
Erste Digitalkamera Der Mann, der die Zukunft erfand

Da stand es. Zwischen Thomas Edisons Glühbirne, dem ersten Apple-I-Computer und einem klobigen Mobiltelefon von 1999: "Mein Baby."
Steve Sasson wusste zwar, dass sein Lebenswerk im National Museum of American History in Washington aufbewahrt ist. Doch als er sich neulich direkt vor der Vitrine wiederfand, überwältigten ihn die Gefühle: "Es war sehr bewegend", erinnert er sich. "Ich sah einen alten Freund wieder."
Der alte Freund: Das ist die erste digitale Kamera der Welt. Sasson erfand und baute sie 1975, als junger Ingenieur bei Eastman Kodak - ohne jede Vorstellung, welche Konsequenzen seine Idee einmal haben würde.
Auch sein Arbeitgeber ließ die Innovation lange unterschätzt und ungenutzt in der Geheimschublade. Es war einer der fatalsten Fehler der Wirtschaftsgeschichte, der dazu beitrug, dass der weltgrößte US-Fotokonzern von der technologischen Revolution überrollt wurde.
2012 meldete Kodak Insolvenz an und ist seither nur noch ein Schatten seiner selbst - obwohl jede moderne Digitalkamera auf Sassons Ur-Patent zurückgeht.
Sasson dagegen hat das alles bestens überstanden. Fröhlich und unbeschwert hielt der heute 65-Jährige Kodak bis 2009 die Treue. Inzwischen ist er Privatier, reist um die Welt, fotografiert und erzählt seine Geschichte - die Geschichte eines Amerikaners, der die Zukunft erfand, nur um sie dann von anderen verspielt zu sehen.
"Ich bereue nichts", sagt Sasson bei einem Treffen mit SPIEGEL ONLINE. "Nur schade, dass es für die Firma nicht besser ausging."
Es ist schwer, sich in die prä-digitalen Zeiten zurückzudenken. Zeiten ohne Personal Computer, elektronische Kameras, Smartphones, Instagram. Dabei ist es gar nicht mal so lange her, dass jede Fotografie das Produkt einer Kette elaborierter, analoger Arbeitsschritte war.
Seit seiner Gründung 1888 beherrschte Kodak diesen Markt, da es von jedem Schritt profitierte: Kamera, Film, Dunkelkammergeräte, Chemikalien, Fotopapier.
Hinter verschlossener Tür aber experimentierte das Unternehmen immer mit neuen Technologien. 1973 erhielt der gebürtige Brooklyner Sasson, damals gerade 24 Jahre alt, von seinen Chefs den Auftrag, einen praktischen Einsatz für CCD-Sensoren zu finden - lichtempfindliche Bauelemente, die 2D-Bilder einfangen.
Eine Kassette und ein TV-Schirm
Sasson begann in seinem Kodak-Labor in Rochester im Norden des US-Staats New York zu basteln. Heraus kam eine seltsame Apparatur: Das Objektiv stammte von einer Super-8-Filmkamera, eine Audiokassette diente als Datenspeicher, ein TV-Schirm als Bildprojektionsfläche.
Zugleich machte sich Sasson eine frühere, ebenso bahnbrechende Erfindung zunutze. Russell Kirsch von der US-Techbehörde NBS hatte schon 1957 den Digitalscanner entwickelt. Das allererste damit gescannte Bild war ein Babyfoto seines neugeborenen Sohns Walden, 176 mal 176 Pixel.
"Weder ich noch mein Vater ahnten, welche Folgen das haben würde", sagt Walden Kirsch, der mittlerweile für den Computerkonzern Intel arbeitet; Russell Kirsch selbst, 86, leidet an Alzheimer. Die Bedeutung ihrer Erfindung war ihnen erst bewusst geworden, als "Life" das Foto 2003 abdruckte - als eines der "100 Fotos, die die Welt veränderten".
Denn die Entdeckung Kirschs ermöglichte die heutigen Satellitenbilder, medizinische Scanner - und eben Steve Sassons Anstoß der Digitalfotografie.
Zum Schweigen verdonnert
Als Sasson den Kodak-Kollegen seinerzeit die neue Kamera präsentierte, blieben die allerdings kühl. Sie wagten es nicht, ihr lukratives Filmgeschäft durch eine unerprobte Idee zu sabotieren. Sasson wurde zum Schweigen verdonnert: "Ich durfte kein Wort darüber verlieren."
Hinter den Kulissen aber verschrieb sich Sasson seitdem nichts anderem mehr. 1978 ließ Kodak die neue Kamera unter seinem Namen patentieren. Das Patent Nr. US4131919A wurde zur Grundlage für alle Digitalkameras von heute. Allein mit der Lizensierung der Technologie verdiente Kodak Abermilliarden Dollar.
"Dass Kodak die digitale Revolution verschlafen hat, ist ein Irrtum", verteidigt Sasson seinen einstigen Geldgeber. "Wenn Sie heute eine Digitalkamera besitzen, dann hat Kodak dafür kassiert." Nur als der Konzern schließlich selbst in den Markt einsteigen wollte, war es zu spät - der Übergang von Film zu digital misslang und endete in der traurigen Insolvenz Kodaks.
Anders als manche Fotografen, die weiter auf Film schwören, zog Sasson selbst die digitale Arbeit immer vor. "Mein Traum", sagt er, "war es, eine Kamera ganz ohne mechanische Bestandteile herzustellen."
Eine solche trug Sasson neulich bei einem Besuch in Manhattan denn auch mit sich - ein winziges Modell, kein Vergleich zu seinem "Baby" von 1974. Und wenn er damals gewusst hätte, was er heute weiß? "Ich hätte nichts anders gemacht."
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Die erste Digitalkamera von 1974 war eine seltsame Apparatur: Das Objektiv stammte von einer Super-8-Filmkamera, eine Audiokassette diente als Datenspeicher.
Als Projektionsfläche des digitalisierten Bildes diente ein TV-Bildschirm. Massenhaft erhältliche Personal Computer gab es damals noch nicht.
Erfunden hat die Digitalkamera Steve Sasson, damals ein 24-jähriger Ingenieur bei Eastman Kodak. Ihm schwebte dabei eine Kamera "ganz ohne mechanische Bestandteile" vor.
Sasson machte sich eine frühere Erfindung zunutze: Russell Kirsch von der Techbehörde NBS, dem National Bureau of Standards, entwickelte 1957 den Digitalscanner - mit einem Foto seines neugeborenen Sohnes Walden.
Das gescannte Babyfoto hatte eine Auflösung von 176 mal 176 Pixel."Weder ich noch mein Vater ahnten, welche Folgen das haben würde", sagt Walden Kirsch, der heute für Intel arbeitet.
Archaische Technik: Auf einem Rotationsscanner, der für den "Standard Eastern Automatic Computer" (SEAC), den ersten in den USA entwickelten Computer, konstruiert worden war, wurde das Babyfoto von Walden Kisch digitalisiert. Hier bedient der Forscher R. B. Thomas das Gerät in den Räumlichkeiten des National Bureau of Standards (NBS) im Jahr 1957.
Beginn einer neuen Ära: Werbung für Kodaks "Traum jedes Fotojournalisten" aus dem Jahr 1992. Die Firma hatte 1987 die erste digitale Spiegelreflexkamera auf den Markt gebracht.
Marktführer: Seit seiner Gründung 1888 beherrschte Kodak den Fotomarkt, da das Unternehmen von jedem Schritt profitierte: Kamera, Film, Dunkelkammerchemikalien, Fotopapier. Hier eine Falzkamera von Anfang des 20. Jahrhunderts.
Ausgezeichnet: 2009 verlieh US-Präsident Barack Obama dem heute 65-jährigen Sasson die National Medal of Technology and Innovation, die höchste Auszeichnung für US-Wissenschaftler.
Fatale Zurückhaltung: Doch Kodak unterschätzte und versteckte Sassons Erfindung lange. Das Unternehmen fürchtete, sein lukratives Filmgeschäft durch eine unerprobte und - noch - nicht marktfähige Idee zu sabotieren.
Spätstarter: Erst in den Neunzigerjahren wagte sich Kodak unter CEO George Fisher auf den Digitalmarkt. Doch die Umstellung vom Film- aufs digitale Geschäft misslang, die Konkurrenz war längst zu weit voraus.
"Kodak-Stadt" Rochester: Kodak war lange der größte Arbeitgeber in Rochester. Hier der Kodak Tower der Konzernzentrale. Als das Unternehmen 2012 Insolvenz anmeldete, war das auch der Niedergang von Rochester.
Bescheidener Neuanfang: 2013 ging Kodak (hier die alte Chemiefabrik in Rochester) aus dem Insolvenzverfahren hervor - als dramatisch geschrumpftes Unternehmen, das sich auf Firmenkunden spezialisiert.
Ein bisschen Rosa hinter Grau: Frau an einer Busstation in Rochester. Die Schweizer Fotografin Catherine Leutenegger ist in die Stadt im US-Bundesstaat New York gefahren, um zu schauen, wie der Niedergang von Kodak die Region beeinflusst hat.
Wie in einem Hotel aus den Siebzigern: Ein älterer Herr empfängt Besucher bei Kodak.
"Die Angestellten haben an uralten Computern gearbeitet. Solche, die man in den Achtzigerjahren benutzte, mit einem schwarzen Bildschirm und weißen Buchstaben. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit", sagt Leutenegger über den Stand der Technik bei Kodak.
Geschichte an der Wand: Esszimmer der Kodak-Angestellten
Das Unternehmen hatte es verpasst, in die Digitalfotografie einzusteigen. Tausende Mitarbeiter verloren ihren Job.
Ausgeblichen - die Kodak Hall im Eastman Theater: George Eastman hatte nicht nur ein Foto-Unternehmen gegründet, sondern auch viel Geld in Kultur und Bildung investiert.
Große Leere: Freie Parkplätze bei Kodak
Leere auch hier: Empfang in der Graphic Communication Group bei Kodak
Christine Cazeneuve - Mitarbeiterin im operativen Geschäft bei der Eastman Kodak Company. Leutenegger sagt, die Angestellten wirkten schüchtern und redeten kaum.
Farblos: Haupteingang des Unternehmens
Konferenzraum: Das Gebot für die Zukunft - mit Zetteln an die Wand geheftet.
Rost an den Lampen, Risse im Asphalt: Hier parkt keiner mehr.
Kodak-Turm in der State Street: "Kodak wollte nicht, dass ich Dinge zeige, mit denen ich das Ansehen des Unternehmens beschädigen könnte. Auf dem Industriegelände wurde ich die ganze Zeit über begleitet", sagt Leutenegger.
Das George Eastman House: "Er war ein Held seiner Zeit. Er war sehr großzügig, wollte das Leben seiner Angestellten verbessern. Er wusste: Nur wer gebildet und gesund ist, macht auch gute Arbeit", sagt Fotografin Leutenegger.
Laborgebäude von Kodak: "Das Unternehmen hätte diesen schnellen Wandel im Konsumverhalten nicht erwartet", sagten die Bürger von Rochester der Fotografin.
Leutenegger hat sich aber nicht nur im Unternehmen selbst umgesehen, sondern auch in den Straßen Rochesters: hier eine Katze auf der West Ridge Road.
"Das Zentrum, also Downtown Rochester, ist ziemlich klein. Dort im Finanzviertel gibt es einige Bürotürme, aber kaum Menschen auf der Straße. Ich kam gerade aus Manhattan, wo ich seit einigen Monaten lebte, da hat mich die Leere der Stadt sofort runtergezogen", sagt die Fotografin.
Neue Anfänge: Kirche in der Vincent Street
"Es war ziemlich deprimierend dort", sagt Catherine Leutenegger über ihren ersten Eindruck von Rochester.
Hängende Ampeln über leeren Straßen: West Ridge Road in Rochester
Schornstein der Kodak-Fabrik, aufgenommen aus der Rand Street
Gedenkstätte für den Kodak-Gründer: Das George Eastman Memorial. "Eastman hat sich für seine Firma aufgeopfert. Er wollte eine Kamera entwickeln, die jeder bedienen konnte. Das hat er geschafft. Dann war Schluss. Leider hatten seine Nachfolger nicht so eine Vision wie er", sagt Leutenegger.
Weitere Informationen auf dem Fotoportal seen.by.
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