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Die Bilderbuchstadt: Geplant, gebaut, gesunken

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Disney-Planstadt Celebration Zu schön, um schön zu sein

Saubere Straßen, gestutzte Hecken und bloß kein Dreck: In den neunziger Jahren errichtete der Trickfilmkonzern Disney in Florida die Bilderbuchkleinstadt Celebration. Gelebt wurde nach einem 70 Seiten starken Regelbuch, das Idylle diktierte. Das Experiment endete in einem Desaster.
Von Karin Seethaler

Es ist ein "American Dream" von einer Kleinstadt: Ein kleiner See, gesäumt von sattgrünem Rasen. Eine schmale Promenade führt an seinem Ufer entlang, die ein wenig weiter in eine belebte Geschäftsmeile mündet. Die Straßen sind eng geschwungen, so dass Autos nur langsam an den cremefarbenen Fassaden vorbeifahren können. Warum auch Gas geben, wo doch alles so perfekt ist: Die Wohnviertel mit ihren niedrigen, zwei- oder dreistöckigen Einfamilienhäusern, die gepflegten Vorgärten, die weißen Veranden.

Als Andrew Ross 1997 in eben dieses Städtchen zog, kam er nicht wegen der hübschen Aussicht. Den Soziologen interessierte etwas anderes: Was passiert, wenn ein großer Konzern auf eigene Faust versucht, die perfekte Stadt zu bauen? Der Wissenschaftler hatte sich kurzerhand von seinem Lehrstuhl an der New York University beurlauben lassen, die Sachen gepackt, und sich auf den Weg nach Süden gemacht. Nach Celebration, Florida, einer Planstadt, die gerade erst aus dem Boden gestampft worden war. Ihr Erbauer: die Disney Company.

In einem kleinen Apartment mit Seeblick mietete sich Ross ein und dokumentierte ein ganzes Jahr lang die Entwicklung der neuen Gemeinde, in der kaum die Farbe an den Gartenzäunen getrocknet war. Dabei staunte er darüber, wie sehr der Name Disney die Phantasie der Leute beflügelte. Nicht nur bei den Bewohnern von Celebration, die für den Traum vom Leben wie im Disney-Film ihre alte Existenz hinter sich gelassen hatten, sondern auch außerhalb des gefälligen Utopia. "Unter den Anwohnern der Region", notierte er, "kursieren unzählige bittere Anekdoten über die Stadt, die manche als das 'Dorf der Verdammten’ bezeichnen. Männer, so wird behauptet, dürften keine Bärte tragen. Kinder, lauter kleine Huckleberry Finns, werden dafür bezahlt, ihre Angelruten in den See hängen zu lassen."

Leben nach dem "Musterbuch"

In vielen Bereichen regierte Disney tatsächlich mit harter Hand über seine neue Mustersiedlung. Hunderte Regeln waren in einem 70 Seiten starken "Musterbuch" festgelegt - von den Pflanzen in den Vorgärten (keine Palmen), über die Länge des Rasens, bis hin zur Farbe der Vorhänge in den Fenstern (weiß). Ansonsten orientierte sich das Planungsteam an den bewährten Rezepten, nach denen Disney auch schon seine Freizeit- und Vergnügungsparks entworfen hatte: Historische Fassaden, pastellfarbene Bauten, eine palmengesäumte Hauptstraße, auf der leise Musik aus versteckten Lautsprechern drang. Eine Spur gute alte Zeit, ein Hauch von Feenstaub.

Doch die neue Stadt sollte mehr sein als eine schicke Wohnsiedlung für den konservativen Mittelstand. Die Disney Company, die seit Jahrzehnten erfolgreich Träume vermarktete, lieferte das Sozialidyll gleich mit und warb intensiv mit Szenen kleinstädtischer Heimeligkeit: "Der Ort, nach dem Ihre Seele gesucht hat", stand auf Plakatwänden, die harmonisches Vorgartenleben zeigten. Oder: "Die Stadt, die Sie Ihr Zuhause nennen möchten."

"Mit Celebration versuchen wir, einen Weg zu bahnen für die Verbesserung des amerikanischen Familienlebens, der Bildung und des Gesundheitswesens", erklärte Bob Shinn, ein hochrangiger Manager des Konzerns, großspurig. "Das Projekt gibt uns Gelegenheit, Walts Idee einer Stadt der Zukunft wahr zu machen."

Disneys Traum von der Stadt der Zukunft

Walt Disney, der ewig präsente Firmengründer, war in seinen letzten Lebensjahren von dem Vorhaben, eine eigene Stadt zu bauen, geradezu besessen gewesen. Freilich war der ursprüngliche Plan des zukunftsvernarrten Technikenthusiasten vom letztlich realisierten Design einer betulichen Retortensiedlung wie Celebration weit entfernt. In den sechziger Jahren, als Disney begann, sich mit Leidenschaft in die Planung zu stürzen, hatte der Visionär sich die Disney-Stadt völlig anders vorgestellt: Ein hochtechnologisiertes Utopia für 20.000 Bewohner wollte er errichten lassen, mit einem überdachten Stadtzentrum, in dem das Klima automatisch geregelt werden sollte und innovativen öffentlichen Verkehrssystemen, die ohne lästige Verkehrsstaus die Leute von einem Punkt zum anderen bringen würden. Epcot sollte diese Sci-Fi-Metropole heißen - "Experimental Prototype Community of Tomorrow".

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Selbst für den rastlosen Trickfilm-Entrepreneur war dieses Vorhaben ehrgeizig. Doch immerhin lautete Walt Disneys Credo: "Wenn du es dir erträumen kannst, kannst du es auch umsetzen." Im Fall von Epcot jedoch blieb es beim Träumen. Im Winter 1966 kam der Vater von Micky und Donald ins Krankenhaus. Die Diagnose: Krebs im Endstadium. Ärzte hatten in der Lunge des Kettenrauchers walnussgroße Tumore gefunden. Disneys Tod wenig später bedeutete dann auch das Ende des Epcot-Projekts. Pläne, Zeichnungen und Konzepte wurden zu Museumsstücken.

"Vielleicht ist es nicht so schlecht, dass Walt starb, bevor die Arbeiten richtig anliefen", spekulierte der Soziologe Ross in seinen "Celebration Chronicles", dem Buch zu seinem Jahr in der Disney-Stadt. "Es besteht wenig Zweifel, dass die Bürgerrechte und politischen Instinkte von 20.000 Bewohnern kaum zu kontrollieren gewesen wären - auch nicht vom Meister der Unternehmensführung."

Die "Schuhle fonn Sellibräischen"

Dass das Leben einer richtigen Gemeinde dazu neigt, vom Drehbuch abzuweichen, war eine Erfahrung, die der Disney-Konzern schließlich auch mit Celebration machen musste. Dabei sah zunächst alles sehr vielversprechend aus: Für die ersten 350 Häuser der Stadt lagen 1995 so viele Bewerbungen vor, dass das Unternehmen eine medienwirksame Lotterie veranstalten konnte. Knapp 5000 Menschen versammelten sich am 18. November 1995 in Florida und warteten - das Scheckbuch im Anschlag - darauf, dass ihre Nummer gezogen würde. Es war eine Stimmung wie auf einem Volksfest: eine Brassband spielte, Hot Dogs wurden gereicht und Luftballons an die Kinder verteilt. Für Disney war es ein voller Erfolg, die Manager spielten bereits mit dem Gedanken, das Konzept auszuweiten.

Es dauerte nicht lange, bis die Realität über die Idylle hereinbrach. Der Aufstand der Bürger von Celebration geschah bereits im ersten Jahr. Der Unwillen entfachte sich an den Lehrmethoden in der Schule. Dort wurden Kinder in altersgemischten Klassenräumen unterrichtet, Lesen wurde nach der "Ganzwortmethode" gelehrt, einem Verfahren, bei dem Leseanfänger ganze Begriffe statt einzelner Buchstaben erkennen sollen, und statt Noten gab es schriftliche Bewertungen. Dieser eher experimentelle Schulalltag fand nicht bei allen Eltern Zuspruch. Einige machten sich Sorgen über die Bildung ihrer Kinder und drängten auf Veränderung. Streitigkeiten entflammten zwischen Fürsprechern und Gegnern, Lehrer wurden angefeindet, Nachbarn sprachen nicht mehr miteinander, Schulgegner verzierten ihre Stoßstange mit dem Aufkleber "Mi Kid iz a Honner Studant at Sellibration Skool" - etwa: Main Kind isst ein ausgezaichnetter Schühler der Schuhle fonn Sellibräischen". In der Presse erschienen erste kritische Artikel über das Leben in Disneys Planstadt.

Der Traum ist aus

"Ich wusste ja, dass das Wohnen in Celebration sehr stark von Disney kontrolliert werden würde - kontrolliert in einem positiven Sinn", erklärte Roger Burton, einer der ersten Bewohner und selbst Vater schulpflichtiger Kinder damals verärgert gegenüber der "New York Times". "Doch sobald du auf ein Problem stößt, merkst du, dass es keine Möglichkeit gibt, Dinge zu ändern." Der einzige, den man anrufen könne, sei der Vizepräsident von Disney. Aber den kümmere die Situation in der Schule kein bisschen. "Der ist nur daran interessiert seine Immobilien zu verkaufen."

Der Ärger wuchs, die Spannungen stiegen. Es kam zum Eklat und endete damit, dass einige Siedler die Stadt bereits nach wenigen Monaten wieder verließen.

Auch Celebrations Chronist Andrew Ross packte nach Ablauf des Jahres seine sieben Sachen. Der Ärger um die Schule habe damals viele Menschen aus der Stadt vertrieben, schrieb er in seinen "Celebration Chronicles". "Ihre Zahl von Monat zu Monat steigen zu sehen, war die bei weitem entmutigendste Erfahrung meines Aufenthalts."

Seit der Gründung von Celebration, ist von der Vision von der perfekten Stadt nicht mehr viel übrig. Der Disney-Konzern hatte das Stadtzentrum bereits 2004 an einen privaten Immobilieninvestor aus New York verkauft. 2008 traf die Finanzkrise die 11.000-Einwohner-Gemeinde. In der ersten Hälfte des Jahres 2010 waren 106 Familien gezwungen, ihre Häuser zu veräußern. Das örtliche Kino musste schließen. Im selben Jahr erlebte die Stadt ihren ersten Mord - und den ersten Selbstmord.

Es war Craig Foushee für den der Traum vom Leben in der perfekten Stadt zum Alptraum wurde. Das Sicherheitsunternehmen des ausgebildeten Jet-Piloten war bankrottgegangen, seine Frau hatte ihn verlassen. Vollkommen verzweifelt verbarrikadierte Foushee sich in einem der leerstehenden Häuser. Als ein Swat-Team versuchte, ihn aus dem Gebäude zu holen, eröffnete er das Feuer. Nach einer 14-stündigen Belagerung setzten die Beamten schließlich Tränengas ein, um das Haus zu stürmen. Doch Foushee hatte sich da bereits mit einer Kugel das Leben genommen. Noch Tage später konnte man die Einschusslöcher in den Scheiben sehen - direkt neben den schneeweißen Gardinen.

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