
Schimmelmuseum: Kunst des Verderbens
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Vergänglichkeitskünstler Dieter Roth Der Picasso des Schimmels
An einem heißen Tag im Oktober 1977 stand Dieter Roth in der Galerie Eude in Barcelona und lauschte. Ein Geräusch wehte in Wellen vom nahegelegenen Monte Tibidabo heran. Gebell. Geheul. Gejaule. In Schichten, verschiedenen Tonarten, ein bisschen wie Musik.
Wie sich herausstellte, kamen die Klänge aus einem mehrstöckigen spanischen Hundezwinger. Roth fasste einen Entschluss: Mit seinen Söhnen machte er sich an die Dokumentation des Lebens dieser Tiere. An einem Tag entstanden mehr als tausend Fotos von den Straßenhunden, und Dieter Roth fertigte in den folgenden Tagen über 1600 eilige Zeichnungen an, die er "Schnellselbsthundeportraits" nannte. Die Bilder und die traurige, endlos scheinende Tonaufnahme Roths von dem Gebell, die bei längerem Anhören tatsächlich klingt wie seltsame Musik, bilden das Material der Installation "Tibidabo 24 Stunden Hundegebell", in der auf quälende Art die Vergänglichkeit des (Hunde-)Lebens zum Ausdruck kommt.
Überbordende Materialfülle und Vergänglichkeit: Beides ist typisch für das Werk des Schweizer Künstlers Dieter Roth ab den Sechzigerjahren. Tatsächlich sollte in Roth während dieser Zeit eine solche Obsession für Verwesung und Verfall entflammen, dass seine Galeristin schließlich von den Nachbarn vor Gericht gebracht werden sollte - aus Angst vor Gesundheitsschäden.
Käsekoffer und Maden als Mitarbeiter
Zuvor war Roth eher als Grafiker und Designer bekannt. Doch eine Begegnung mit den maschinenartigen Skulpturen Jean Tinguelys, die ihn mit ihrem Rost und Lärm schwer beeindruckten, brachte etwas in ihm hervor, dass er selbst als "Umkipp" bezeichnete. Fortan widmete er sich der Arbeit mit "Schmuddel und Schimmel" und begann, mit verderblichen Materialien zu experimentieren.
Auf diesem Wege entstanden ab Mitte der Sechzigerjahre "Schimmelbilder" aus Sauermilch, Käse, Wurst, Bananen und anderen Lebensmitteln, bei denen Zersetzung und Zerfall maßgeblicher Bestandteil des künstlerischen Prozesses wurde. Die Larven, Käfer und Maden, die unweigerlich in seine Kunstwerke eingriffen, bezeichnete Roth dementsprechend liebevoll als "Mitarbeiter" und lehnte Maßnahmen von Kunstsammlern ab, die den Zerfallsprozessen Einhalt gebieten oder die Kunstwerke restaurieren wollten. Erst wenn sich eine Art natürlicher Endzustand eingestellt hatte, stimmte er Konservierungsmaßnahmen zu.
Mit seinen Lebensmittel-Experimenten stieß Dieter Roth nicht überall auf Gegenliebe. Zweimal, 1966 und 1968, wurde sein Atelier wegen Geruchsbelästigung geräumt, fast alle Kunstwerke landeten auf dem Müll. Und als er 1970 in der Galerie Eugenia Butler in Los Angeles seine Installation "Staple Cheese (A Race)" ausstellte, die aus 37 mit Käse gefüllten Koffern bestand und natürlich bald von Fliegen und Maden befallen war, kam es nach Klagen der besorgten Anwohner zum Prozess. Mit dem Argument, das Werk symbolisiere den Weg allen Irdischen, durfte die Galeristin "Staple Cheese" zwar noch eine kurze Zeit zeigen. Verkaufen konnte sie das Werk allerdings nicht, und es heißt, ihr Mann habe es schließlich nach einigen Jahren einfach entnervt irgendwo in der Wüste entsorgt.
Doch nicht nur mit organischem Material machte Dieter Roth Vergänglichkeit sichtbar - auch mit ausufernden Materialsammlungen: So sammelte er in dem Projekt "Flacher Abfall" über Jahre hinweg täglich alle Verbrauchsgegenstände, die nicht dicker als drei bis vier Millimeter waren, und heftete sie in über 600 Aktenordnern ab.
Verfall über den Tod hinaus
Eines von Dieter Roths Schlüsselwerken sollte schließlich seine "Gartenskulptur" werden. Anfänglich handelte es sich hierbei nur um ein Selbstporträt, ironisch auf James Joyce bezogen, dessen Roman "A portrait of the artist as a young man" Roth außerordentlich kitschig fand. Er entwarf daraufhin 1968 "A portrait of the artist as Vogelfutterbüste" - eine Schokoladenskulptur mit Vogelfutterbeimischungen und einem Anflugbrett, die in einem Kölner Garten aufgestellt wurde. Hier sollten die Vögel als "Mitarbeiter" tätig werden und mit ihrem Gepicke die Büste mitgestalten.
Um diesen Kern herum begann das Werk immer weiter zu wuchern: Zeichnungen, Vorarbeiten und Skizzen zu dem Projekt wurden im Garten mitaufgestellt und der Witterung ausgesetzt. Ausgewaschene Farbe wurde aufgefangen, in Weckgläsern eingekocht - und zu einem weiteren Bestandteil der Gartenskulptur gemacht. Als der Gartenbesitzer wegzog, kam das Werk an einen neuen Standort und wurde um allerhand Hasenapplikationen erweitert - aus Holz, Plüsch, Schokolade, und sogar eine Zeit lang durch einen echten Hasen in einem Hasenstall. Über Jahre wuchs die Gartenskulptur weiter an, bis sie zu einem 20 Meter langen Gebilde geworden war, in das unter anderem Fernseher integriert waren, die Videos von den Veränderungen, Umzügen und Umbauten zeigten.
Ein virtueller Rundgang durch das Schimmelmuseum lässt sich hier unternehmen: Schimmelmuseum
Doch neben seinem wuchernden Gartenobjekt hielt Roths Begeisterung für Zersetzung zeitlebens an. Den Höhepunkt seiner ungewöhnlichen Passion sollte schließlich Anfang der Neunzigerjahre sein eigenes "Schimmelmuseum" werden: In einer Hamburger Remise, die selbst schon feucht geworden und dem zunehmenden Verfall preisgegeben war, errichtete er einen Ausstellungsort des Verfalls. Darin brachte er Schimmelbilder und Objekte unter, die er dort über Jahre hinweg seinen "Mitarbeitern" überlassen konnte. Und die taten ihre Arbeit - sogar noch Jahre über den 5. Juni 1998 hinaus, an dem der ungewöhnliche Künstler in Basel verschied.
Am Ende jedoch fiel auch das einzigartige "Schimmelmuseum" Roths der Vergänglichkeit anheim: Im Jahr 2004 wurde das baufällige Haus abgerissen. Nachbarn hatten aus Angst vor übergreifenden Keimen gegen das Museum geklagt.