltet wurden, war es den Fahrgästen möglich, ihre Lieblingsmelodien zu bestellen oder einem Mitreisenden zum Geburtstag, zum Studienabschluss oder zur Geburt des Nachwuchses zu gratulieren. Während des damals äußerst populären internationalen Radrennens Berlin-Prag-Warschau mit "Täve" Schur und anderen Straßengiganten war es unerlässlich, die Übertragungen während der "Friedensfahrt"-Etappen, insbesondere die Zielankunft, vom Rundfunk zu übernehmen und live in die Zugabteile zu senden.

Sprungbrett in den Journalismus

Zusammen mit einer Kollegin begleitete ich auch eine Tagestour der Belegschaft des Büromaschinenwerks Sömmerda in dem eigens dafür gecharterten Doppelstockzug durch den Thüringer Wald. Dem Wunsch des Veranstalters entsprechend gelang es uns, dass sich das Reiseprogramm wohltuend auf die Stimmung im Zug auswirkte und keiner Kontrolle unterlag. Aus meinen Programmnotizen geht hervor, dass wir auf dieser Tour sogar westdeutsche Verwandte von Mitarbeitern des Betriebes begrüßten.

Für die in der DDR für Agitation und Propaganda Verantwortlichen war es hingegen ein Handicap, dass sie die Zugfunkprogramme nicht genau verfolgen konnte. Möglicherweise trug dies - neben Kostengründen - dazu bei, dass es den Zugfunk in den folgenden Jahren immer seltener gab und er Mitte der Sechziger völlig eingestellt wurde. Nach dem Bau der Mauer 1961 war es offensichtlich nicht mehr so wichtig, die DDR-Bürger bei Laune zu halten.

Für viele meiner Kolleginnen und Kollegen war der Zugfunk ein Sprungbrett zu einem Rundfunksender der DDR. Zu ihnen gehörte die später bekannte Moderatorin Uda Echtner, die über viele Jahre eigene Sendungen beim Berliner Rundfunk gestaltete. Peter Schick, Barbara Krause und andere fanden ihren Weg in die Studios des Staatlichen Rundfunks. Wieder andere widmeten sich dem aufkommenden Betriebsfunk, und mir war es vergönnt, in der Schuhfabrik Paul Schäfer in Erfurt ein Betriebsfunkstudio zu gründen und später zur Zeitung zu wechseln.

Zum Weiterlesen:

Klaus Taubert: "Generation Fußnote. Bekenntnisse eines Opportunisten". Schwarzkopf und Schwarzkopf Verlag, Berlin 2008, 296 Seiten.

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