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Leben nach der Krise: Der Mann, der sich vergaß

Foto: Rick Minnich

Leben nach der Krise Der Mann, der sich vergaß

Was muss passiert sein, wenn plötzlich jede Erinnerung weg ist? Der Amerikaner Richard Minnich, Hauptzeuge in einem Bankskandal, verlor 1990 sein Gedächtnis. Fast 20 Jahre später forscht sein Sohn nach der Ursache - und stößt auf eine bizarre Geschichte zwischen Wirtschaftskrimi und Familiendrama.

Es ist ein ganz normaler Vormittag im Mai. Der 1987er Ford Aerostar rollt stadtauswärts die Howe Avenue von Sacramento, Kalifornien, entlang. Kurz hinter der Stadtgrenze drosselt Richard Minnich das Tempo. Er will zu einem Einkaufszentrum abbiegen. Im Rückspiegel sieht er noch kurz eine Limousine, die sich mit hoher Geschwindigkeit nähert. Dann kracht es. Minnich und seine Frau werden nach vorn und wieder zurück in die Sitze geschleudert. Doch der Unfall scheint glimpflich ausgegangen zu sein. Abgesehen von leichten Prellungen bleiben beide unverletzt.

Doch wenige Tage später geht es Minnich schlecht. Der 44-jährige Familienvater klagt über Kopfschmerzen. Selbst einfache Tätigkeiten fallen ihm schwer. Beim Versuch, die Mikrowelle zu bedienen, muss er seine Frau um Hilfe bitten: "Ich weiß, dass es komisch klingt, aber ich kann mich nicht erinnern, wie dieses Ding funktioniert." Eine Woche nach dem Unfall setzt sein Gedächtnis aus. Totale Amnesie.

"Ich stand vom Bett auf, sah mich um und wusste nicht, wohin ich gehen sollte", beschreibt Minnich knapp ein Jahr später jenen Morgen, der sein Leben so radikal änderte. "Was waren das alles für Dinge um mich herum?" Sein Blick sei auf eine Brieftasche gefallen. "Ich wollte sehen, wem sie gehörte. Also schaute ich hinein, fand eine Fahrerlaubnis, und dann schaute ich in den Spiegel. Nun hatte ich einen Namen." Minnichs Erinnerungen sind komplett ausgelöscht. In den folgenden Monaten wird der Computerexperte selbst das Kopfrechnen neu lernen müssen. Den alten Richard, wie ihn Familie und Freunde kannten, gibt es nicht mehr.

Drama mit Vorgeschichte

Minnichs plötzlicher Gedächtnisverlust gibt den Ärzten Rätsel auf. Denn entgegen allen medizinischen Prognosen hält die Amnesie auch noch Jahre nach dem Unfall vom 21. Mai 1990 an - bis heute. 2006 begibt sich Richards ältester Sohn Rick, Kind aus erster Ehe und mittlerweile ein in Europa lebender Filmemacher, auf Spurensuche. Er befragt Verwandte, Ärzte und ehemalige Kollegen und versucht so, Stück für Stück das frühere Leben seines Vaters zu rekonstruieren - und eine Erklärung für den Verlust der Erinnerungen zu finden.

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Foto: Rick Minnich

Das Puzzle, das er zusammenträgt, ist eine Mischung aus Wirtschaftskrimi und Medizindrama. Eine außergewöhnliche Familiengeschichte und doch vielleicht symptomatisch für die Zeit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, als sich die USA auf dem Höhepunkt ihrer Macht befanden, berauscht vom Triumph über ihre ideologischen Antipoden. Die amerikanische Gesellschaft lebte den Traum von Liberalismus und freier Marktwirtschaft aus. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, glaubten viele, dass das Leben nun friedlicher, leichter werden würde - und übersahen womöglich genau deshalb, dass nun ganz neue Bedrohungen auftauchten.

Rick selbst, damals 23 Jahre alt, erfährt erst zwei Monate nach dem Unfall vom Gedächtnisverlust seines Vaters. Seine Eltern sind zu diesem Zeitpunkt seit zehn Jahren geschieden, Rick und seine älteren Zwillingsschwestern wuchsen bei der Mutter auf. Als der Sohn vom Drama hört, beginnt er, sich wieder stärker für diesen Richard Minnich zu interessieren - vor allem für jene zehn Jahre, in denen er selbst nicht mit ihm zusammengelebt hat.

Spurensuche

Richard Minnich hat eine neue Beziehung mit seiner Kollegin Loretta und mit ihr zwei Kinder. Die Konstellation ist schwierig, auch Loretta hat bereits Kinder aus erster Ehe. Die Patchwork-Familie funktioniert nicht, wie es sich der strenge, perfektionistische Ingenieur vorgestellt hatte. Nach einem Umzug wohnen beide Familien so nahe beieinander, dass die Kinder dieselbe Schule besuchen. 1984 verliert Richard seinen Job. Als sich nach acht Monaten ohne Arbeit endlich eine neue Perspektive ergibt, packt die Familie erneut die Koffer. Richard wird Chef der IT-Abteilung der Farmers Savings Bank in Davis, einer kleinen Universitätsstadt im US-Bundesstaat Kalifornien.

Diesmal scheint es gut zu laufen. Der neue Arbeitgeber macht mit seiner Erfolgsgeschichte Schlagzeilen. Das erst vier Jahre zuvor gegründete Geldinstitut gilt als eine der am schnellsten wachsenden Banken der Region. Richard arbeitet zwölf bis vierzehn Stunden am Tag. Doch dann gibt es Schwierigkeiten. Im Mai 1985 feuert die Bank Richard. Für die Familie ist es ein Schock und der finanzielle Ruin. Einen neuen Job kann Richard nicht finden, offenbar will ihn keine Bank mehr beschäftigen. Doch warum?

Im September 1985 berichtet die Lokalzeitung "Sacramento Bee" von einer Kündigungswelle bei der Farmers Savings Bank nach Millionenverlusten. Hundert Mitarbeiter, rund ein Drittel der Belegschaft, müssen gehen. Behörden untersuchen den Fall, einen Monat später übernimmt die Bundesaufsicht für Bausparkassen das Geldinstitut.

Es ist nur ein Fall von vielen. Zwischen 1985 und 1988 erleben die USA den bis dahin größten Bankenskandal ihrer Geschichte, die "Savings and Loans"-Krise. Ausgelöst hatte sie Anfang der Achtziger eine gesetzliche Lockerung für die privaten Spar- und Darlehenskassen, Garant für den amerikanischen Traum vom Eigenheim zu niedrigen Hypothekenzinsen. Um das Geschäft für die Banken attraktiver zu machen, hebelte man das genossenschaftliche Prinzip aus - nun konnten sich auch einzelne Interessenten, nicht zuletzt Baulöwen und Immobilienspekulanten, eigene Sparkassen zulegen und sich so billige Kredite ohne Sicherheiten verschaffen. Kleinsparer waren gegen eventuelle Verluste durch den Staat abgesichert - eine "Einladung zum Bankraub", so der SPIEGEL 1990.

Der Datenschwindel

Eines Tages, so erzählt ein früherer Kollege von Richard Minnich dessen Sohn Rick vor laufender Kamera, habe es eine Anfrage der Hypothekenbank Fannie Mae gegeben. Sie wollte Kredite prüfen, die Farmers ihr verkauft hatte. "Wir bekamen ein Magnetband, und ich schrieb ein Programm, um die Daten abzugleichen." Normalerweise gebe es bei einer solchen Aktion immer ein paar Abweichungen aufgrund von Eingabefehlern, aber hier gab es jede Menge Abweichungen. "Die Bilanzen waren verschieden, Adressen waren verschieden, Kontonummern waren verschieden", erinnert sich der Zeuge. Als Minnich die Anweisung bekam, die Daten von Fannie Mae zu übernehmen, habe er sich geweigert. Kurz danach sei Richard entlassen worden, berichtet der Ex-Kollege.

Rick erfährt, dass sein Vater zum Zeitpunkt seines Unfalls 1990 Hauptbelastungszeuge im Ermittlungsverfahren gegen die Bank war. Und er stößt darauf, dass der ehemalige Vorstandschef der Farmers im Juli 1986 unter ungeklärten Umständen ermordet wurde. Der Bankenfall kommt nie vor Gericht. Die US-Regierung rettet Farmers, wie Hunderte andere Sparkassen auch. Für die Sanierung zahlt Washington mehr als 100 Millionen Dollar.

Richard Minnichs eigene Existenz aber ist zerstört. Bis zu seinem Unfall hatte er mehrmals versucht, sich mit einer Beratungsfirma selbständig zu machen - ohne Erfolg. Im Zivilstreit mit dem Unfallgegner spricht ihm das Gericht im April 1992 eine Entschädigung von 325.000 Dollar zu. In seinem früheren Beruf arbeiten kann Minnich seit Beginn der Amnesie nicht mehr.

Großer Bluff?

Rick sieht seinen Vater vor allem als ein medizinisches Phänomen, doch andere Familienmitglieder sind skeptisch, misstrauisch, zweifeln. Kann es sein, dass Richard Minnich ihnen nur etwas vorspielt? Suchte er nach einer Chance, die finanziellen und beruflichen Schwierigkeiten hinter sich zu lassen? War der Unfall dafür ein willkommener Anlass? Ist es gar möglich, dass er seinen Gedächtnisverlust nur vortäuscht?

Ein kleines Detail zum Unfallgeschehen kommt Rick bei seinen Recherchen zu Hilfe. Die am Crash beteiligte Limousine ist ein Zivilfahrzeug der Polizei von Sacramento County. Weil somit der Staat in den Unfall verwickelt ist und die Entschädigung aus Steuergeldern beglichen werden muss, sind die wichtigsten Dokumente zu dem Fall auf Grund des Freedom of Information Acts öffentlich zugänglich. Eine Woche nach Antragstellung hält Rick die Akte in den Händen.

Die Papiere enthalten ärztliche Gutachten, die das Gericht angefordert hatte. Aus den Attesten geht hervor, dass die Ärzte bei Minnich keine organischen Schäden infolge des Unfalls feststellen konnten. Dass der Patient an Amnesie leidet, gilt jedoch als unstrittig.

Flucht aus dem Leben

Es ist eine seltene Diagnose, die die Gutachten ausweisen, so die Ärzte, jedenfalls in Friedenszeiten. Ähnliche Fälle seien aus Kriegen oder von Naturkatastrophen bekannt. Minnich habe ein psychisches Trauma erlitten, einen Gedächtnisverlust infolge einer offenbar unerträglichen Lebenssituation. Amnesie als Ausweg aus familiären, finanziellen und beruflichen Nöten. Die US-Bankenkrise der achtziger Jahre ist zu Minnichs ganz persönlicher Krise geworden, einer, aus der er sich selbst nicht mehr befreien kann.

Also war der Unfall wohl nicht die Ursache des Gedächtnisverlustes. Eher der Auslöser, der letzte Anstoß, der das Leben des ehrgeizigen, intelligenten Familienvaters zusammenbrechen ließ.

Noch zwei Jahre nach Beginn der Amnesie glaubten die Ärzte, dass der Zustand heilbar wäre - durch Therapien und die Hilfe der Familie. Doch Rick und seine Geschwister erfahren davon erst 2006 aus der Gerichtsakte. Da ist die Familie längst auseinandergebrochen. Ob er denn seine Erinnerungen je zurück wollte, fragt Rick, der Filmemacher, seinen Vater bei einem letzten Treffen. Und der antwortet: "Darüber denke ich nie nach." Vor die Kamera wollte er nicht mehr.

Am 3. Juni 2010 läuft Rick Minnichs Film "Forgetting Dad" in den deutschen Kinos an.

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