

Der Kölner ist so leicht nicht zu verblüffen. Hier aber doch. Wo Arbeiter der Helios-Werke früher elektrische Straßenbahnen und Leuchttürme zusammenbauten, fand sich Otto Normalverbraucher plötzlich in einem Einkaufsparadies wieder. Nach amerikanischem Vorbild eröffnete der risikofreudige Unternehmer Herbert Eklöh am 26. September 1957 in der Rheinlandhalle im Stadtteil Ehrenfeld den ersten deutschen Supermarkt, mit 200 Parkplätzen vor der Tür.
Stattliche 2000 Quadratmeter umfasste die Verkaufsfläche. In Kühltheken von gut 60 Metern Gesamtlänge lagerten tiefgefrorene Fische, Hähnchen und Koteletts. Frisches Obst und Gemüse gab es auch, ebenso Brechbohnen in der Dose, Gurken im Glas, Kakaopulverpäckchen oder Melitta-Kaffeefilter. Die gut gefüllten Regale waren 160 Meter lang, wie Zeitungsreporter damals staunten.
Anders als man es von den bis dahin üblichen, viel kleineren Tante-Emma-Läden kannte, packten die Kunden hier ihre Waren eigenhändig in Einkaufswagen und schoben sie durch schier endlose Gänge. Manche mögen beim Einkauf daran gedacht haben, dass sich in den Dreißigerjahren noch Radrennfahrer in dieser riesigen Halle abstrampelten.
Konsumrausch ohne Zeitverlust
Auf Werbeplakaten über ihren Köpfen brüllten ihnen jetzt Sonderangebote in so riesiger Schrift entgegen, dass selbst Kurzsichtige zum Lesen keine Brille brauchten. Wie Fotos von damals zeigen, nahm kaum jemand Notiz von den adrett gekleideten Angestellten mit Häubchen und weißen Schürzen - denn alle stürzten sich direkt auf das überbordende Warenangebot, das zum Greifen nah war.
Herbert Eklöh hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Im Wirtschaftswunderland Deutschland verspürte die Bevölkerung nach entbehrungsreichen Jahren einen enormen Nachholbedarf. Viele, die im Krieg Hunger gelitten hatten, waren inzwischen zu bescheidenem Wohlstand gelangt. Ein Lebensmittelangebot im Übermaß konnte eine regelrechte Konsumgier entfachen.
Viel Zeit durfte das Einkaufen aber nicht beanspruchen. Immer mehr Frauen gingen arbeiten und konnten sich nicht mehr den ganzen Tag mit dem Haushalt beschäftigen. Sie fanden es daher besonders praktisch, möglichst viele Waren unter einem Dach zu finden.
Die USA, wo die Supermarktidee entstanden war, galten in der jungen Bundesrepublik ohnehin als wirtschaftliches und kulturelles Vorbild. Was selbst die DDR nicht davon abhalten sollte, sich mit sogenannten Kaufhallen eigene große Selbstbedienungsläden zu schaffen. Das Angebot blieb jedoch bescheidener.
"Künder, Schrittmacher und Durchtrotzer"
Der westdeutsche Supermarkt-Pionier Eklöh, gelernter Drogist, hatte bereits in der NS-Zeit Handelsfilialen aufgebaut und 1938 in Osnabrück den ersten Lebensmittel-Selbstbedienungsladen Europas eröffnet. Wie solche Geschäfte funktionierten, hatte er sich zuvor in den USA angeschaut. Große Handelsketten mit zahlreichen Niederlassungen gab es dort schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als A&P in New York in großem Stil mit dem Tee-Verkauf begann. Später drängte Safeway auf den Markt, ebenso die King-Kullen-Kette, die das Konzept des heutigen Supermarktes etablierte.
Michael J. Cullen, Manager der Kroger Grocery & Bakery Co. in Illinois, plante Läden von "monströser Größe"; 80 Prozent des Geschäfts sollten über Selbstbedienung laufen. Da immer mehr Leute Autos und Kühlschränke besaßen, wollte Cullen sie zu wöchentlichen Großeinkäufen im Supermarkt anstelle der täglichen Besorgungen beim Bäcker und Metzger animieren. Damit hatte er so großen Erfolg, dass er die Konkurrenz aushebelte und Kroger bald mit Dumping-Preisen auftrumpfen konnte.
In Deutschland indes hatte Eklöh mit dem frühen Selbstbedienungsgeschäft von 1938 zunächst keinen Erfolg. Die Kunden blieben aus, nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden Lebensmittel ohnehin knapp. Er selbst sah sich trotzdem auf dem richtigen Weg: "Ich habe als erster in Europa die Selbstbedienung aufgegriffen, ich bin Künder, Schrittmacher und Durchtrotzer gewesen", sagte er 1959 selbstbewusst dem SPIEGEL.
Nach dem Krieg griff Eklöh seine Idee wieder auf und schaffte es sogar, ins vorrevolutionäre Kuba zu expandieren. Gerade noch rechtzeitig vor der Machtübernahme Fidel Castros Anfang 1959 konnte er die Firma an einen Amerikaner verkaufen, wie sich sein Sohn Jörn Kreke im Gespräch mit dem WDR erinnerte.
"Impulskäufe in unbekanntem Ausmaß"
Als schließlich Eklöhs erster großer Supermarkt in Köln-Ehrenfeld öffnete, reagierte die Branche noch skeptisch. "Unser größtes Hindernis war, dass die maßgebenden deutschen Handelskreise unserem Supermarkt keinerlei Chancen gaben", klagte er im SPIEGEL. Dabei setzte er gleich im ersten Jahr beachtliche 9,2 Millionen Mark um: Ein Supermarkt verlocke zu "Impulskäufen in einem uns bisher unbekannten Ausmaß", so Eklöh.
Andere zogen nach. Bald fürchtete der traditionelle Einzelhandel die Konkurrenz der neuen Riesengeschäfte und rief "den Gesetzgeber und die beteiligten Wirtschaftskreise" um Hilfe an. Zu spät: Die Supermärkte boten neben Lebensmitteln nun auch Seife, Waschpulver und andere Artikel des täglichen Bedarfs an. Ihre Kunden fanden diese "modernen Basare" unter anderem an Stadträndern und in Satellitenstädten, in denen es die üblichen Warenhäuser nicht gab.
Im Sommer 1958 verkaufte Eklöh seine mittlerweile 24 Supermärkte an ein Konsortium der vier größten Warenhauskonzerne Karstadt, Hertie, Kaufhof und Horten. Er selbst saß fortan im Aufsichtsrat des Unternehmens, das sich jetzt Eklöh GmbH nannte. Der passionierte Hobbypilot fand noch Zeit, in den folgenden Jahren in das Süßwaren- und Parfümeriegeschäft einzusteigen. 1978 starb er an den Folgen eines Sportunfalls.
Sein Supermarktkonzept aber war nicht mehr kleinzukriegen. Dagegen hatten die Tante-Emma-Läden, der klassische Einzelhandel, keine Chance und verschwanden allmählich. Im Schatten der Kaufhäuser, Supermärkte und der Einkaufszentren auf der grünen Wiese konnten sich nur größere Fachgeschäfte noch halten. Heute sind Läden, bei denen der Inhaber selbst hinter der Kasse steht, eher ein Fall für Nostalgiker - wie Sie in der Fotostrecke zur Geschichte des Einkaufens sehen.
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Der kleine Laden an der Ecke: Ganz früher hießen Kaffee oder Gewürze noch "Kolonialwaren", und viele Jahrzehnte lang blieb das Warenangebot im Einzelhandel überschaubar. Abgewogen und abgerechnet wurde per Hand. Die Händler kannten alle ihre Kunden persönlich, und wer gerade knapp bei Kasse war, konnte "anschreiben" lassen. Damit war es vorbei, als die deutschen Großstädte ab den späten Fünfzigerjahren ein neues Verkaufskonzept eroberte: die Supermärkte.
Ein Viertel Fleischwurst, bitte: Beim Einkauf im Metzgerladen um die Ecke machten sich unsere Großmütter keinen Kopf um Lebensmittelskandale. Bei Schweinen und Hühnern wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass sie ein glückliches Landleben geführt hatten. Und die Schnitzel, die über die Theke gereicht wurden, steckten nicht in einer Plastikverpackung.
Keine Ware mehr auf Pump: 1915 gründete Marion Barton Skaggs in Idaho die Einzelhandelskette Safeway, mit der er bald durchschlagenden Erfolg hatte. "Anschreiben" lehnte er ab. Die Begründung des Unternehmers: Familien würden dadurch vor der Schuldenfalle bewahrt. 1926 gab es bereits 428 Safeway-Läden in zehn Bundesstaaten.
Patent auf Selbstbedienung: Der US-Unternehmer Clarence Saunders eröffnete in Memphis, Tennessee 1916 den ersten seiner Piggly Wiggly Stores, in denen Kunden fertig verpackte Waren aussuchen konnten und sie dann an einer zentralen Kasse bezahlten. Die Aufnahme von 1937 zeigt eine weitere Erfindung von Saunders: den vollautomatischen Lebensmittelladen. Sämtliche Produkte standen hinter Glas und konnten mit Hilfe eines elektronischen Schlüssels ausgewählt werden. Der dabei entstehende gestanzte Lochstreifen wurde an der Kasse ausgelesen und bewirkte, dass die ausgewählten Güter auf einem Förderband herangebracht wurden. Die Bestückung des Förderbandes allerdings erfolgte manuell durch das Personal im Lager.
Shoppen hinter Drehkreuzen: Die Betreiber der ersten Selbstbedienungsläden erkannten die Gefahr, dass manche Kunden mit ihren Einkäufen nicht zur Kasse gehen, sondern klammheimlich durch den Eingang verschwinden könnten. Daher wurden etwa auch Drehkreuze installiert, die sich nur in eine Richtung bewegten. In manchen Geschäften gibt es sie bis heute.
Erste Tests in Deutschland: Bereits 1926 stellte die Konsumgenossenschaft "Produktion" in Hamburg einen Muster-Selbstbedienungsladen vor. Das Konzept wurde jedoch erst nach dem Krieg weiterentwickelt. Die Aufnahme von 1949 zeigt Frauen in einem solchen Geschäft am Berliner Tor in Hamburg.
"Monströse Läden": Michael J. Cullen, Manager der Firma Kroger Grocery & Bakery Co. in Illinois, gilt in den USA als geistiger Vater des heutigen Supermarktes. Sein 1930 gegründetes Unternehmen präsentierte preisgünstige Waren auf riesigen Verkaufsflächen - laut Smithsonian Institution war "King Kullen" damit der erste Supermarkt der USA; hier ein Geschäft der Kette in den Vierzigerjahren auf Long Island (New York).
Zukunftslösung: Mit seinem Selbstbedienungsladen, den Herbert Eklöh 1938 in Osnabrück eröffnete, war der gelernte Drogist seiner Zeit weit voraus. Es war das erste Geschäft in Deutschland, in dem Kunden ihre Waren selbst in den Einkaufskorb legen konnten. Doch die Kunden zogen nicht mit, und...
...die Geschäftsidee scheiterte letztlich auch an Versorgungsengpässen im Zweiten Weltkrieg. Von der Dimension späterer Supermärkte war der 250 Quadratmeter große Laden mit nur 600 Artikeln noch weit entfernt.
Tiefkühlkost: In der Innenstadt von Zürich eröffnete das Einzelhandelsunternehmen Migros 1948 den ersten Selbstbedienungsladen der Schweiz. Die Initiative ging von der Ökonomin und Wirtschaftsjournalistin Elsa Gasser-Pfau aus. In den größeren Geschäften standen auch Tiefkühltruhen. Damit die Kunden die gefrorenen Lebensmittel nicht sofort verbrauchen mussten, konnten sie bei Migros auch gleich einen Kühlschrank dazu kaufen.
Shoppen ohne Stress: Ebenfalls 1948 führte das britische Unternehmen Tesco die Selbstbedienung (SB) ein. In der Warteschlange des ersten SB-Geschäftes in St. Albans in Hertfordshire sieht man nur Frauen - denn der Haushalt war lange ausschließlich Frauensache. Immerhin wirkt die Kundin an der Kasse zufrieden. 1950 folgte Tescos erster großer Supermarkt.
Von der Fabrik zum Konsumtempel: Auf einem ehemaligen Industriegelände in Köln-Ehrenfeld richtete Herbert Eklöh 1957 den ersten deutschen Supermarkt ein. Auf 2000 Quadratmetern fanden Kunden preisgünstig Obst, Gemüse, Käse, Kaffee, Tee und vieles mehr.
Shopping Mall: Neben Lebensmitteln führten Supermärkte bald auch andere Artikel des täglichen Bedarfs. Ein anderer Trend etwa zur gleichen Zeit: die Errichtung riesiger Shopping Malls mit vielen separaten Geschäften unter einem Dach. Als erstes wurde 1956 das Southdale Center in Minneapolis in den USA eröffnet. Viele der einstigen Symbole für Wachstum und Wohlstand in den USA haben ihre beste Zeit hinter sich.
Größtes Einkaufszentrum Europas: In Sulzbach zwischen Frankfurt am Main und Wiesbaden öffnete im Mai 1964 die erste deutsche Shopping Mall "auf der grünen Wiese". Mit einer Verkaufsfläche von 40.000 Quadratmetern war das Main-Taunus-Zentrum Spitzenreiter auf dem gesamten Kontinent.
Kaufmannsladen (1968): Auch kleinere Geschäfte in Deutschland stellten nach dem Krieg auf das effizientere Konzept der Selbstbedienung um. Große genossenschaftlich organisierte Unternehmensverbünde wie Edeka und Rewe sprangen Mitte der Fünfzigerjahre auf den Zug auf.
Siegeszug der Discounter: 1961 öffneten in Dortmund und Bochum die ersten Läden, die Nahrungsmittel zu Schnäppchenpreisen anboten. Die Einrichtung war auf das Allernötigste reduziert. Ein Jahr später zogen die Albrecht-Brüder nach, mit ihren Aldi-Supermärkte wurden sie zu Milliardären. Dieses Foto zeigt Kunden 1990 beim Schlangestehen vor einer Filiale in Berlin-Gesundbrunnen.
Warenknappheit: In der DDR hießen Supermärkte "Kaufhallen". Mit den großen Sortimenten im Westen konnten sie nicht mithalten, oft blieben Regale leer. Auf der Ausstellung "Ratio 67" in Leipzig konnten sich Handelsvertreter 1967 immerhin ausführlich über die Vorteile der neuen Verkaufsstrategie informieren.
Eigenmarken: Die französische Supermarktkette Carrefour führte 1976 Eigenmarken ein. Diese Produkte waren deutlich günstiger als Markenartikel. Ihre großflächigen Hypermärkte betrieben die Franzosen schon seit Anfang der Sechzigerjahre.
Strichcode: 1977 kamen in deutschen Supermärkten die ersten elektronischen Scanner-Kassen an. Bis dahin musste jeder Artikel einzeln ausgezeichnet und der Preis von Hand in die Kasse getippt werden. Auch in diesem Fall waren die Amerikaner schneller: Im Wagner's-Supermarkt im US-Bundesstaat Oregon (Foto) wurde schon ein Jahr zuvor per Barcode abgerechnet.
Ohne Kassierer: Auf diesem Foto von 2004 wickelt ein Kunde in einem Supermarkt in Mainz den Bezahlvorgang allein ab. Die ersten Selbstbedienungskassen, an denen kein Bargeld angenommen wird, gab es schon Mitte der Sechzigerjahre.
Supermarkt der Zukunft: Bei Amazon kann man inzwischen neben Büchern oder Kleidung auch Lebensmittel kaufen. Im Supermarkt Amazon Go gibt es allerdings keine Kassen mehr: Am Ausgang hält der Kunde sein Smartphone vor einen Sensor, der Betrag wird vom Konto abgebucht. Hier ist ein Lager des Handelsgiganten im Logistikzentrum Brieselang bei Berlin zu sehen.
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