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"Drittes Reich": Der Bücherraub der Braunhemden

"Drittes Reich" Der Bücherraub der Braunhemden

Systematisch plünderten die Nazis die Bibliotheken von "Reichsfeinden" im In- und Ausland. Deutsche Bibliothekare bedienten sich gerne und horteten hunderttausende geraubter Bücher. SPIEGEL-Redakteur Malte Herwig über Zufallsfunde und die unmögliche Aufgabe der Rückgabe.

Das Angebot klang verlockend. 4000 Bücher in hebräischer und jiddischer Sprache habe man in der Wohnung des Rabbiners von Jendrzejów "sichergestellt", darunter hunderte Exemplare der Mischna und des Talmud sowie schöngeistige Literatur. Das alles, hieß es in dem offiziellen Schreiben vom 25. Juni 1940, könne die Preußische Staatsbibliothek haben - und zwar kostenlos. Nur für den Versand mit der Ostbahn müsse die Bibliothek aufkommen.

Deren Generaldirektor Hugo Andres Krüss, faktisch oberster Bibliothekar des "Dritten Reichs", reagierte umgehend auf die Offerte des deutschen Generalgouverneurs in Krakau. Bereits drei Wochen später, am 19. Juli 1940, konnten seine Mitarbeiter am Bahnhof Friedrichstraße eine ganze Waggonladung geraubter Bücher in Empfang nehmen und in die Orientabteilung der Staatsbibliothek schaffen.

Zweifelhafte "Bestandserweiterung"

Berlin, im Frühjahr 2007. "Zuerst wussten wir ja nicht mal, wo Jedrzejów überhaupt liegt", sagt Barbara Schneider-Kempf und schaut auf den Stapel alter Folianten, den ihr Referent gerade hereingeschleppt hat. Die Generaldirektorin der Staatsbibliothek Berlin sitzt in ihrem Büro im obersten Stockwerk des Scharoun-Baus am Kulturforum.

Alles wirkt aufgeräumt und modern, nur die abgestoßenen alten Bände auf ihrem Tisch scheinen hier fremd. Blass leuchten goldene hebräische Lettern von den Ledereinbänden, hier und da der säuberliche Schriftzug eines "Israel Silberzweig" oder "Israel Epstein" aus Jedrzejów. "Das war ein Zufallsfund", sagt Schneider-Kempf, "aber wir gehen davon aus, dass diese Bücher zu den 4000 gehören, die damals in die Staatsbibliothek gelangt sind."

Der als "Bestandserweiterung" verharmloste Bücherraub in dem besetzten ostpolnischen Ort war kein Einzelfall. Auf europaweiten Beutezügen requirierten deutsche Soldaten Hunderttausende von Büchern, die dann den Staats-, Universitäts- und Stadtbibliotheken daheim im Reich angeboten wurden.

Schwierige Rückgabe

Wie viele dieser Bücher sich noch heute in deutschen Bibliotheken befinden, ist kaum abzuschätzen. Bei der Staatsbibliothek in Berlin allein geht man von 20.000 Exemplaren aus. Denn der systematische Bücherraub war keineswegs nur ein Vermögensdelikt - die Juden, als "Volk des Buches", sollten durch die Entwendung des gedruckten Kulturguts gedemütigt werden. Die geistige Enteignung stand am Beginn des Vernichtungsprozesses, dessen Endpunkt die Gaskammern von Auschwitz waren.

Während deutsche Museen seit Jahren durch spektakuläre Restitutionsprozesse zur Rückgabe von Kunstwerken an die rechtmäßigen Erben gezwungen werden, blieb die Rolle der Bibliotheken im "Dritten Reich" lange im Dunkeln. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte ein Rückerstattungsgesetz dafür, dass die ursprünglichen Besitzer enteignete Bücher bis 1953 zurückfordern konnten. Dann geschah ein halbes Jahrhundert nichts, bis 1999 eine Erklärung von Bund, Ländern und Kommunen auch die Bibliotheken "zur Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts" verpflichtete.

Seitdem durchforsten Bibliothekare in Bremen, Marburg, Tübingen, Nürnberg, München und Wien ihre Magazine nach "Arisierungsgut". Aus Millionen von Bänden müssen verdächtige Exemplare herausgefiltert und nach Besitzerspuren durchsucht werden. In einzelnen Fällen sind bereits Rückgaben an die Familien enteigneter Juden erfolgt. "Aber was soll ich machen", klagt einer der Buch-Detektive, "wenn in einem offensichtlich geraubten Buch nur der Name ,Sarah Stern' steht?"

Der Zweite Weltkrieg endete erst 1992

"Im Grunde genommen", sagt Gerd-Josef Bötte, "ist für uns der Zweite Weltkrieg erst 1992 zu Ende gegangen." Damals wurden die Bestände der zwei Staatsbibliotheken in Ost- und Westberlin zusammengeführt, und Bötte leitet nun das kleine Aufklärungsteam, der seit einem Jahr Licht in die Bibliotheks-Vergangenheit bringen soll.

Dazu müssen Akzessionsjournale durchsucht, tausende Bücher aus dem Magazin geholt und die Nachfahren der einstigen Besitzer ermittelt werden. Als Raubgut klassifizierte Bände werden mit einem Vermerk im Online-Katalog der Staatsbibliothek versehen. "Wir tun unser Möglichstes", seufzt Bötte, aber mit nur einer Vollzeitkraft brauche das eben Zeit.

"Bestrebt, Privatsammlungen zu erwerben"

Schon kurz nach Hitlers Machtergreifung 1933 begannen deutsche Bibliothekare, sich für die Bücher von NS-Verfolgten zu interessieren. Während auf dem Berliner Opernplatz die verfemten Schriften brannten, sortierte man gegenüber, im Haus der Staatsbibliothek Unter den Linden, bereits Bücher aus dem Besitz jüdischer Emigranten in den eigenen Bestand ein.

Darunter befanden sich zum Beispiel 165 Bände "aus der Bücherei eines Berliner Theaterkritikers", von denen es im Jahresbericht für 1933 nebulös heißt, sie seien "in den Besitz der Staatsbibliothek übergegangen". Wie der Berliner Historiker Karsten Sydow bei der Durchsicht der Akzessionsjournale von 1933-45 herausfand, handelte es sich dabei um das Eigentum von Alfred Kerr, dem berühmten Theaterkritiker der Weimarer Republik und Antipoden von Thomas Mann.

Die Staatsbibliothek hatte dem Juden Kerr, der sofort nach Hitlers Machtergreifung in die Schweiz floh, im März 1933 die Sammlung seltener Widmungs- und Besprechungsexemplare von Dramen zum Dumpingpreis von einhundert Reichsmark abgekauft. Angesichts solcher Notverkäufe klingt das Resümee der stolzen Erwerber wie blanker Hohn: "Gerade auch Schätze aus Privatsammlungen zu erwerben", heißt es im Jahresbericht 1933, "war die Staatsbibliothek von jeher bestrebt."

"Meine Eltern müssen damals vollkommen mittellos gewesen sein", erinnert sich Kerrs Tochter, die Schriftstellerin Judith Kerr im einestages-Interview. "Ich wusste nicht, dass mein Vater seine Bücher verkaufen musste". Sie hat 1971 in dem autobiografischen Roman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" aus der Sicht des Kindes von Flucht und Exil der prominenten Familie erzählt. Das Kaninchen ist nie mehr aufgetaucht, aber von den Büchern ihres Vaters haben nach einer Stichprobe der Staatsbibliothek etwa die Hälfte den Krieg überstanden. "Ich bin sehr gerührt, dass diese Bücher jetzt wiederaufgetaucht sind", sagt Judith Kerr, heute 84.

Braune Bücherfreunde

Nach 1933 profitierten die braunen Bibliothekare zunehmend von NS-Beutezügen und griffen gerne zu, wenn die Gestapo wieder mal die Bücherei eines Arbeitervereins oder einer Freimaurerloge eingezogen hatte. Oberbibliothekar Krüss, der 1940 der NSDAP beitrat, fand nichts dabei, direkt mit Polizei, Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt zusammenzuarbeiten und betrieb einen schwunghaften Bücherhandel mit den NS-Organisationen.

"Die Staatsbibliothek freut sich", teilte Krüss 1935 dem Burghauptmann der SS-Ordensburg Wewelsburg bei Paderborn mit, die dortige "Reichsführerschule SS" durch eine erhebliche Stiftung unterstützen zu können, nachdem deren Bibliothekar SS-Oberscharführer Hans Peter des Coudres in Berlin vorstellig geworden war. Als Lektüre für Himmlers Elite-Nachwuchs hatte SS-Mann des Coudres sich unter anderem die "Zeitschrift für Kirchengeschichte" ausgesucht.

Die Berliner Staatsbibliothek konnte es sich leisten, die braunen Bücherfreunde großzügig zu beliefern: Sie wurde häufig mit den Beständen beschlagnahmter Bibliotheken versorgt und war deshalb im Besitz zahlreicher Doppelexemplare. So schickte Krüss 1938 dem "Reichsführer SS" ganze 52 Regalmeter marxistischer und sozialistischer Bücher und begnügte sich im Gegenzug mit 5 Regalmetern Freimaurerliteratur.

Der dubiose Hintergrund: Die der SS überlassenen Bücher stammten aus der Bibliothek des 1933 von den Nationalsozialisten aufgelösten Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Dessen Mitarbeiter Theodor Adorno und Max Horkheimer waren längst ins Ausland geflüchtet.

Die politische Dimension

Für Generaldirektorin Schneider-Kempf ist die historische Bewältigung des NS-Bücherraubes vor allem ein logistisches Problem: "Es wird Jahre dauern bis wir alle geraubten Bücher identifizieren". Zudem ist oft nicht klar, an wen die Bücher zurückgegeben werden können.

Und dann ist da eben doch auch noch die politische Dimension. Viele der Raubbücher waren im Krieg ausgelagert und gelangten nach 1945 als Beutegut nach Polen, Russland oder in die Ukraine. Im sibirischen Tomsk sollen noch heute bibliophile Schätze lagern. "Aber zu meinen Lebzeiten werden wir das nicht zurückbekommen", seufzt Schneider-Kempf. Auch die kleine jüdische Gemeinde von Jendrzejów wird ihre Bücher nicht so bald wiedersehen. Denn in Krakau liegen kostbare mittelalterliche Handschriften und Autografen von Dürer, Luther, Kant und Goethe, die einmal der Preußischen Staatsbibliothek gehörten. Auch von Mozart-Opern in der Handschrift des Meisters ist die Rede; genaues weiß man nicht.

"Wir können hier nicht eigenständig handeln, das ist Aufgabe der Politik", sagt die Generaldirektorin und blickt über das Kulturforum in Richtung Kanzleramt. Aber weder Putin-Freund Gerhard Schröder noch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben sich besonders interessiert gezeigt. Es wird ein weiter Weg.

Link: Interview mit Judith Kerr: "Im Exil die Sprache verloren"

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