Sensationelle Tonaufnahme Spricht da Kaiser Wilhelm II.?

Truppen nach China: Kaiser Wilhelm II. verabschiedet am 27. Juli 1900 das deutsche Expeditionskorps vor der Einschiffung nach China.
Foto: Das BundesarchivEigentlich war das Jubiläum eines Weltbestsellers Anlass der Zusammenkunft. Vor 100 Jahren erschien "Biene Maja und ihre Abenteuer", und an diesem Tag im Juni 2012 wurden im Münchner Literaturarchiv zwei wissenschaftliche Studien zu dem Roman vorgestellt. Doch dann kam es zu einer sensationellen Entdeckung, die so gar nichts mit der beliebten Biene zu tun hatte.
Der kurzen Präsentation folgte eine fast zweistündige Diskussion. Standen zunächst die Anbiederungen des Autors Waldemar Bonsels an die Nazis im Vordergrund, spitzte sich das Interesse dann auf eine Passage in dem Kinderroman zu. Kurz bevor es zum Kampf der "guten" Bienen gegen die "aggressiven" Hornissen kommt, stachelt nämlich Bienenkönigin Henriette VIII. ihr Volk auf: "Es wird keine von ihnen ihre Heimat wiedersehen. Die Worte der Königin wirkten auf die Soldaten und Offiziere wie eine furchtbare Wahrsagung zum Unheil des Feindes, und der Mut aller hob sich."
Die Wendung wurde als eine Passage aus der meistzitierten Rede des deutschen Kaisers Wilhelm II. interpretiert, die unter der Bezeichnung "Hunnenrede" noch heute berüchtigt ist. Doch es gibt mehrere Versionen dieser Ansprache. An welcher Fassung hatte Bonsels sich orientiert?
Ein Gesprächsbeitrag, der die Diskussion verstummen ließ
Die Experten lieferten sich über diesen Punkt ein Wortgefecht - bis ein älterer Herr seine Hand hob. Heino Hanke, ein inzwischen verstorbener Buchhändler aus Schleißheim, sagte, er habe in den siebziger Jahren in Düsseldorf einen Edison-Phonografen mit einem größeren Karton voller Wachswalzen erworben. Darunter befinde sich auch eine mit der besagten Rede Wilhelms II.
Ein Gesprächsbeitrag, der die Diskussion umgehend verstummen ließ. Denn ein solches zeitgenössisches Dokument war bislang völlig unbekannt.
Seine "Hunnenrede" hielt Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven. Die Transportschiffe "Batavia", "Dresden" und "Halle" lagen am Pier des Norddeutschen Lloyd unter Dampf. Sie sollten 2000 Soldaten ins ferne China bringen. Die Soldaten traten in Reih und Glied zur Verabschiedung an. Sie trugen breitkrempige Hüte, wie sie von den deutschen Kolonialtruppen verwendet wurden. Die Truppen sollten helfen, den sogenannten Boxeraufstand niederzuschlagen.
Kurz nach 13 Uhr stieg Seine Kaiserliche Majestät Wilhelm II. auf das provisorisch errichtete hölzerne Gerüst. In seiner improvisierten Ansprache, die er von diesem Podium aus mit scharfer, weithin reichender Stimme hielt, hörte man die Sätze:
"Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen."
"Sie haben ja gerade das Schönste weggestrichen"
Bernhard von Bülow, zu dieser Zeit Staatssekretär im Auswärtigen Amt und damit praktisch Pressesprecher des Kaisers, war schockiert von der Rede. Denn Wilhelm II. hatte offenbar gerade ausdrücklich dazu aufgerufen, den Krieg in China unter Nichtbeachtung des Völkerrechts zu führen. Der Appell zum Vernichtungskrieg verstieß zudem explizit gegen die zweite Konvention der Haager Landkriegsordnung von 1899. In Artikel 23 heißt es ausdrücklich: "Abgesehen von den durch Sonderverträge aufgestellten Verboten, ist namentlich untersagt [ ] d) die Erklärung, daß kein Pardon gegeben wird."
Von Bülow gab Anweisung, die anwesenden Journalisten sollten auf die von ihm freigegebene Version warten - und die Reporter willigten ein. Nur einer scherte sich scheinbar nicht um die Ansage: Joseph Ditzen, damals Chefredakteur der "Nordwestdeutschen Zeitung". Er war Mitgründer und Miteigentümer des seit 1895 in Bremerhaven erscheinenden liberalen Blattes - ein Vorläufer der heutigen "Nordsee-Zeitung". Bis heute ist allerdings ungeklärt, ob er sich einfach nicht an die Order gehalten hat oder - wahrscheinlicher - sie ihn gar nicht erreicht hat, weil er nämlich schon auf dem Weg zurück in seine Redaktion war.
Wilhelm II. war von dem Eingreifen seines Staatssekretärs wenig begeistert, wie von Bülow sich in seiner Autobiografie "Denkwürdigkeiten" erinnert: Bei der Abendtafel auf der kaiserlichen Yacht "Hohenzollern" seien die Zeitungen gebracht worden. "Der Kaiser", so von Bülow, "griff nach ihnen und war sehr verwundert, seine Rede nur in der ihr von mir gegebenen Fassung, d. h. unter Weglassung der bedenklichen Wendungen, zu finden. Sie haben ja gerade das Schönste weggestrichen, meinte er zu mir, der ich ihm gegenübersaß, weniger erzürnt als enttäuscht und betrübt."
Doch der Kaiser konnte getröstet werden. Mit der "Nordwestdeutschen Zeitung", in der die Worte des Kaisers unzensiert gebracht wurden: "Der Kaiser war entzückt, als er nun seine Rede in ihrem vollen Wortlaut las."
Die schrecklichen Folgen der Rede
Neben der inoffiziellen, vollständigen Version, die zu lesen den Kaiser so entzückt hatte, leitete von Bülow noch an jenem 27. Juli 1900 zwei verschieden redigierte Fassungen über Wolffs Telegraphen-Bureau (WTB) an die Presse weiter. In der ersten fand sich kein Wort von den Hunnen und dem Pardon, das nicht gegeben wird. Da sich aber die Formulierung "Pardon wird nicht gegeben" durch die Veröffentlichung in der "Nordwestdeutschen Zeitung" nicht mehr unterdrücken ließ, fertigte von Bülow eine zweite Version an. Sie enthält zwar den Wortlaut "Pardon wird nicht gegeben...", aber erwähnt mit keiner Silbe die Hunnen.
So ist die Überlieferung der heute bekannten "Hunnenrede" eigentlich ein journalistischer Scoop, denn in den offiziellen Versionen kommen die Hunnen gar nicht vor. Dennoch, so Bernhard von Bülow in seinen "Denkwürdigkeiten", ist sie die "schlimmste Rede jener Zeit und vielleicht die schädlichste, die Wilhelm II. je gehalten".
Dies zeigt sich an dem Vorgehen der deutschen Truppen in China: Als diese eintrafen, hatten die internationalen Verbände (vor allem Russen und Amerikaner) die eingeschlossenen Gesandtschaften in Peking längst befreit. Dennoch wurden mit deutscher Beteiligung zahlreiche "Strafexpeditionen" entsandt und Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet. Diese Ausschreitungen waren durch die "Hunnenrede" des Kaisers angefeuert und autorisiert.
Ist es die Stimme von Wilhelm II.?
Die Entdeckung einer Edison-Wachswalze an dem Abend im Münchner Literaturarchiv führte zu einer detektivischen Auswertung des Fundes, die vom Bayerischen Rundfunk begleitet wurde. In der Dokumentation "Ein Fund. Die 'Hunnenrede' Wilhelms II. auf einer Wachswalze" datiert der Experte Norman Bruderhofer - er hatte erst im vergangenen Jahr Bismarcks Stimme auf einer Edison-Walze verifiziert - die Walze zwischen 1900 und spätestens 1905.
Die Vermutung, dass Wilhelm II., der diese Rede ja für bedeutsam hielt, selbst auf Wachs gesprochen hat, konnte nicht zuverlässig bestätigt werden. Es gibt zwar unüberhörbare Ähnlichkeiten mit einer nachweislich von Wilhelm II. besprochenen Edison-Wachswalze aus dem Jahr 1905. Ein Stimmenvergleich des Landeskriminalamtes Bayern konnte dies nicht eindeutig bestätigen, aber laut den Experten "spricht mehr dafür als dagegen".
Die Transkription brachte indessen keine neue Version der "Hunnenrede" zu Tage. Der Text entspricht der zweiten von Bernhard von Bülow redigierten Version, also der letztlich amtlichen. Der Fund dieser Wachswalze ist dennoch eine historische Sensation - ein bislang unbekanntes, zudem einzigartiges Dokument vom Beginn des Medienzeitalters.