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Hagen Koch: Die Partei, die Mauer und ihr Ende

Foto: Hagen Koch

Ein deutsches Leben Der Mauermann

Vom Betonkopf des Sozialismus zum obersten Mauerspecht: Das Leben von Hagen Koch ist untrennbar mit dem "antifaschistischen Schutzwall" verbunden. 1961 zog er als junger Stasi-Mann am Checkpoint Charlie den Markierungsstrich für den Mauerbau, 28 Jahre später organisierte er den Abriss. Bis heute lässt die Mauer ihn nicht los.

Er hat sie aufgebaut, er hat sie niedergerissen. Und hat sie in seinem Kopf erneut aufgetürmt. Stein für Stein, Zentimeter für Zentimeter, Dokument für Dokument: Hagen Koch hat sich der Mauer verschrieben, mit jeder Pore. Er ist die Seele des grauen Betonwalls, der einst die Welt in zwei Hemisphären spaltete. Eine Seele, die nicht zur Ruhe kommen kann. Die unablässig von Vortrag zu Filmset, von Podiumsdiskussion zu Tagung eilt, um die Geschichte der Mauer zu erzählen, die auch seine Geschichte ist: die Geschichte des einstigen Stasi-Offiziers, dem der Glaube an die sozialistische Sache abhanden kam.

Doch zunächst ist Hagen Koch der Mann mit dem Pinsel. Derjenige, der am 13. August 1961 als Ulbrichts Kartograph am Checkpoint Charlie mit weißer Farbe den Verlauf der Mauer markierte. Und derselbe, der vor genau 18 Jahren, im November 1989, den Auftrag bekam, den Abriss der Mauer zu organisieren. Diese Daten markieren jedoch nur zwei Punkte in Kochs Metamorphose vom, wie er sagt, "dreihundertprozentigen" Parteigenossen zum Stasi-Kritiker. Wer dem heute 67-Jährigen mit dem schütteren Haar, dem sanften Blick und der Gier nach Publikum, Anerkennung, Verständnis gerecht werden will, muss weiter zurück schauen. Zurück zu der Zeit vor dem Bau des "antifaschistischen Schutzwalls".

Kartoffelkäfer gegen den Sozialismus

"Ich habe nichts verbrochen, ich bin falsch erzogen worden", beginnt Hagen Koch die atemlose Rechtfertigung seiner realsozialistischen Vergangenheit: 1940 wird er in Dessau als Sohn eines "Bürgerlichen" geboren. Der Vater wird von der neu gegründeten SED seiner Kriegsvergangenheit wegen bedrängt, tritt in die Partei ein und erzieht Hagen zum überzeugten Sozialisten.

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Hagen Koch: Die Partei, die Mauer und ihr Ende

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Bei den Jungen Pionieren lehrt man ihn, dass die Amerikaner Kartoffelkäfer über der DDR abwerfen - Hagen glaubt dran, "genauso wie mein Vater drei Tage vor Kriegsende noch an den Endsieg geglaubt hat". Bereits mit 17 Jahren tritt auch er in die SED ein. Schnell werden die großen Funktionäre auf den schneidigen, jungen Mann aufmerksam - ein kometenhafter Aufstieg beginnt.

Mit 20 Jahren wird Koch zum Wachregiment des MfS einberufen, einer "Elite-Einheit der Stasi", wie Hagen Koch stolz betont. Als gelernter Zeichner avanciert er kurz darauf zum Kartographen des SED-Chefs und Mauerbauers Walter Ulbricht. Und zieht am 15. August 1961 im Beisein von Erich Honecker und Erich Mielke den berühmten Pinselstrich am späteren Checkpoint Charlie: eine weiße Linie, dazu bestimmt, die Welt fortan in Gut und Böse zu teilen. "Ich war der Rangniedrigste in der Gruppe, darum traf es damals mich", sagt Koch im Rückblick. Dort, wo der weiße Strich verläuft, wächst in Windeseile eine graue Betonwand empor - dazu errichtet, den Flüchtlingsstrom von Ost nach West zu stoppen.

Aktenkundig schwatzhaft

Doch kurz nach dem ersten großen Auftritt beginnt bereits der Abstieg des Hagen Koch. Der Grund: 1961 heiratet er eine Frau, die der Partei missfällt. Elke war nie bei den Pionieren, pflegt Kontakte nach "drüben", hat die Schule in West-Berlin besucht. Kein richtiger Umgang für einen Stasi-Mann, befinden die SED-Genossen und setzen das junge Paar unter Druck.

Von den Genossen aufgespürte, angeblich "pornographische" Karikaturen der beiden in einer Hochzeitszeitschrift bringen das Fass zum Überlaufen: Elke lässt sich von ihrem Mann scheiden, um ihn ein Jahr später erneut zu heiraten. Zudem verbietet die Stasi dem holländischen Großvater Kochs den Besuch in Dessau - zu hoch das Risiko, das Staatsgeheimnisse publik werden. Denn: "Genosse Koch ist schwatzhaft", bescheinigen ihm Vorgesetzte in seiner Kader-Akte.

Der einst "Dreihundertprozentige" resigniert, zieht sich ab 1970 als Kulturbeauftragter in eine Nische zurück und nimmt den Karriereknick hin. Gleichzeitig wachsen die Zweifel in ihm. Nun wagt die Stasi etwas, das Koch ihr niemals verzeihen wird: "Sie haben meinen Sohn eingebuchtet", sagt er und stockt. Wegen rebellischen Verhaltens, dreimal. Zwei Jahre verbringt Koch junior in Bautzen, weil er sich nicht anpasst: Er trägt die Haare lang, hängt mit Regime-Kritikern am Prenzlauer Berg ab, prügelt sich. Als die Partei Koch 1985 auch noch verbietet, an der Beerdigung seines Vaters teilzunehmen, ist das Maß voll, Koch erreicht die Entlassung aus MfS-Diensten. "Seitdem durften mich beide Seiten treten", resümiert er: Die Ex-Kollegen geißeln ihn als Verräter, die anderen als Stasi-Schwein.

Im Westen kein Glück

"Was bleibt einem übrig, der sich zwischen alle Stühle manövriert hat?", fragt Koch - und wurschtelt weiter. Am 2. November 1989, genau eine Woche vor dem Fall der Mauer, findet er Arbeit im Institut für Denkmalpflege der DDR in Ost-Berlin. Als solcher betraut ihn die erste frei gewählte DDR-Regierung unter CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière mit einem einzigartigen Job: Hagen Koch, der 1961 den ertsen Mauerstrich zog, wird als "Mauer-beauftragter" der DDR-Regierung zum Organisator des Mauerabrisses. Wieder befindet er sich an der Schnittstelle zwischen Ost und West - jetzt muss er abtragen, dokumentieren und verscherbeln, was er 28 Jahre zuvor mit weißer Farbe vorgezeichnet hat.

Koch nimmt seinen Job ernst. Klaubt akribisch Archivmaterial auf, wo er es finden kann, auf Müllhalden, in Kellern, bei der erodierenden Stasi. Unermüdlich kämpft er dafür, dass die Mauer nicht komplett dem Erdboden gleich gemacht wird, sondern an einigen Stellen erhalten bleibt: "Was man nicht mehr sieht, vergisst man", sagt er. Hagen Koch hat seine Lebensaufgabe gefunden. Eingekeilt zwischen Tätern und Opfern, von denen viele die Mauer am liebsten ungeschehen machen würden, fühlt er sich berufen, die Erinnerung an den Betonwall zu pflegen.

Doch zunächst versucht er sein Glück im Westen: Nachdem er Ende 1990 seiner Stasi-Tätigkeit wegen den Job als Mauer-Beauftragter verloren hat, heuert er bei einer Spedition in Baden-Württemberg an, vergeblich. Auch hier holt ihn der Schatten der Vergangenheit ein. Koch wird entlassen, kehrt nach Ostdeutschland zurück und widmet sich erneut der Dokumentation der Mauer. Am 9. November 1994 gründet er sein privates Mauerarchiv: "Eine Trotzreaktion", sagt er heute; "nie wieder soll mir jemand vorwerfen, ich hätte meinen Mund nicht aufgemacht."

Zentimeter für Zentimeter Mauer

Also macht Koch weiter, immer weiter. Rechtfertigt sich täglich aufs Neue. Besessen, ganz so, als wolle er die Absolution von seinem Sohn erwirken, der in der DDR zum Opfer wurde. Eineinhalb Zimmer nimmt das private Mauerarchiv in seiner Wohnung im achten Stock eines Lichtenberger Plattenbaus ein, bis hoch zur Decke stapeln sich die Bücher, Video-Kassetten und Leitz-Ordner mit Fotos, Skizzen, Briefen und teils brisanten Dokumenten, etwa den Befehlen des Nationalen Verteidigungsrates von 1961 bis 1989.

Sein ganzer Stolz: die 1084 Bilder umfassende Gesamtansicht der Mauer, Zentimeter für Zentimeter. "Zweieinhalb Jahre habe ich gebraucht, um die Fotos in die richtige Reihenfolge zu bringen", sagt er stolz. "Meine Flucht nach vorn" heißt seine im Jahr 2000 verfasste Autobiographie, 399 Seiten stark, hoch spannend - und doch bislang von keinem Verlag veröffentlicht. "Einmal Stasi, immer Stasi", erklärt sich Koch die ablehnende Haltung lapidar. So richtig will niemand etwas mit ihm zu tun haben: Sein Mauerarchiv erhält keine öffentliche Förderung, die offizielle, politisch korrekte Mauer-Erinnerung pflegen andere, etwa die Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße oder das Museum am Checkpoint Charlie.

Die Luft aus dem Elefanten lassen

Koch hat nichts gegen den Touristenmagnet am einstigen Checkpoint and er Friedrichstraße. Aber er hat etwas dagegen, "dass nun auch noch die Mauer vom Westen vereinnahmt wird." Nur wenn man beide Perspektiven zusammen betrachte, mache die Geschichte Sinn. Zu vieles, was heute in den Lehrbüchern stehe, sei so nicht korrekt. Etwa der erste Mauertote. "Das war Jürgen Litfin und nicht Peter Fechter", so Koch. Überhaupt, die Mauertoten. Jetzt erst sehe man ein, "dass das niemals 1000 gewesen sein können", sagt Koch. Allzu oft habe man ihm Westen in punkto DDR-Historie aus der Mücke einen Elefanten gemacht. "Nun lasst endlich die Luft aus dem Elefanten", fordert er mit einer Verve, die sogar seine Frau Elke auf die Palme bringt. "Die ist genervt bis zum Geht-Nicht-Mehr", sagt Koch und lacht. "Mach' doch mal was anderes", rät sie ihm. Doch Koch denkt nicht daran.

Selbst der schwere Herzinfarkt mit anschließender Operation im vergangenen Jahr kann ihn nicht von der Mauer loseisen. Rastlos bietet er sein Leben feil, heute ein Vortrag vor Bundeswehrangehörigen in der Stasi-Zentrale, morgen eine Diskussion mit Gewerkschaftsmitgliedern. "Hier, diese Zeitung hat man mir im September aus China zugeschickt", ruft Koch vergnügt. Darin enthalten: "Zwei Seiten über Merkels Besuch - und drei Seiten über mich. Drei Seiten!" Schon jetzt freut sich der 67-Jährige diebisch auf 2009, da feiert der Mauerfall 20-jähriges Jubiläum - und Hagen Koch wird wieder ein gefragter Mann sein. Koch, der Mauererbauer, Koch, der Mauerabreißer. Koch, die rastlose Mauer-Seele.

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