
Die Deutschen und der Holocaust: "Alle in der Etappe wussten es"
Die Deutschen und der Holocaust "Alle in der Etappe wussten es"
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz, in dem mehr als eine Million Juden von den Nazis umgebracht worden waren. Bis heute ist umstritten, was jene Deutschen vom Holocaust wussten, die nicht zu den Tätern zählten. Kürzlich sagte der US-Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen im SPIEGEL-Gespräch , die Kenntnis des Massenmords sei "sehr weit verbreitet" gewesen, und verwies auch auf die etwa zehn Millionen Soldaten an der Ostfront. Die Leserin Annette Schücking-Homeyer schrieb daraufhin an den SPIEGEL, sie könne als "eine Art Zeitzeugin" Goldhagens Behauptung bestätigen.
Schücking-Homeyer ist pensionierte Richterin und zählt zu den Gründerinnen des Deutschen Juristinnenbundes. Nach dem Studium hatte sich die Tochter aus einem bekannten pazifistischen Elternhaus 1941 zum Dienst beim Deutschen Roten Kreuz gemeldet und wurde in eines der sogenannten Soldatenheime geschickt. In diesen "Inseln der Heimat" (Propagandajargon), meist weit hinter der Front gelegen, konnten die Männer essen und sich ausruhen. Manche Heime versorgten bis zu 10.000 Landser täglich.
Die 21-jährige Schücking wurde zunächst im ukrainischen Zwiahel (heute Nowograd-Wolynski) eingesetzt. Dort hatten SS-Angehörige und Polizisten mit Hilfe von Wehrmachtssoldaten zuvor Tausende Juden in mehreren Wellen ermordet. Schücking-Homeyer hat über diese und andere Verbrechen später ausgesagt. Bundesdeutsche Gerichte haben gegen sieben der Mörder von Zwiahel Freiheitsstrafen verhängt.
Schückings Dienstzeit endete 1943. Ihre Briefe an die Eltern und ihre Tagebücher liegen im Kreisarchiv Warendorf und bestätigen ihre Erinnerungen. Die Texte sind auch deswegen so glaubwürdig, weil sie manche antisemitischen und antislawischen Stereotype enthalten, die dem Zeitgeist entsprachen; zugleich bezeugen sie jedoch immer wieder die stille Empörung der jungen Frau über den Massenmord.
SPIEGEL: Frau Schücking-Homeyer, die meisten Deutschen bestritten nach dem Krieg, vom Holocaust gewusst zu haben. Sie waren von 1941 bis 1943 Helferin des Deutschen Roten Kreuzes hinter der Ostfront. Wann haben Sie erfahren, dass Juden ermordet wurden?
Schücking-Homeyer: Schon in der Bahn auf dem Hinweg. Das war im Oktober 1941. Ich sollte mit einer anderen Schwester ein Soldatenheim in Zwiahel leiten, einer Kleinstadt 200 Kilometer westlich von Kiew. Wir saßen ab Brest-Litowsk mit zwei Soldaten zusammen, wobei ich nicht mehr weiß, ob das SS-Leute oder einfache Soldaten waren. Und dann erzählte auf einmal einer der beiden, er habe gerade in Brest eine Frau erschießen sollen. Die Frau habe um Gnade gebeten, weil sie sich um eine behinderte Schwester kümmern müsse. Da habe er die Schwester holen lassen und dann beide erschossen. Wir waren entsetzt, aber wir haben nichts dazu gesagt.
SPIEGEL: Wollte der Mann prahlen?
Schücking-Homeyer: Ich weiß es nicht.
SPIEGEL: In Zwiahel war bereits vor Ihrer Ankunft die viele tausend Menschen zählende jüdische Gemeinde ausgelöscht worden. Wann haben Sie davon erfahren?
Schücking-Homeyer: Ein älterer Offizier erklärte uns am Tag der Ankunft, es gebe keine Juden mehr, die seien alle tot, und deren Häuser stünden leer.
SPIEGEL: Der Mann nahm Sie beiseite?
Schücking-Homeyer: Nein, das wurde abends bei Tisch erzählt. Ich habe das meinen Eltern wenig später geschrieben. In dem Brief steht auch, andere Schwestern hätten mir gesagt, ich habe im Schlaf geschrien: "Aber das geht doch nicht, das geht auf keinen Fall, es ist gegen jedes Völkerrecht."
SPIEGEL: Wie sah es im Ort aus?
Schücking-Homeyer: Die Häuser der Juden waren geplündert, und auf dem Boden lagen oft hebräische Schriften im Schmutz. Man erzählte uns, man könne dort schöne jüdische Kerzenleuchter finden. Einer der Offiziere hat sich auch einen mit nach Hause genommen.
SPIEGEL: Massengräber haben Sie nicht gesehen?
Schücking-Homeyer: Der Leiter des Pionierstabs bot sich eines Tages an, uns die historischen Befestigungsanlagen von Zwiahel zu zeigen. Und am Ufer des Slutsch wies er auf eine Stelle und sagte, dort seien 450 jüdische Männer, Frauen und Kinder begraben. Ich habe dazu nichts gesagt.
SPIEGEL: Wissen Sie, wie viele Menschen insgesamt in Zwiahel umgebracht worden sind?
Schücking-Homeyer: Uns halfen im Soldatenheim einige ukrainische Mädchen aus der Gegend, und die erzählten von 10.000 Ermordeten. Dass es auf jeden Fall viele waren, sah ich, als einige Wochen später die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) ein riesiges Kleiderlager in Zwiahel eröffnete. Da unsere ukrainischen Helferinnen immer so wenig zum Anziehen hatten, fragte mich einer der Offiziere, ob sie Sachen haben wollten, und dann bin ich mit denen dahin gegangen. Dann lagen da auch ganz viele Sachen von Kindern. Einige von unseren Mädchen wollten nichts nehmen. Andere haben sich mit "Heil Hitler" bedankt. Ich habe meiner Mutter davon geschrieben, und sie hat sofort ihren Schwestern in Hamburg mitgeteilt, sie sollten auf keinen Fall Kleider der NSV nehmen, denn diese stammten von ermordeten Juden.
SPIEGEL: Sie sind nie direkte Zeugin eines der Verbrechen gewesen?
Schücking-Homeyer: Nein. Einmal allerdings wäre es beinahe so weit gekommen. Ich habe für das Soldatenheim jede Woche Lebensmittel und Bier aus dem etwa 100 Kilometer entfernten Rowno geholt, und dort gab es ein großes Ghetto. Eines Tages - es war im Juli 1942 - war die Brauerei, in der viele Juden arbeiteten, geschlossen. Wir fuhren dann durch das Ghetto, und das war menschenleer. Offenkundig kurz zuvor geräumt. Und da sahen wir, wie deutsche Uniformierte Frauen und Kinder zusammentrieben, die sich wohl versteckt hatten. Die sollten sicher erschossen werden. Ich bin heulend zurück nach Zwiahel gekommen und wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren.
SPIEGEL: In Rowno gab es insgesamt mehrere Mordwellen mit Tausenden Toten. Wissen Sie etwas über die Umstände?
Schücking-Homeyer: In Rowno war ich öfter bei der Wehrmachtsverwaltung, um Bezugsscheine zu holen. Und weil sich die Soldaten so kühl über die Umsiedlungen unterhielten, habe ich nachgefragt. Wie ist das mit der Umsiedlung? Wann erfahren Sie davon ...
SPIEGEL: ... da wussten Sie schon, dass Umsiedlung ein Tarnbegriff für die Ermordung von Juden war?
Schücking-Homeyer: Ja, aber ich erinnere mich nicht mehr, wann und wie ich das erfahren habe. Jedenfalls hat man mir dann bei der Wehrmachtsverwaltung in Rowno erklärt: "Wir bekommen am Vorabend die Mitteilung, dass in einem bestimmten Ort die Umsiedlung durchgeführt wird und dass es dabei zu Krach kommen könnte. Darum sollten sich die Truppen vor Ort nicht kümmern, also nicht eingreifen." Heute weiß man ja, dass die Erschießungen von Einsatzgruppen und Polizisten durchgeführt wurden.
SPIEGEL: Haben Sie mit denen auch im Soldatenheim gesprochen?
Schücking-Homeyer: Das weiß ich nicht, die Männer hatten alle Uniformen an und taten alle so, als seien sie Soldaten.
SPIEGEL: Sie schreiben am 5. November 1941 an die Eltern: "Das, was Papa immer sagt, dass von Menschen, die ohne moralische Hemmungen sind, eine merkwürdige Luft ausgeht, ist wahr; ich kann jetzt die Menschen unterscheiden, man riecht bei vielen richtig Blut. Ach, was ist die Welt für ein großes Schlachthaus." Sie glaubten, die Mörder erkennen zu können?
Schücking-Homeyer: Ja, ich hatte diesen Eindruck. Wenn man Herr über Leben und Tod ist, dann verhält und bewegt man sich anders als andere Menschen. Man zeigt, dass man über alles entscheidet.
SPIEGEL: Sind Sie diesen Männern ausgewichen?
Schücking-Homeyer: Man konnte sich ja aussuchen, mit wem man sich unterhielt.
SPIEGEL: In Ihren Briefen finden sich immer wieder Passagen wie "Aber die Juden, die meist die Geschäfte hatten, sind eben alle tot." Oder: "Juden gibt es hier in Zwiahel ja schon nicht mehr." Von Umbringen oder Mord schreiben Sie nichts. Hatten Sie Angst vor der Zensur?
Schücking-Homeyer: Natürlich. Wissen Sie, ich war ein ängstliches Mädchen. Meiner Mutter - die ganz anders war als ich - habe ich damals geschrieben, sie würde es keinen Tag aushalten. Und ich bin sicher, sie hätte einen Weg gefunden, von dort wegzukommen. Denn indem man dort blieb, stützte man ja das System. Aber ich wusste nicht, was ich als Grund hätte angeben können. Ich brauchte ja eine Genehmigung, um nach Deutschland zurückzukehren.
SPIEGEL: Sie glauben, dass Ihre Familie die Anspielungen verstand?
Schücking-Homeyer: Natürlich.
SPIEGEL: Konnten Sie sich mit der anderen Schwester austauschen?
Schücking-Homeyer: Nein, man sprach darüber nicht.
SPIEGEL: Aber jeder wusste Bescheid?
Schücking-Homeyer: Von den Frontsoldaten kann ich es nicht mit Gewissheit sagen. Aber alle, die in der Etappe waren und vor allem länger in der Etappe waren, wussten es.
SPIEGEL: Was macht Sie da so sicher?
Schücking-Homeyer: Weil bei den Gesprächen immer davon ausgegangen wurde, dass jeder es wusste. Ich habe Ihnen noch nicht erzählt, wie mir eines Tages ein Feldwebel namens Frank, angeblich aus Münster, bei einer Autofahrt berichtete, er werde innerhalb der folgenden Wochen bei einer größeren Erschießungsaktion mitmachen, und er mache das, weil er befördert werden wolle. Ich habe ihm gesagt, er solle es nicht tun, er werde hinterher nicht mehr schlafen können.
SPIEGEL: Und?
Schücking-Homeyer: Er hat es trotzdem getan und mir später vorgejammert, er könne nicht mehr schlafen und fühle sich so schlecht. Das habe ich Ihnen ja gesagt, habe ich erwidert.
SPIEGEL: Wieso hat er sich Ihnen anvertraut?
Schücking-Homeyer: Die Gespräche mit den Soldaten wurden oft schnell persönlich. Das waren alles Männer, die lange keine Frauen mehr um sich gehabt hatten, bis auf die Ukrainerinnen, aber mit denen konnten sie ja nicht reden, und die hatten alle ein großes Mitteilungsbedürfnis. Ein anderes Mal fuhr ich mit einem Lkw-Fahrer mit, und der fing ohne weitere Erklärung damit an, dass man in Kasatin südwestlich von Kiew einige hundert Juden zwei Tage habe hungern lassen, ehe man sie erschoss, weil die Erschießungskommandos anderweitig beschäftigt gewesen seien.
SPIEGEL: Das war dann unter vier Augen.
Schücking-Homeyer: Ja. Aber von einem der deutschen Landwirte, die im Raum Zwiahel das Sagen hatten, einem Herrn Nägel aus Hessen, wurde auch ganz offen erzählt, man habe die Juden an seinem Haus vorbeigetrieben. Seine Haushälterin, eine Jüdin, soll angeblich gelacht haben, und da habe er sie gezwungen, sich in den Zug einzureihen. Dass ich mit Verbrechern umging, war mir nach kurzer Zeit klar.
SPIEGEL: An Ihre Mutter schrieben Sie: "Bald bin ich auch so weit, dass ich die rechtlichen Empörungen in mir überwunden habe, und dann kann ich alles viel besser in mich aufnehmen. Auch die anständigsten Leute hier sind schon alle so weit. Wenn man die Geschichten auch alle nicht sieht, und hier ist es ja schon im Allgemeinen vorbei ... so wird man vergessen können. Bis jetzt zwar regt es mich immer noch wahnsinnig auf, ein Kind zu sehen, und zu wissen, dass es in 2-3 Tagen tot sein wird." Es liest sich, als ob Sie nach einem Weg suchten, die Grausamkeiten um Sie herum ertragen zu können.
Schücking-Homeyer: Ich erinnere mich daran nicht mehr genau. Vielleicht habe ich es auch geschrieben, um die Zensur zu täuschen.
SPIEGEL: Es finden sich freilich auch Passagen in Ihren Briefen, die den Eindruck erwecken, Sie hätten sich damals von Ihrem Umfeld infizieren lassen.
Schücking-Homeyer: Nein, mein Vater war Rechtsanwalt und hatte Berufsverbot seit 1933. Ich hatte daher große Angst vor der Zensur. Ich war nie Antisemitin; wir haben vielmehr später im Krieg mehrfach verfolgten Juden geholfen.
SPIEGEL: Was haben Sie nach dem Krieg mit Ihrem Wissen über die Vorgänge in Zwiahel gemacht?
Schücking-Homeyer: Ich kam zu dem Schluss, dass die Soldaten das zur Anzeige bringen würden. Aber dann hörte ich nichts davon. Da habe ich noch 1945 dem Staatsanwalt in Münster, der mich im Jahre 1943 ausgebildet hatte und inzwischen leitender Staatsanwalt war, vorgeschlagen, Beweissicherungsverfahren durchzuführen. Damals hatte man ja noch die Fakten alle parat, also welche Einheiten mit welchen Feldpostnummern vor Ort waren. Aber der Mann meinte, das müssten wir den Engländern überlassen. Er war wohl zu feige. Drei, vier Jahre später habe ich die Jüdische Gemeinde in Dortmund informiert, wo ich damals lebte, aber dort hat sich auch niemand dafür interessiert.
SPIEGEL: Und später?
Schücking-Homeyer: Sie konnten sich ja in der Justiz mit keinem Kollegen offen unterhalten, der im Osten gewesen war. Überall saßen noch die alten Nazis. Erst einige Jahre vor meiner Pensionierung kam das Thema Zwiahel wieder hoch. Ich war Richterin am Sozialgericht in Detmold und bekam 1974 eine Rentenversicherungsakte in die Hand. Sie stammte von einem Volksdeutschen, der sich seinen Dienst für die deutsche Polizei in Zwiahel 1941 anrechnen lassen wollte. Er hatte zur sogenannten ukrainischen Schutzmannschaft gezählt, von der ich vermutete, dass sie an den sogenannten Umsiedlungen beteiligt war. Ich schrieb ihm, dass ich genau wisse, was im Oktober 1941 in Zwiahel geschehen sei und er besser gegen mich einen Befangenheitsantrag stellen sollte. Das hat er sofort getan. Und mein Vertreter hat ihm die Zeit anerkannt, wie es das Gesetz leider vorsah.
SPIEGEL: Sie haben den Mann nicht angezeigt?
Schücking-Homeyer: Nein, er war ja nur ein kleines Rädchen. Aber ich habe mich dann erkundigt, ob die Zentralstelle in Ludwigsburg die Morde in Zwiahel inzwischen untersucht habe. Und ich habe dann alles ausgesagt, was ich wusste. Aus eigener Anschauung konnte ich als Zeugin freilich nur den Feldwebel Frank belasten. Den hat man aber nicht ermitteln können.