
Handball-Weltmeister 1978 Jimmys magische Minuten


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SPIEGEL: Die deutschen Handballer sind in der Hauptrunde der Europameisterschaft 2018 gescheitert. Was fehlte ihnen zur Titelverteidigung?
Waltke: Die Spieler fühlten sich nach meinem Eindruck während des gesamten Turniers nicht wohl. Im entscheidenden Spiel gegen Spanien waren sie total verunsichert, das war erschütternd. Der neue Trainer Christian Prokop hat eine etablierte Mannschaft auseinandergenommen und auch taktisch ganz offensichtlich zu viel verändert. Das konnte die Mannschaft nicht verkraften.
SPIEGEL: Sie haben Finalerfahrung und wurden 1978 in Kopenhagen Weltmeister, als Deutschland den Favoriten Sowjetunion mit 20:19 schlug. Warum hatte Trainer Vlado Stenzel Sie vor dem Endspiel nicht eingesetzt?
Waltke: Stenzel erklärte so etwas nicht. Er verkündete vor den Spielen seine Aufstellung, ich war nicht ein einziges Mal dabei. Das habe ich nicht verstanden. Ich fühlte mich überflüssig und deplatziert, zumal ich in den Vorbereitungsspielen eigentlich eine gute Rolle gespielt hatte. Zwischenzeitlich habe ich sogar damit geliebäugelt, nach Hause zu fahren.
SPIEGEL: Färbte das nicht auf die Stimmung in der Mannschaft ab?
Waltke: Nein, die war sogar richtig gut. Ich kannte Erhard Wunderlich, Joachim Deckarm, Heiner Brand und die anderen ja schon aus der Liga und hatte bis zur WM einige Länderspiele absolviert. Mit Jo Deckarm und Arno Ehret war ich oft auf einem Zimmer. Stenzel legte entweder zwei Spieler zusammen, die auf dem Feld nebeneinanderstanden, also Jo als Halblinken und mich als Linksaußen, oder zwei Spieler der gleichen Position, das waren Arno und ich. Jo hatte diese ruhige, besonnene Art, die mich damals schon sehr beeindruckt hat. Und mit Arno freundete ich mich an, obwohl er eigentlich mein direkter Konkurrent war. Die Chemie im Team stimmte einfach, das ging über den Handball hinaus.
SPIEGEL: Im Finale wechselte Stenzel Sie nach 39 Minuten für Arno Ehret ein. Warum?
Waltke: Angeblich hatte Arno in der Abwehr einen Fehler gemacht, den Stenzel ihm erklären wollte. Jedenfalls gab der Trainer mir ein Zeichen und ich lief aufs Feld.
SPIEGEL: Im Turnier hatten Sie noch keine Sekunde gespielt und warfen dann drei Tore in Folge, zum 14:12, 15:12 und 16:12, wie im Rausch...
Waltke: Alles ergab sich irgendwie. Ich war nie ein Feigling, und wenn ich eine Chance habe, dann werfe ich. Beim ersten Tor war ich relativ frei auf Linksaußen. Beim zweiten habe ich einen Doppelpass mit Heiner Brand gespielt und war wieder völlig frei vor dem Tor.
SPIEGEL: Den Spielzug hatten Sie eingeleitet.
Waltke: Da hatte ich einfach die richtige Idee. Ich konnte ein Spiel ganz gut lesen und war den anderen oft einen Schritt voraus. Manchmal ist es auch Gefühlssache, beim dritten Tor habe ich trotz meiner 1,86 Meter über die zwei Meter großen Russen geworfen. So ein wichtiges Spiel kann ja auch hemmen. Bei Erhard Wunderlich war das ein bisschen zu spüren, er lief sich häufig in der Abwehr fest, wo er normalerweise geworfen hätte. Bei mir ging in diesem Spiel alles wie von selbst. Im Leben kann mir keiner erklären, warum das so war.
SPIEGEL: Der Hattrick gelang Ihnen innerhalb von vier Minuten und 14 Sekunden. Warum hat Stenzel Sie wieder ausgewechselt?
Waltke: Er hat es gar nicht mitbekommen, vielleicht weil er Arno seinen Fehler erklärt hat. Eine andere Erklärung habe ich nicht, denn wer nimmt jemanden raus, der gerade so einen Lauf hat?
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SPIEGEL: In der Öffentlichkeit galt Stenzel als "Magier", der Sie als Joker einsetzte.
Waltke: Stenzel war ein sehr guter Trainer mit vielen tollen Ideen, aber manchmal auch verpeilt. Es kam vor, dass er zwei Leute aus- und einen wieder einwechselte. Auch im Finale passierte das, etwa zehn Minuten vor Schluss. Auf der rechten Seite fehlte jemand in der Verteidigung, da bin ich reingegangen und habe dann sogar den nächsten Angriff noch mitgespielt. Das Ganze dauerte eine halbe Minute. So zitterten wir uns zum Schlusspfiff.
SPIEGEL: Wie ging es nach dem Spiel weiter?
Waltke: Jo Deckarm musste noch zur Dopingkontrolle, aber in der Kabine knallten die Korken. Wir waren bei der Brauerei Tuborg eingeladen und haben gefeiert, auch im Bus, der nachts zurückfuhr. Rainer Niemeyer und ich waren die einzigen Norddeutschen im Kader, deshalb sind wir an einer Autobahnraststätte bei Osnabrück ausgestiegen und wurden von unseren Frauen abgeholt.
SPIEGEL: Welche Rolle spielten Sie nach dem Titelgewinn in der Nationalmannschaft?
Waltke: Bis 1980 war es eine tolle Zeit für mich. Nach der WM hatte ich ein ganz anderes Standing, etwa gleichauf mit Arno Ehret. Am 30. März 1979 war ich zum ersten Mal Kapitän, als wir in Wuppertal gegen Japan spielten. Am selben Tag ist Jo Deckarm so schwer verunglückt, beim Europapokalspiel des VfL Gummersbach in Ungarn. Ein Jahr später kam der Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Für mich war das sehr schwer nachvollziehbar - wir hatten schon unsere Olympiaausrüstung und eine große Chance auf Gold.
SPIEGEL: Warum kam es 1981 mit Stenzel zum Bruch?
Waltke: Er kümmerte sich mehr um die Vermarktung von Würsten als um die Nationalmannschaft und erschien einfach nicht mehr zu Lehrgängen. Das Fass zum Überlaufen brachte sein Verhalten vor einem Länderspiel: Stenzel informierte mich und einige andere Nationalspieler wie Arno Ehret und Horst Spengler nicht einmal mehr persönlich, dass er uns nicht berufen wollte. Daraufhin traten wir zurück. Es war trotzdem eine intensive Zeit, mit dem TuS Nettelstedt holte ich im gleichen Jahr den Europapokal der Pokalsieger.
SPIEGEL: Sie stammen aus einer Region in Ostwestfalen mit drei Bundesligisten im Umkreis von 30 Kilometern. War immer klar, dass Sie Handballer werden?
Waltke: Ich hätte auch Leichtathlet werden können. Im Mittel- und Langstreckenlauf war ich auf Kreisebene gleichauf mit Thomas Wessinghage, dem späteren Europameister über 5000 Meter. Noch lieber hätte ich Fußball gespielt, aber in meiner Heimat hattest du da keine Chance, das war immer schon eine Handballhochburg. Später als Student habe ich im Fußball besser abgeschnitten als im Handball.
SPIEGEL: Wie haben Sie das Studium mit dem Leistungssport unter einen Hut gebracht?
Waltke: Rainer Niemeyer und ich haben uns morgens getroffen, sind mit dem Auto zur Bielefelder Uni gefahren und abends zurück zum Training. Mit Rainer, der vor zwei Jahren gestorben ist, habe ich Wochen, Monate, Jahre verbracht. Das Studium habe ich 1980 abgeschlossen und ein Referendariat auf einem Gymnasium in der Nähe begonnen, als Lehrer für Sport und Geschichte.
SPIEGEL: Sie trugen immer schon lange Haare, waren Sie Hippie?
Waltke: Die Szene hat mich schon sehr beeinflusst. Ich war als Jugendlicher viel auf Musikfestivals unterwegs, 1970 war ich auf dem Love-and-Peace-Festival auf Fehmarn, wo Jimi Hendrix seinen berühmten Auftritt hatte. Und ich war häufig bei meinem Bruder in Berlin, der lebte in Kreuzberg neben mehreren besetzten Häusern. Schon vor dem Leistungssport war ich ein Wanderer zwischen den Welten.
SPIEGEL: Und wegen Rockstar Jimi Hendrix bekamen Sie den Spitznamen Jimmy?
Waltke: Es gibt noch eine andere Version - im "Stern" gab es mal eine Comicserie, die hieß "Jimmy das Gummipferd", weil es so hoch springen konnte.
SPIEGEL: In der Handball-Bundesliga haben Sie für Grün-Weiß Dankersen und TuS Nettelstedt gespielt. Hatten Sie nie den Wunsch, bei einem größeren Verein zu spielen?
Waltke: Nein, ich hätte noch nach Kiel, Lemgo oder Hameln wechseln können, wollte aber nicht. Meine Eltern waren Landwirte, ich wohne immer noch genau dort, wo ihr Haus stand. Da, wo ich jetzt sitze, das ist auch mein Geburtsort. Ich schaue aus dem Fenster auf die Linde, die meine Großmutter zu ihrer Hochzeit gepflanzt hat, und hinter dem Garten fahren die Schiffe auf dem Mittellandkanal vorbei. Wer hätte gedacht, dass wir jetzt, 40 Jahre später, immer noch über den Weltmeistertitel reden.
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On Fire! Bei der Handball-WM 1978 war Dieter "Jimmy" Waltke nur Statist, Zuschauer, Bankdrücker. Bis er ausgerechnet im Finale das Spiel seines Lebens spielte - oder genauer: 4 Minuten und 14 Sekunden wie im Rausch.
Handball-Helden: Favoriten? Nein. Echt nicht. Noch bei der Weltmeisterschaft 1974 hatte die deutsche Handball-Nationalmannschaft ein Desaster erlebt. Bei der WM 1978 in Dänemark hatte sie niemand auf der Rechnung. Aber dann drehten die Männer als jüngstes Team des Turniers auf - und im Finale trug Linksaußen Jimmy Waltke viel zum Sieg bei.
Dieter Waltke (geboren am 26. Dezember 1953) fiel auch durch seine lockige Haarpracht auf, die an Gitarrengott Jimi Hendrix erinnert - alle nannten ihn Jimmy. Ein klassisch ausgebildeter Handballer war er nicht, versuchte sich zunächst als sehr guter Läufer und wechselte erst als 16-Jähriger von der Leichtathletik zum Handball. Bald machte er sich als Linksaußen einen Namen und konnte raketenartig zu Tempogegenstößen starten. Mit 21 stieß Waltke zur Nationalmannschaft, rutschte aus dem Kader, kam erst 1977 wieder zurück.
Bankdrücker: Waltke (hier mit Gerd Rosendahl) war schneller als alle anderen, das schon. Aber seine Sprintfähigkeiten konnte er im Turnier 1978 lange nicht ausspielen - bis zum Finale spielte er keine einzige Sekunde und war tief enttäuscht.
Eine Runde Skat zur Entspannung: Die Zeit zwischen den Spielen vertrieben sich die Handballer 1978 mit Karten, hier Arno Ehret (links) und Jimmy Waltke, der sich ja drei Wochen lang schonen konnte, wie er selbst sarkastisch sagte.
Einmarsch der deutschen Mannschaft: Seine Jacke konnte Waltke bei all den Spielen gleich anbehalten. Dass er bis zum WM-Finale überhaupt nicht zum Einsatz kam, wurmte ihn so sehr, dass er schon seine Koffer packen und abreisen wollte. Erst am Tag vor dem Endspiel teilte Trainer Vlado Stenzel ihm mit, dass er sich Hoffnungen machen konnte: "Du spielst morgen."
Bämm! In der 39. Minute des Finales gegen die Sowjetunion kam Waltke tatsächlich aufs Feld, nachdem sein Konkurrent und Freund Arno Ehret einen Fehler gemacht hatte. Gleich in seiner ersten Spielminute des Turniers kam er von links frei zum Zug und erzielte das 14:12. Und so machte Waltke weiter - nach einem Doppelpass mit Heiner Brand warf er auch gleich das 15:12 (Foto). Da waren 98 Sekunden vergangen.
Wie im Rausch: Wenn's einmal läuft, dann läuft's. Waltke war kein Rückraumspieler und mit 1,86 Meter auch kein Handballhüne. Aber im Finale gelang ihm alles. Also schnappte er sich in der 44. Minute den Ball, stieg im Rückraum hoch und schleuderte den Ball ins linke untere Eck. 16:12, der Hattrick war perfekt, nach nur 4:14 Minuten. Und trotzdem wurde der Linksaußen, der so entfesselt warf und mit seinen drei Treffern am Stück praktisch das Spiel entschied, danach ausgewechselt.
Zone des Schmerzes: Heiner Brand wurde von Bundestrainer Vlado Stenzel als bester Abwehrspieler der Welt gepriesen. Aber der Mittelmann ging im WM-Endspiel von 1978 auch dahin, wo es weh tat. In dieser Szene nahmen ihn Kushnirjuk (Nr. 4) und Tschernyschew (Nr. 10) in die Zange. Gejammert wurde nicht. Stenzel hatte den Spielern Proteste verboten. Am Boden: Rechtsaußen Gerd Rosendahl.
Der Außenseiter: Die Mannschaft, die am 5. Februar 1978 in den Brøndyhallen Handballgeschichte schrieb. Von links: Kapitän Horst Spengler, Torwart Manfred Hofmann, Torwart Rainer Niemeyer, Erhard Wunderlich, Manfred Freisler, Kurt Klühspies, Joachim Deckarm, Heiner Brand, Dieter Waltke, Arnulf Meffle, Arno Ehret, Gerd Rosendahl.
Der Favorit: Der Olympiasieger Sowjetunion vor dem Finale. Kapitän Wladimir Maximow (der sein letztes Länderspiel absolvierte), Wladimir Krawzow, Juri Kidjaev, Torwart Nikolai Tomin, Schuk, Valeri Gassi, Vassili Iljin, Torwart Mikhail Ischtschenko, Alexander Resanow, Sergey Kushnirjuk, Alexander Anpilogov, Jewgeni Tschernyschew.
Kongeniales Gespann: Wichtigster Partner von Bundestrainer Vlado Stenzel (rechts) war Heinz Jacobsen (links), der als Spielwart des Deutschen Handballbundes 1974 die Ernennung Stenzels betrieben hatte. Jacobsen vermittelte, wenn es Spannungen gab, zwischen Trainer und Mannschaft. Als Stenzel sich 1979 mit Jacobsen überwarf, begann der Niedergang der Weltmeistermannschaft.
Der Star war der Trainer: Schon im Herbst 1974 wurde Bundestrainer Stenzel, just ein paar Wochen im Amt, nicht nur von der "Zeit" als "Magier" gefeiert. Und er genoss seine Popularität in vollen Zügen. Gern gab er Autogramme, so wie hiervor dem dritten WM-Vorrundenspiel 1978 gegen sein Heimatland Jugoslawien (18:13). Mannschaftsarzt Heinz Rehberg staunt.
Wurstverkäufer: Nach dem Titelgewinn diente der Hobbykoch Stenzel (Mitte) einer Wurstfirma als Testimonial. Gern lud Stenzel, der äußerst großzügig war, auch seine Spieler zu sich ins Niederrheinische ein. Hier kosten Rudi Rauer, Jimmy Waltke, Richard Boszkowski, Rainer Niemeyer, Claus Hormel, Manfred Freisler (verdeckt) und Arno Ehret von den Fleischprodukten.
Angetreten: Vor jedem Training ließ Stenzel, ein Disziplinfanatiker, seine Spieler vor sich in Reih und Glied antreten. Hier horchen die Spieler in der WM-Vorrunde in Odense seiner Ansprache.
Entschlossenheit: Horst Spengler hatte in Dänemark die meisten Länderspiele und war daher Kapitän des Teams. Den Kreisläufer zeichnete große Wucht und Griffigkeit aus. Wenn er eine Chance zum Wurf sah, stürzte er sich in den Kreis, als gäbe es kein Morgen. Hier haben Rhezanow (Nr. 14) und Maximow (Nr. 2) das Nachsehen, Heiner Brand (rechts) und Erhard Wunderlich verfolgen die Szene.
Der Star: Der Halblinke Joachim Deckarm zählt den zu den komplettesten Handballern des 20. Jahrhunderts. Er steuerte 1978 das deutsche Spiel und fungierte zugleich, obwohl er nicht sehr groß war, als Shooter. Mit seiner durch den Zehnkampf geschulten Athletik und Motorik überragte er alle Zeitgenossen. Sein tragischer Unfall 1979 in Tatabanya, der ihn nach einem 131 Tage währenden Koma zum Invaliden machte, schockte die Handballwelt.
Flinker Flügel: Linksaußen Arno Ehret bestach in den Siebzigerjahren mit seiner hohen Geschwindigkeit und feinen Technik. Zugleich war er ausgesprochen sprungkräftig, weshalb er, von Stenzel geschult, oft in den Rückraum einlief und auch per Sprungwurf zum Erfolg kam. Hier verwandelte er im Finale von 1978 einen Tempogegenstoß gegen den sowjetischen Keeper Istschenko.
Die Deckung steht: Die DHB-Auswahl profitierte nicht nur im WM-Finale davon, viele Abwehrvarianten zu beherrschen. Neben der 6:0-Deckung, die Heiner Brand (Nr. 14) organisierte, spielte sie auch oft mit dem wendigen Arnulf Meffle (Nr. 2) als vorgezogenem Verteidiger in einem 5:1-System. Auch Joachim Deckarm war ein ausgezeichneter Abwehrspieler.
Brutalität: Während heute ein Ehrenkodex unter Handballprofis herrscht, der schmutzige Fouls verbietet, ging es 1978 im Hallenhandball noch viel brutaler zu. Hier leidet Kapitän Spengler im WM-Finale nach einem Foul von Iljin. Aber diese Behandlungspause in der 39. Minute des Endspiels hatte auch ihr Gutes, denn in dieser Phase brachte Trainer Stenzel den Joker Jimmy Waltke.
Der Türöffner zum Finale: Die am meisten diskutierte Szene während der WM lieferte Heiner Brand im ersten Hauptrundenspiel gegen die DDR (14:14). Als Gegenspieler Hartmut Krüger einen Ball zur Ausführung eines Neunmeters aufs Feld rollte, schnappte sich Brand den Ball, lief einen Tempogegenstoß und schmetterte das Leder an DDR-Keeper Wieland Schmidt vorbei zum 14:14 ins Netz. Die DDR-Spieler protestierten heftig. Aber der Treffer wurde anerkannt.
Klein, aber oho: Rechtsaußen Arnulf Meffle war dem sowjetischen Mittelblock physisch klar unterlegen. Aber auch der jüngste deutsche Spieler besaß im Endspiel so viel Selbstbewusstsein, dass er sich einen Sprungwurf zutraute. In dieser Szene scheiterte er allerdings an Rhezanow (Nr. 14) und Tschernyschew (Nr. 10).
Mit links: Kurt Klühspies war 1978 der einzige deutsche Rückraum-Linkshänder auf Weltklasse-Niveau. Der Großwallstädter, hier im Duell mit Kushnirjuk, war zwar athletisch nicht überragend, bestach aber durch seine Cleverness und Abgezocktheit. Nur zwei Wochen vor Turnierstart absolvierte er die Prüfung zum Industriemeister. "Erst Industriemeister, dann Weltmeister, das Jahr fängt gut an", strahlte er in Kopenhagen.
Nachrücker: Das letzte WM-Ticket ergatterte sich Claus Hormel (Foto), Kreisläufer von der SG Dietzenbach, mit starken Leistungen in den letzten beiden Testspielen gegen Spanien. In der WM-Vorrunde - hier eine Szene vom 16:13-Auftaktsieg gegen die CSSR - konnte der Polizeibeamte jedoch nicht überzeugen, weshalb Stenzel ihn vor der Hauptrunde aus dem Team nahm.
Jahrhunderttalent: Schon bei der Junioren-WM 1977 hatte Erhard Wunderlich (hier im Duell gegen den Jugoslawen Hrvoje Horvat) sein riesiges Potenzial angedeutet. UdSSR-Coach Anatoli Jewtuschenko rühmte ihn als größtes Talent im Welthandball. Bei der WM 1978 aber stand auf der halblinken Königsposition noch Joachim Deckarm vor ihm, weshalb Wunderlich auch auf Halbrechts zum Einsatz kam und dort vor allem als Passgeber glänzte.
Mann gegen Mann: Torwart Manfred Hofmann trug im Auftrag von Stenzel grelle Trainingsanzüge im Schlabberlook, um die Gegner zu irritieren und möglichst viel Raum abzudecken. Hofmann gilt als Begründer der deutschen Torwartära. Und er war ein Siebenmetertöter. Im Finale hielt er drei von neun Strafwürfen.
Der Held von Karl-Marx-Stadt: Seinen Ruf als abgekochter Keeper hatte Hofmann in einer einzigen Sekunde erworben. In der letzten Sekunde des Olympiaqualifikationsspiels gegen die DDR am 6. März 1976 hielt er den entscheidenden Siebenmeter gegen Hans Engel (Foto). Die Szene machte ihn auch deshalb berühmt, weil das Spiel in der Hochzeit des Kalten Krieges live in der ARD-Sportschau übertragen wurde. Die Fußball-Bundesliga musste an diesem Tag zurückstehen.
Der größte Gegner im Finale hieß Tschernyschew. In der ersten Halbzeit überwand der russische Rückraumspieler die deutsche Deckung immer wieder von halbrechten Position, hier überwindet er Joachim Deckarm. Nach einer missglückten Abwehraktion geriet Tschernyschew aber mit Trainer Jewtuschenko aneinander und musste auf die Bank. Zum Glück für die Deutschen.
Gruppenbild mit Bronzestatue: Stolz präsentiert der neue Weltmeister den Pokal, eine wertvolle Handballerplastik eines spanischen Künstlers.
Der König von Kopenhagen: Nach dem Finale ließ sich "Magier" Stenzel von den vielen deutschen Fans, die nach Kopenhagen gereist waren, gern schultern und feiern. Die goldene Krone hatte ihm Fans des kleinen hessischen Vereins SV Crumstadt aufgesetzt.
Blick zurück im Zorn? Zu seinem Trainer habe er ein zwiespältiges Verhältnis gehabt, sagt Jimmy Waltke (Foto von 2012) - und die ruhmreiche Geschichte vom "Joker", die Stenzel nach dem Endspiel gern erzählte, habe ihn immer gestört. "Er nimmt jemanden raus, der gerade so einen Lauf hat?", dafür weiß Waltke keine richtige Erklärung und bezeichnet Stenzel im SPIEGEL-Interview als "sehr guten Trainer mit vielen tollen Ideen, aber manchmal auch verpeilt".
Aufstieg und Hybris: "In den wichtigsten Phasen eines Spiels muss die eingespielte Truppe spielen", sagte der Trainer (hier auf einem Foto von 2003) später zur Begründung. "In dieser Truppe muss sich niemand zeigen. Der Waltke hätte auch weiter aus allen Positionen geworfen, aber bestimmt nicht immer getroffen. Das hat er bis heute nicht begriffen." Nach dem Olympiasieg 1972 mit Jugoslawien und dem WM-Sieg 1978 konnte Stenzel, abgesehen vom Europapokalsieg 1990 mit Milbertshofen, keine großen Erfolge mehr feiern. Aber er beschäftigt sich bis heute mit seiner Sportart. Auf seiner Visitenkarte steht: Vlado Stenzel, Handballforschung und -förderung.
Traditionsteam: Die Weltmeister von 1978 spielten lange als Traditionsmannschaft für karitative Zwecke, etwa zugunsten des Deckarm-Fonds bei der Deutschen Sporthilfe. Hier ein Foto vom 30. November 2001 in der Kölnarena, als das Team im Vorprogramm für das Weltrekordspiel VfL Gummersbach - THW Kiel auflief. Im Bild, hinten von links: Reinhard van der Heusen, Kurt Klühspies, Manfred Freisler, Torwart Rudi Rauer, Thomas Krokowski, Heiner Brand. Vorn von links: Claus Hormel, Gerd Rosendahl, Horst Spengler, Richard Boczkowski, Walter Don, Arnulf Meffle.
Weltmeister Deutschland, Teil 1: Den ersten Titel eines Hallenhandball-Weltmeisters hatte Deutschland 1938 in der Deutschlandhalle in Berlin gewonnen. Damals nahmen allerdings nur vier Mannschaften teil (neben Deutschland noch Dänemark, Schweden und Österreich). Auch 1938 war der Trainer der größte Star: Otto Günter Kaundinya, der als der beste Handballer der Zwanzigerjahre gefeiert wurde.
Weltmeister Deutschland, Teil 3: Es dauerte nach 1978 lange 29 Jahre, bis eine deutsche Mannschaft wieder Weltmeister wurde. Das "Wintermärchen" von 2007 bedeutete, weil über 20 Millionen Zuschauer vor den deutschen TV-Geräten beim 29:24-Finalsieg gegen Polen mitfieberten, einen medialen Durchbruch für den Handball. Hier stemmt Kapitän Markus Baur den Pokal in die Höhe.
Manfred Hofmann (TV Großwallstadt, geboren am 30.1.1948 in Großwallstadt)
Die absolute Härte sind Oberlippenbärte, weiß man heute. Aber in den Siebzigerjahren trug man das so, nicht nur im Handball-Weltmeisterteam von 1978. Beim schnurrbärtigen Torwart ging es gleich los. Manfred Hofmann wollte schon nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen, wurde von Stenzel 1974 reaktiviert und entwickelte sich zum Stammkeeper. Er begründete die große Ära deutscher Torleute im Handball und schrieb Sportgeschichte als "Held von Karl-Marx-Stadt", denn dort sicherte er mit einem Reflex die Olympia-Qualifikation. Hofmann arbeitete während und nach der Karriere als Bankkaufmann.
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Arno Ehret (TuS Hofweier, geboren am 11. Dezember 1953 in Lahr)
Der intelligente Linksaußen bestach durch seine Schnelligkeit und feine Technik, er gilt als Erfinder des "Legers", des flachen Hebers über den Torwart hinweg. Unter Stenzel war Ehret stets Stammspieler, so auch bei der WM in Dänemark. Der gelernte Realschullehrer (Mathe, Sport) war von 1993 bis 1997 Bundestrainer und trainierte auch mehrfach die Schweiz. Wenn er nicht als Trainer arbeitet, wirkt er als Berater und Dozent.
Heiner Brand (VfL Gummersbach, geboren am 26. Juli 1952 in Gummersbach)
Der Mittelmann von 1978 ist heute das bekannteste Gesicht des deutschen Handballs, weil er als Spieler wie als Trainer (2007) Weltmeister wurde, als einziger weltweit. Er galt 1978 als bester Abwehrspieler der Welt und zählte zum Kern des Teams. Von 1997 bis 2013 war er Bundestrainer; viele Menschen, die sich mit Handball seltener beschäftigen, glauben, das sei noch immer so. Der Mann mit dem extramarkanten Schnäuzer blieb sein ganzes Leben in Gummersbach und arbeitet heute als Experte für den Sender Sky.
Joachim Deckarm (VfL Gummersbach, geboren am 19. Januar 1954 in Saarbrücken)
Die zentrale Figur im System Stenzels und 1978 der einzige echte Star im Team. Ohne den Halblinken Deckarm, der in der Jugend einer der besten Zehnkämpfer Deutschlands war, wäre der WM-Titel unmöglich gewesen. Sein tragischer Unfall beim Europapokalspiel 1979 in Tatabanya, der ihn für 131 Tage ins Koma stürzte, schockte die Handballwelt. Seither benötigt Deckarm Betreuung; er steckte nicht auf, seine Lebensfreude kehrte zurück. Die 78er-Weltmeister kümmern sich mit dem Deckarm-Fonds in der Deutschen Sporthilfe um ihre Leitfigur.
Erhard Wunderlich (VfL Gummersbach, geboren am 14. Dezember 1956 in Augsburg, gestorben am 4. Oktober 2012 in Köln)
Der später zum Jahrhunderthandballer gewählte Rechtshänder kam bei der WM 1978 vorwiegend auf Halbrechts zum Einsatz und bekam insbesondere für seine famosen Anspiele glänzende Kritiken. Er wurde 1983, als er zum FC Barcelona wechselte, zum bestbezahlten Handballprofi der Welt. Wunderlich, der sich nach der Karriere als Hotelier versuchte, erkrankte an Krebs und starb 2012 als erster der 78er-Weltmeister.
Kurt Klühspies (TV Großwallstadt, geboren am 4. Februar 1952 in Würzburg-Heidingsfeld)
Der extrovertierte Linkshänder zählte ab 1974 zum Stamm Stenzels. Er absolvierte nur wenige Wochen vor der WM die Prüfung zum Industriemeister und hatte seinen stärksten Auftritt in der Hauptrunde gegen die DDR. Mit Hofmann begründete Klühspies die große Ära des TV Großwallstadt. Nach der Karriere arbeitete er als Key-Account-Manager bei Adidas.
Jimmy Waltke (GW Dankersen, geboren am 26. Dezember 1953 in Hille)
Seit dem WM-Finale 1978 der berühmteste Joker der Handballgeschichte. Sein Hattrick im Endspiel von 13:12 auf 16:12 brachte das Team auf die Siegerstraße. Vorher hatte er keine Sekunde gespielt. Waltke arbeitete als Lehrer für Sport und Geschichte und bildete unter anderem den späteren Nationalmannschaftskapitän Frank von Behren aus.
Arnulf Meffle (TuS Hofweier, geboren am 1. Dezember 1957 in Langhurst)
Der jüngste Weltmeister, der im Sommer 1977 noch den Wettbewerb "Jugend trainiert für Olympia" gewonnen hatte, brillierte bei der WM 1978 als vorgezogener Abwehrspieler. Der Rechtsaußen besaß die seltene Eigenschaft, gegen große Gegner seine beste Leistung abzurufen. Er arbeitete nach der Karriere als Lehrer für Sport und Mathematik.
Claus Hormel (SG Dietzenbach, geboren am 3. Mai 1957 in Frankfurt/Main)
Der Kreisläufer war erst im letzten Moment auf den WM-Zug aufgesprungen. Er absolvierte bei der WM die drei Vorrundenspiele gegen die CSSR, Kanada und Jugoslawien. Hormel arbeitet als Ausbildungsleiter bei der Polizei in Mühlheim/Offenbach und engagierte sich als Jugendtrainer.
Richard Boszkowski (TuS Nettelstedt, geboren am 18. Mai 1953 in Schwarzenofen/Polen)
Der "vergessene Weltmeister" (so "Handball inside") spiegelte die Heldengeschichte von Jimmy Waltke, weil Stenzel ihn vor dem Endspiel gegen Waltke austauschte. Andererseits war er der einzige Spieler, der den WM-Titel monetarisieren konnte, als er 1979 einen hochdotierten Dreijahresvertrag in Jeddah (Saudi-Arabien) unterschrieb.
Manfred Freisler (TV Großwallstadt, geboren am 28. Oktober 1957 in Hochheim)
Der wurfgewaltige Halblinke, zweitjüngster Champion, war zweiter Mann hinter dem Star Joachim Deckarm: "Das war meine Rolle, und die habe ich auch akzeptiert." Er bildete als Trainer der Kreisauswahl die Nationalspieler Jan-Olaf Immel und Pascal Hens mit aus. Seine Passion ist die Arbeit in einer Justizvollzugsanstalt, in der der Pädagoge Handballtrainings mit Häftlingen durchführt.
Gerd Rosendahl (OSC Rheinhausen, geboren am 8. September 1956 in Duisburg)
Er bildete mit Meffle das Gespann auf Rechtsaußen, so wie schon bei der Junioren-WM 1977 in Schweden. Kam ins Team, nachdem Stenzel den Star Heiner Möller rausgeschmissen hatte. Rosendahl wirkte nach 2000 als Aufsichtsratsmitglied beim VfL Gummersbach und arbeitete als Chef eines Automobilzulieferers, zuletzt war er Manager eines slowenischen Konzerns.
Horst Spengler (TV Hüttenberg, geboren am 10. Februar 1950 in Lützellinden)
Der Kapitän des Teams war neben Deckarm einer der beiden Spieler aus dem WM-Team von 1974. Spengler glänzte als griffiger und extrem motivierter Kreisläufer und wurde später Rekordnationalspieler. Drei Tage nach dem WM-Sieg trat er sein Referendariat als Lehrer für Physik, Sport und Mathematik an und berät heute den Bundesligisten HSG Wetzlar beim Scouting.
Claus Fey (VfL Gummersbach, geboren am 10. März 1955 in Kleve)
Der Rückraum-Linkshänder spielte in Dänemark die Rolle als "Back-up" für den auf Halbrechts gesetzten Klühspies. Er kam lediglich gegen die DDR zu einem Kurzeinsatz. Seine größte Zeit hatte er 1982/83, als er mit Gummersbach alles gewann. Danach startete er eine Karriere als Personalleiter beim Bayer-Konzern und wanderte 1996 nach North Carolina aus. Fey besitzt heute die US-Staatsbürgerschaft.
Rudi Rauer (TuS Wellinghofen, geboren am 15. Januar 1950 in Unna, gestorben am 15. Juli 2014 in Bönen)
Stenzel hatte ihn in der Regionalliga beim TV Schalksmühle entdeckt. Der zweite Torwart hinter Hofmann hatte seinen größten Auftritt, als er im Hauptrundenspiel mit vielen Paraden das Remis gegen die DDR rettete. Er war untröstlich, als ihn Stenzel trotz guter Leistungen vor dem Finale gegen Rainer Niemeyer austauschte. Rudi Rauer starb 2014 an Krebs.
Rainer Niemeyer (GW Dankersen, geboren am 11. Mai 1955 in Minden, gestorben am 8. Mai 2016 in Minden)
Der dritte Torwart kam in Dänemark zu zwei Einsätzen: in der Vorrunde gegen Kanada - und im Endspiel gegen die Sowjetunion. Stenzel setzte auf ihn, weil er nach famosen Auftritten ein Image als "Russenschreck" verpasst bekam. Im Finale hielt er dennoch keinen Ball in acht Minuten Spielzeit. Der Sonderschulpädagoge arbeitete später als Trainer, auch sein Sohn Arne schaffte es in die Nationalmannschaft. 2016 erlag Rainer Niemeyer einer Krebserkrankung.
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