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Jürgen Schadeberg: "Ständig bestellte er eine neue Runde für den ganzen Pub"

Foto: Mitteldeutscher Verlag/Jürgen Schadeberg

Deutscher Fotograf in England Auf ein Bier mit Grandma

Die dunkle Seite der "Swinging Sixties": Beruflich knipste Jürgen Schadeberg eitle Rockstars und leichtbekleidete Models. Doch seine besten Motive fand der Fotograf in den Pubs, Armenvierteln und Gefängnissen. Ein Bildband zeigt nun erstmals seine Fotos zwischen Glamour und Gosse.

London 1966: In einem Fernsehstudio am Kingsway stehen ein Fotograf und ein Rockstar. Sie amüsieren sich köstlich. Denn direkt vor ihnen, auf einer kleinen Bühne, im Fokus der TV-Kameras, verrenkt sich eine Handvoll junger Briten zu Popmusik und findet sich mächtig cool dabei. "Die haben einfach keinen Rhythmus", sagt der Rockstar, zuckt mit den Schultern und beginnt zu lachen.

Er trägt einen Fellmantel mit flauschigem Pelzkragen und hat volle Lippen. Es ist Mick Jagger. Der andere Mann nimmt Jagger ins Visier, drückt kurz auf den Auslöser seiner Leica M2 und stimmt in das Gelächter ein. Es ist der deutsche Fotograf Jürgen Schadeberg.

45 Jahre nach den Aufnahmen für "Ready Steady Go!", eine der ersten Popmusiksendungen im britischen Fernsehen, erinnert sich Schadeberg zurück an die Szene in dem Londoner Studio und muss erneut schmunzeln. "Die Typen konnten sich damals einfach nicht bewegen, sie waren so unglaublich 'clumsy'", sagt der heute 80-Jährige, das deutsche Wort fällt ihm auf Anhieb nicht ein. "Clumsy" eben, linkisch, unbeholfen. Erst seit fünf Monaten lebt Schadeberg wieder in seiner Heimatstadt Berlin. Nach 60 Jahren im Ausland ist er zurückgekehrt zu seinen Wurzeln - mit rund 100.000 Negativen im Gepäck.

Von Kapstadt nach London

Einen Teil seines Fotoschatzes hat Schadeberg nun erstmals veröffentlicht. "Great Britain 1964-1984" heißt der Bildband. Die darin versammelten Aufnahmen überraschen - weil sie eine ganz andere, nahezu unbekannte Seite des Fotografen dokumentieren.

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Bekannt wurde Jürgen Schadeberg als Chronist der Apartheid. Im Jahr 1950, mit gerade einmal 19, war er von Berlin aufgebrochen und nach Kapstadt gereist, um der grauen Nachkriegstristesse zu entfliehen. Ohne ein Wort englisch zu sprechen - und in der festen Überzeugung, dass es überall in Afrika Tiger gäbe. Er fotografierte als erster Weißer das Leben der Schwarzen in Südafrika, berühmt wurde er etwa mit Aufnahmen des jungen Nelson Mandela.

In dem Fotoband nun entpuppt Schadeberg sich als feinfühliger Beobachter der britischen Gesellschaft zwischen den wilden Sechzigern und prüden Achtzigern, zwischen Trostlosigkeit und Glamour, Alltag und Nachtleben. Kurz zuvor war er aus Südafrika geflohen - dort war es zu brenzlig für ihn geworden.

"Ich verließ das Land, bevor die Regierung mich fortgejagt hätte", erinnert sich Schadeberg. Seine Aufnahmen der Bewohner des Johannesburger Vororts Sophiatown, der Sklaverei auf den Burenfarmen, der menschenunwürdigen Zustände in den Gefängnissen gingen um die Welt. Bald bespitzelte ihn die Geheimpolizei, folgte ständig seinem VW, nahm seine Freunde ins Kreuzverhör.

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Jürgen Schadeberg: "Ständig bestellte er eine neue Runde für den ganzen Pub"

Foto: Mitteldeutscher Verlag/Jürgen Schadeberg

Nachdem der Journalist Henry Nxumalo, einer seiner Mitstreiter beim legendären Anti-Apartheids-Magazin "Drum", ermordet worden war, stand für Schadeberg fest, dass es für ihn keinen Platz mehr gab in Südafrika. An einem trüben Herbsttag im Jahr 1964 landete Schadeberg nach zehn Tagen Fahrt mit dem Dampfer im britischen Southampton.

"Kommerziell und kindisch"

In London angekommen, bezog der junge Deutsche ein billiges Zimmer im Westen der Stadt und richtete im Treppenhaus eine Dunkelkammer ein. Dann schulterte er die Leica, zog los - und geriet mitten ins "Swinging London" mit seiner hedonistischen Jugendbewegung im wirtschaftlich erstarkten Großbritannien, die den Beatles, Stones und Kinks ebenso huldigte wie den Minirock-Models Jean Shrimpton und Twiggy.

"Auf der King's Road und Carnaby Street gockelten die Menschen umher wie auf einem Maskenball, mit roten Gala-Uniformen, billigen Glitzerkleidern, Sherlock-Holmes-Mänteln, Polizeihelmen und riesigen Hüten", erinnert sich Schadeberg. "Jeder wollte möglichst 'groovy' und originell sein. Ich fand das Ganze oberflächlich, kommerziell und kindisch." Vor allem die Freude am Konsum befremdete den soeben aus Südafrika eingetroffenen Deutschen, den Augenzeugen von Rassendiskriminierung und dem Elend der Townships.

Daher zog es ihn weniger auf die angesagten In-Meilen der Metropole denn auf die Flohmärkte und Hinterhöfe, in die Jazzclubs der Schwarzen, die Hochhaussiedlungen der Armen, die verlassenen Werften und Jedermann-Pubs. Etwa den berühmten "French Pub" in der Dean Street, wo der irische Maler Francis Bacon sich tagein, tagaus betrank: "Seitlich ging der, wie ein Krebs, damit er nicht umfällt. Und ständig bestellte er eine neue Runde für den ganzen Pub", erinnert sich Schadeberg.

Mürrische Beatles, sportliche Senioren

Zwar lichtete er für seine Auftraggeber - etwa das "Observer Magazine", das "Sunday Times Magazine", den "Weekend Telegraph" - auch die Stars und Sternchen jener Jahre ab. Etwa den Dramatiker Harold Pinter, die Beatles John Lennon und George Harrison, wie sie gelangweilt ein Fernsehinterview absolvieren. Oder den "Playboy"-Manager Victor Lowndes im Kreise seiner naiv dreinblickenden Bunnys. Mehr jedoch interessierte sich Schadeberg, wie schon zu seiner Zeit in Afrika, für die weniger Privilegierten.

Seine Schnappschüsse von Putzfrauen und Kellnerinnen, von übermüdeten alten Ladys am Flughafen Heathrow, von Arbeitslosen und Senioren bei der Frühgymnastik illustrieren die andere Seite des in den sechziger Jahren prosperierenden britischen Königreiches. "Ich bot Features über Armut an, doch die wollte mir damals kaum einer abkaufen", sagt Schadeberg.

Trotzdem machte er weiter, besuchte mit seiner Kamera die Gefängnisse, die Heime für Menschen mit geistigen Behinderungen. Zudem lichtete er - mit dem besonderen Blick des Fremden - so manche Skurrilität ab: die Maibälle der Cambridge-Absolventen, die weltweit größte Hundeschau, die ersten Gesundheitsfarmen Anfang der siebziger Jahre.

Irgendwann hatte Schadeberg genug von England, musste "frische Luft schnappen", wie er sagt. Bevor er 1985 erneut nach Südafrika ging, lebte er in Spanien, New York und Frankreich. Nun ist er mit 80 Jahren nach Deutschland zurückgekehrt. Dorthin, wo er als Elfjähriger die erste Kamera in seinen Händen hielt. "Jetzt bin ich wieder daheim", sagt der alte Mann mit dem charmanten britischen Akzent, "finally."

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