Energiekrise durch Ukrainekrieg Kehren jetzt die autofreien Sonntage zurück?

Mach mit beim Ölspar-Wandertag! Als die Scheichs 1973 den Hahn zudrehten, galt ein vierwöchiges Sonntagsfahrverbot. Was heute erneut diskutiert wird, sparte damals kaum Sprit – und war trotzdem wichtig.
Rock'n'Roll auf der Düsseldorfer Kö – Aufnahme vom 25. November 1973

Rock'n'Roll auf der Düsseldorfer Kö – Aufnahme vom 25. November 1973

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Roland Scheidemann/ picture-alliance / dpa

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Pfarrer Karl Dussel aus Nammering im Kreis Passau hatte sich etwas Besonderes ausgedacht, um seine Schäfchen am Totensonntag 1973 zum Radfahren zu motivieren. Wenn der Kirchbesuch weiterhin so rege bleibe wie bisher, versprach der Geistliche seiner Gemeinde, werde der Organist als Eingangslied zum Gottesdienst einen Schlager spielen.

Nicht irgendeinen. Sondern: »Ja, mir san mit'm Radl da«.

Und so geschah es: Am 25. November 1973 donnerte im Niederbayerischen statt »Großer Gott, wir loben dich« der Mundart-Evergreen von der Empore herab. Es war der erste von vier autofreien Sonntagen, verhängt von der Bundesregierung unter Willy Brandt.

»Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wird sich morgen und an den folgenden Sonntagen vor Weihnachten unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln«, sagte der SPD-Kanzler in einer Fernsehansprache. »Wir sparen dort, wo wir es uns leisten können zu sparen: im privaten Bereich, der 40 Prozent des Energieverbrauchs ausmacht.«

»Benzinpreis explodiert: Bald 1 Mark«!

»Bild«-Schlagzeile am 1. November 1973

Auch an den folgenden drei Adventssonntagen mussten die Bundesbürger ihr Auto stehen lassen; ausgenommen waren zunächst nur Polizei, Feuerwehr und Krankentransporte sowie Inhaber einer Sondergenehmigung. Wer sich daran nicht hielt, musste zunächst 80, dann sogar 500 Mark Strafe zahlen.

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Autobahn als Fußgängerzone: Das Fahrverbot von 1973

Foto: Moesch / dpa

Das vom Bundestag verabschiedete »Energiesicherungsgesetz« vom 9. November 1973 sah zudem ein Tempolimit vor: Auf Land- und Bundesstraßen galt ab sofort Tempo 80, auf Autobahnen Tempo 100. Grund für die Gängelung der Automobilisten war die Furcht vor massiven Ölausfällen.

Denn die Scheichs hatten massiv am Hahn gedreht – der begehrte Rohstoff war jetzt eine politisch-ökonomische Waffe: Neun Erdöl fördernde arabische Ölstaaten, allen voran der saudi-arabische König Feisal, bis dato »Tankwart Amerikas« (so der SPIEGEL 1973), drosselten die Produktion, jeden Monat um fünf Prozent. Die USA, Südafrika und die Niederlande, Drehkreuz des europäischen Ölhandels, belegten sie gar mit einem Komplettembargo.

Damit wollten die arabischen Ölstaaten die westlichen Industriestaaten zur Abkehr von ihrer israelfreundlichen Politik im Jom-Kippur-Krieg  zwingen: Am 6. Oktober 1973, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, hatten Ägypten und Syrien Israel angegriffen, um den Sinai und die Golanhöhen zurückzuerobern.

Zeitgleich vervierfachte die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) den Preis für das »schwarze Gold«. Er kletterte von rund drei US-Dollar pro Barrel (159 Liter) auf gut fünf, im folgenden Jahr sogar auf über zwölf US-Dollar. Das teure Öl verschlimmerte die Wirtschaftskrise, Entlassungen und Kurzarbeit waren die Folge. Die Spritpreise explodierten.

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Showdown am Zapfhahn

Als Antwort auf den dräuenden Versorgungsengpass ermöglichte das »Energiesicherungsgesetz« der Bundesregierung die Rationierung von Benzin und Diesel, was bis dato nur für den Verteidigungsfall vorgesehen war. Fortan wurde nur noch eine bestimmte Menge ausgegeben – und das führte an einer Tankstelle in Wallmerod im Westerwald zum veritablen Showdown am Zapfhahn.

Dort bedrohte der Fahrer eines silbergrauen Mercedes 280E den Tankwart Heinz Eilberg mit einer Pistole, weil der ihm nur 15 Liter verkaufen wollte. »Flugs erhöhte der Westerwälder auf 72,1 Liter Super für glatte 59 Mark – da öffnete der Sprit-Bandit den Kofferraum und zeigte auf vier Kanister. Und nur, weil ein Lastwagen heranrollte, blieb nun der Hahn zu. Der Silbergraue brauste davon«, berichtete der SPIEGEL damals.

1-PS-Antrieb: Ein als Scheich verkleideter Mann lässt sein Auto am ersten autofreien Sonntag von einem Pferd durch Nürnberg ziehen (am 25. November 1973)

1-PS-Antrieb: Ein als Scheich verkleideter Mann lässt sein Auto am ersten autofreien Sonntag von einem Pferd durch Nürnberg ziehen (am 25. November 1973)

Foto: AP

Andere Bürger zogen sich Benzinvergiftungen zu, weil sie den Treibstoff per Schlauch aus fremden Tanks herausnuckelten. Volle zehn Prozent Treibstoffeinsparung erhoffte sich die Bundesregierung 1973 allein durch das Sonntagsfahrverbot; sechs Prozent sollte das Tempolimit bringen.

Angesichts der aktuellen Energiekrise durch den Ukrainekrieg haben mehrere Akteure den autofreien Sonntag aus der Mottenkiste historischer Maßnahmen hervorgekramt: So schlug Nina Scheer, energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagesfraktion, jüngst Sonntagsfahrverbote vor.

»Der tatsächliche Einspareffekt war 1973 längst nicht so groß wie erhofft.«

Historiker Rüdiger Graf

Das forderten auch Baden-Württembergs Umweltministerin Thekla Walker (Bündnis 90/Die Grünen) und die Mobilitätsexpertin des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes (VZBV), ebenso Benjamin Stephan von Greenpeace . »Jede Tankfüllung, jede Heizöllieferung spült Geld in Putins Kriegskasse«, so der Verkehrsexperte der Umweltschutzorganisation – und sprach sich obendrein für ein Tempolimit aus.

Zudem befürworten Wissenschaftler wie Michael Sterner, Professor für Energiespeicher an der Ostbayerischen Technischen Hochschule, ein Revival des Sonntagsfahrverbots. Vier autofreie Sonntage im Monat könnten zehn Prozent Spritersparnis bringen.

Wird es die schwelende Energiekrise nennenswert abmildern oder gar den russischen Aggressor in die Knie zwingen, wenn wir immer wieder sonntags das Auto stehen lassen?

Das Signal: »Wir können auch ohne euer Öl«

Wohl kaum, sagt Rüdiger Graf, Historiker vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Autofreie Sonntage seien 1973 das gewesen, was sie auch in der aktuellen Situation wären: reine Symbolpolitik.

Aus ökologischen Gründen befürwortet der Historiker jede noch so kleine Bemühung zur Energieeinsparung, allem voran das Tempolimit. »Auch ein Sonntagsfahrverbot kann positive gesellschaftliche Effekte haben«, sagte Graf dem SPIEGEL. Allein: Das Problem löst es nicht.

Lauschiges Plätzchen: Spontan-Zeltplatz Ende 1973

Lauschiges Plätzchen: Spontan-Zeltplatz Ende 1973

Foto: RDB / ullstein bild

»Der tatsächliche Einspareffekt war 1973 längst nicht so groß wie erhofft«, erklärt Graf. Für viel bedeutsamer hält er die öffentlichkeitswirksam inszenierte Geste: »Wir können auch ohne euer Öl – das war die Botschaft der autofreien Tage.«

Kinder enterten am Sonntag per Rollschuh oder Rad die Autobahnen. Rentner wackelten eingehakt über die Bundesstraße. Pferdekutschen cruisten durch die Innenstädte und Hippies schlugen Zelte auf, wo sich sonst Stoßstange an Stoßstange reihte: Die Bilder von der frisch-fromm-fröhlich-autofreien Gesellschaft brannten sich tief ins kollektive Gedächtnis, nicht allein in Deutschland – Sonntagsfahrverbote gab es 1973 auch in der Schweiz und Belgien.

Ölabhängigkeit erkannt

Die Österreicher wiederum durften über den Zeitpunkt ihres Fahrfastens individuell entscheiden: Ein großes Pickerl auf der Windschutzscheibe signalisierte der Obrigkeit im Januar 1974, an welchem Wochentag der Wagen in der Garage stehen bleiben musste.

»Hier ging es auch um symbolische Kommunikation auf internationaler Ebene«, so Graf. Der Energieverbrauch in der Bundesrepublik sank durch die verhängten Maßnahmen beim Mineralöl jedoch kaum, wie auch der Historiker Frank Bösch betont. Schon am 24. Dezember 1973 drehten die arabischen Staaten den Ölhahn wieder auf – und 1979 verbrauchten die Bundesbürger erneut die gleiche Menge wie vor dem Ölpreisschock von 1973.

Einen positiven Effekt hatte die Ölkrise trotzdem, auch wenn er sich nicht unbedingt in nackten Zahlen abbilden ließ. »Die westlichen Regierungen erkannten, wie abhängig sie vom Öl aus dem Nahen und Mittleren Osten waren, und begannen, nach alternativen Formen der Energieversorgung zu suchen«, sagt Graf. »Erstmals bildete sich eine kohärente Energiepolitik heraus.«

Eine solidarische Geste, keine Lösung

Die Politik begann umzusteuern, ein gesamtgesellschaftliches Umdenken setzte ein, die Umweltbewegung wurde gestärkt. Auch infolge des 1972 veröffentlichten Ökoschockers »Die Grenzen des Wachstums«  begriffen viele Menschen: Um diesen Planeten zu retten, müssen Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch dringend entkoppelt werden.

Ein halbes Jahrhundert später ist das Problem noch immer ungelöst, und abermals bietet eine Energiekrise die Chance einer politischen Neuaufstellung. Mit einem »Ölspar-Wandertag«, wie ihn Ende 1973 der Bürgermeister der osthessischen Gemeinde Künzell ausrief, wird es kaum getan sein – auf die wackeren Wanderer wartete damals am Ende der Strecke übrigens ein Kanister Benzin zur Belohnung.

Der gute alte autofreie Sonntag: Er mag als solidarische Geste taugen, die Umwelt ein wenig entlasten und den Deutschen in diesem sinnlosen Krieg kurzfristig Erleichterung verschaffen. Das Energieproblem aber lösen wir damit nicht, sagt Graf – »es sei denn, wir entscheiden uns zu wirklich harten Einschnitten«.

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