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Das Nürnberger Valka-Lager - Drehtür in ein besseres Leben

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Alfred Strobel/ SZ Photo

Valka-Lager "Nach der Schule ziehen wir in den Krieg"

Wo die Nazis erst zelteten, dann Zwangsarbeiter einsperrten, entstand in Nürnberg nach dem Krieg eines der größten Flüchtlingslager. René Tomingas erinnert sich an harte, aber auch schöne Jugendjahre im Valka-Lager.

Als Familie Tomingas 1964 in den Nürnberger Norden zieht, kann sie ihr Glück kaum fassen: 63 Quadratmeter für Mutter, Sohn und Tochter, eine Dusche mit warmem Wasser. "Nicht dass wir uns verirrt hätten", erinnert sich René Tomingas, "aber manchmal sind wir einfach nur durch die Räume spaziert und haben es genossen." Nur einen Nachteil hat der neue Luxus der westdeutschen Normalität: Vom harten Steinboden schmerzen den Tomingas die Füße. Sie sind nur Holzböden gewohnt.

René Tomingas hat die ersten 18 Jahre seines Lebens in Baracken der Lager für "Displaced Persons" verbracht, die längste Zeit ab 1953 im sogenannten Valka-Lager in Nürnberg. Die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) hatte das Lager für heimatlos gewordene Ausländer 1946 errichtet; bis 1949 diente es auch der Internierung früherer SS-Mitglieder. Heute ist dort die Nürnberger Trabantenstadt Langwasser, eine Ansiedlung zweckmäßiger Wohnblöcke.

Die Nationalsozialisten nutzten die freien Fläche des Reichsparteitagsgeländes, das spätere Langwasser, ganz unterschiedlich: Zunächst wurden in Zeltstädten Teilnehmer der bombastischen Reichsparteitage untergebracht, in der so entstandenen Lagerstruktur dann ab 1939 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter eingesperrt.

René Tomingas, geboren in Ulm als Sohn estnischer Eltern, kommt als Siebenjähriger ins Valka-Lager von Langwasser. Es ist bereits seine neunte Station nach Lagern in Geislingen, Pforzheim, Feldafing und anderswo. Warum die Familie so oft verlegt wurde, weiß er bis heute nicht: "Die Organisationen, die für uns zuständig waren, haben hier ein Lager geschlossen, dort ein neues aufgemacht, nach welchem Plan auch immer."

Mütter drohten ihren Kindern: "Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Valka-Lager"

Tomingas Vater, ein estnischer Soldat, ist noch vor Renés Geburt verschollen, sein Schicksal bis heute ungeklärt. Seine Mutter hatten die Nationalsozialisten als Zwangsarbeiterin verschleppt. Mutter und Sohn scheint das Valka-Lager das nächste üble Los. Sie erreichen es am 19. Februar 1953. In der Holzbaracke schließen die Fenster kaum, Wind trägt Schnee ins Zimmer, ein Holzofen heizt vergeblich gegen die Kälte an. Und draußen reihen sich 70 der unterschiedslosen Baracken. "Es war katastrophal. Ich habe Feldafing wahnsinnig vermisst."

In diesem Valka-Lager, benannt nach einer estnisch-lettischen Grenzstadt, sind viele aus dem Baltikum. Zwischen 1946 und 1960 leben bis zu 4000 Menschen aus rund 30 Nationen dicht an dicht. Bis ins nahe Nürnberg dringen Schreckensgeschichten über Bewohner, die einander im berüchtigten Lager die Schädel einschlagen. "Wennsd ned brov bisd, kummsd nein Valga-Lochä", drohen die Mütter unartigen Kindern - wenn du nicht brav bist, kommst du ins Valka-Lager.

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Das Nürnberger Valka-Lager - Drehtür in ein besseres Leben

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Etwas später teilen sich Mutter und Sohn ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer in einer der neuen Steinbaracken. René Tomingas beschreibt sie als minderwertig gebaut und kaum isoliert, alle Hausbewohner teilen eine Toilette und einen Wasserhahn. "Die hygienischen Bedingungen können Sie sich vorstellen", sagt Tomingas. "Und trotzdem war es eine schöne Zeit für mich, für viele Valka-Kinder", geprägt von einem Gefühl der Freiheit.

Der junge René verlässt die Baracke direkt durchs Fenster und trifft Spielkameraden aus aller Welt, sie streifen durch die angrenzenden Wälder. Besonders gern dahin, wo amerikanische Besatzungssoldaten gerade Manöver üben - und mit Schokolade und Kaugummi locken. Auch im Lager lässt sich wunderbar Cowboy und Indianer spielen, als Verstecke eignen sich Betonrinnen und eine Grube ohne ersichtlichen Zweck. "Hätten wir gewusst, was das war, hätten wir das nicht gemacht. Das waren die Überreste der Latrinen für die Zeltstädte der Nazis."

Wartesaal auf dem Weg in ein besseres Leben

René kommt erstmals mit Religion in Berührung. Im Lager gibt es je eine evangelische, katholische und orthodoxe Kirche. "Mit meinen polnischen Freunden bin ich in die katholische, mit den anderen in die evangelische. Mir hat das wahnsinnig gut gefallen." Der Junge will Pastor werden. Die Schule hingegen fordert ihn wenig. Die Lehrer im Lager hätten wohl wenig Sinn darin gesehen, ihnen, diesen Ausländerkindern, etwas beizubringen.

Oft verabschieden sich die Jungs bereits zur ersten Pause. Sie formieren eine Jugendwehr, denn deutsche Kinder aus der Umgebung, vor allem Vertriebene aus Schlesien und dem Sudetenland, versuchen ins Lager einzudringen. "Die haben bei uns, wahrscheinlich aufgehetzt von ihren Eltern, Fenster eingeworfen und Wäscheleinen durchgeschnitten", erzählt Tomingas.

DER SPIEGEL

Die Kinder verabreden sich zur Verteidigung ihres Lagers und stehen mit Stöcken und Steinen bereit, wenn die anderen anrücken. Und sie sagen etwas, das für ihre Eltern noch eine ganz andere Bedeutung hat: "Nach der Schule ziehen wir in den Krieg." Später werden die Schulen zusammengelegt, die Valka-Kinder besuchen ab sofort die in Langwasser. Die Eltern bekamen es mit der Angst zu tun, erzählt Tomingas: "Die Kinder mussten im Konvoi, unter Schutz der Eltern, zur Schule marschieren. Für uns war das natürlich ein Gefühl der Macht. Wir haben uns gefreut, dass wir jetzt die Starken sind."

Rund ums DP-Lager treffen Vertriebene auf Deutsche, Deutsche auf die Opfer ihres Krieges. Zu den "Displaced Persons" zählen frühere Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, KZ-Insassen. Bleiben wollen die meisten nicht und hoffen auf eine Ausreisegenehmigung in die USA, nach Kanada oder Schweden; viele haben keine Arbeit. Das Valka-Lager ist nicht mehr als ein Durchgang, ein Wartesaal auf dem Weg in ein besseres Leben. Die Tomingas müssen bleiben. Wegen einer Lungentuberkulose wird der Mutter die Ausreise verweigert.

Abschied mit Wehmut

Die Stimmung im Valka-Lager ist aufgeladen, es bleibt nicht immer friedlich. 1950 berichtet der SPIEGEL über ein "Handgemenge" mit zwei Toten und 30 Verletzten. René Tomingas erinnert sich etwa daran, dass am serbischen Nationalfeiertag die Kroaten lieber drinblieben und umgekehrt. Aber: "Angesichts der vielen Völker ist es bewundernswert, wie wenig passiert ist. Ich habe nur Angst vor Deutschen gehabt, nie vor Leuten im Lager."

Die Stadt Nürnberg will das Lager schnellstmöglich schließen, um ihr Siedlungsprojekt Langwasser vorantreiben zu können. Ab 1949 nimmt das Valka-Lager neben heimatlosen auch aus den Ostblockstaaten flüchtende Ausländer auf, vor allem Tschechen. Die MitarbeiterInnen des Flüchtlingsamts leben ebenfalls im Lager. Ab 1953, mit Übernahme der Genfer Konvention, heißt die zuständige Behörde Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. So wird Langwasser zur Keimzelle des heutigen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

1960 ist das Lager bereits stark ausgedünnt und steht vor der Auflösung. Die Tomingas, seit 1957 mit Renés kleiner Schwester zu dritt, suchen nach einer Wohnung und bleiben noch bis 1964. Nach elf Jahren im Valka-Lager, zeitweise das größte seiner Art in Bayern, verabschieden sie sich mit Wehmut, erinnert sich René Tomingas. Andererseits ist er mitten in der Pubertät, Mädchen sind jetzt erst mal interessanter als alles andere - keine Zeit für Trübsinn.

René Tomingas will jetzt nicht mehr Pastor werden, er will vor allem weg aus Deutschland. Welcher Beruf ist auf der ganzen Welt gefragt? Er beschließt, Arzt zu werden - und schafft das auch. Zuletzt war er Chefarzt der Krankenhäuser Nürnberger Land und ist mittlerweile in Rente. Der Liebe wegen blieb er damals doch: Seine erste Frau, eine Estin, habe andere, schönere Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen gemacht. Sie sei es gewesen, die unbedingt bleiben wollte.

Mehr als alles andere sieht er das Valka-Lager im Rückblick als eine Schule der Toleranz. "Ein guter Freund von mir war Tscheche, einer Lette, einer Pole, einer Litauer", sagt René Tomingas. "Ich glaube, man kann nur hassen, was man nicht kennt."

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