
Es sind die Pocken - das Drama in der Eifel
Archiv Verein für Heimatgeschichte und Dorfkultur Lammersdorf
Epidemie in der Eifel Die Attacke der gefährlichen Pocken
Um sich vor dem Coronavirus zu schützen, soll man eineinhalb Meter Abstand von den Mitmenschen halten und sich, sooft es geht, die Hände waschen. Doch die Welt der Seuchen hat noch ganz andere Kaliber anzubieten. Die Pocken etwa verbreiten sich über den anfänglich katarrhalisch hustend Infizierten und siedeln sich in einem Umkreis von unglaublichen 20 Metern im Rachenbereich anderer Menschen an, getragen von Luftzügen. Jeder von einem Pockenkranken berührte Gegenstand wird hochinfektiös. Sobald die charakteristischen, von geronnenem Blut schwarz erscheinenden Pusteln aufgekratzt werden und sich entzünden, können sogar Fliegen, die sich am Eiter der Pusteln laben, das Virus leicht übertragen.
Vor 58 Jahren grassierten die Pocken im Kreis Monschau nahe Aachen, äußerster Teil des Hürtgenwaldes. In dieser Beinahekatastrophe finden sich alle Elemente, die wir derzeit aus dem Alltag kennen: ein anfängliches Zusammenspiel unglücklicher Umstände, Fehleinschätzungen überforderter Mediziner, Behördenignoranz und Leichtfertigkeit; schließlich drastische Maßnahmen mit Quarantäne, Ausgehverboten und Abriegelung ganzer Ortschaften. Wir sehen größte mitmenschliche Hilfsbereitschaft, aber auch üble Szenen mangelnder Solidarität, die das eine Dorf zum Feind des nächsten zu machen schienen.
Überkrönt wurde das Eifel-Drama von einem Medienhype, der schon damals Unbehagen über die Globalisierung offenbarte. Der SPIEGEL schrieb: "Die Krankheit durfte in Deutschland praktisch als ausgerottet gelten, solange die Reisenden aus den traditionellen Pockenländern vorzugsweise mit dem Schiff ankamen. Hatte sich ein Passagier infiziert, so brach die Krankheit in der Regel noch während der Dampferfahrt aus. Seuchenhygienischer Vorteil: Alle Kontaktpersonen konnten mühelos unter Quarantäne gestellt werden. Mit dem Anbruch des Massenflugzeitalters nach dem Zweiten Weltkrieg aber wuchs die Gefahr, dass die Seuche unerkannt ins Land kam."
Anfang 1962 kam sie in den Hürtgenwald.
"The German Doctor" kommt zurück
Den Hürtgenwald noch im Krieg erlebt hatte Günter Stüttgen, damals 25. Er war der Sanitätsoffizier, der in Berichten von Überlebenden der sogenannten Allerseelenschlacht im November 1944 als "The German Doctor" auftauchte und beim "Wunder vom Hürtgenwald" Hunderten das Leben rettete, auch US-Soldaten. Knapp 20 Jahre später sollte er zurückkehren. Wieder ging es um Leben und Tod, wieder stellte er sein eigenes Wohlergehen und seine Sicherheit hintan, um dem hippokratischen Eid zu folgen und Kranken unter allen Umständen zu helfen.
Die Epidemie in der Eifel begann mit einer typisch deutschen Erfolgsgeschichte, einem mittelständischen Unternehmen, das bis heute zu den Weltmarktführern seiner Sparte zählt: Die Otto Junker GmbH verkaufte Hochtemperaturöfen in alle Welt und schickte im Mai 1961 Josef Breuer, 31, auf Montage nach Indien. Am 20. Dezember machte er sich auf den Heimweg, um mit seiner Frau und den zwei Kindern Weihnachten in Lammersdorf zu feiern.
Unklar ist, wie genau er sich mit den Pocken infizierte - ob in Madras (heute Chennai), beim Umsteigen am Flughafen in Karachi oder bei einer auffallend hübschen Air-India-Stewardess; später glaubte er sich an seltsame schwarze Pickel auf ihrer Stirn zu erinnern.

Es sind die Pocken - das Drama in der Eifel
Archiv Verein für Heimatgeschichte und Dorfkultur Lammersdorf
Am 5. Januar begann Josef Breuer sich unwohl zu fühlen. Er vermutete eine Erkältung in der tief verschneiten Eifel nach dem Aufenthalt im subtropischen Madras. Sein Hausarzt Hugo Fraikin, der seit 1947 in Lammersdorf praktizierte, schrieb ihn wegen eines "grippalen Infekts" krank. Als Tage später an Fußsohlen und Handflächen pustelartige Hautveränderungen auftraten, diagnostizierte der Arzt Windpocken und dachte nicht an Variola, die lebensgefährlichen, hochinfektiösen Pocken. Gegen das Virus war Breuer Jahre zuvor geimpft worden.
Etwa zwei Wochen nach ersten Symptomen ihres Vaters ging es auch der neunjährigen Waltraud Breuer schlecht. Ihr war übel, sie litt unter ständigem Juckreiz. Mit Unbehagen entdeckte Waltrauds Mutter Pusteln am ganzen Körper. Beim Hausbesuch diagnostizierte Dr. Fraikin Windpocken. Der Vater war schon wieder in der Firma, als Fraikin Ende Januar am Abendbrottisch sein Riesenfehler dämmerte: Was den Vater und vor allem die kleine Tochter quälte, waren die Pocken.
Die Viren verbreiten sich in der Klinik
Ein Krankenwagen raste mit der fiebernden Waltraud nach Aachen. Vor der Pforte der städtischen Klinik rief der diensthabende Arzt gegen sieben Uhr abends den Oberarzt, und der den Chef der Abteilung, und der den Direktor. Versammelt betrachteten sie das erschöpfte, delirierende Kind durch die Autoscheiben, zogen sich zur Beratung zurück, telefonierten sich die Hierarchie der Gesundheitsbehörden hinauf.
Gegen 22 Uhr erhielt der Chefarzt des Krankenhauses von Simmerath einen Anruf. Das Düsseldorfer Innenministerium verlangte, das mit Pocken infizierte Mädchen aufzunehmen. In Simmerath, wandte der Chefarzt ein, gebe es keine Isolierstation, anders als in Aachen, wo zuletzt doch zahlreiche Ärzte immunisiert worden seien. Ja, aber die Stadt Aachen habe eine Aufnahme abgelehnt. Dann vielleicht nach Düsseldorf? Nein. Das Kind stamme aus dem Kreis Monschau, dort müsse es versorgt werden. Dies sei das letzte Wort.
So entstand eilig eine improvisierte Isolierstation in einem dafür gänzlich ungeeigneten Gebäude. Gegen Mitternacht trug der Krankenwagenfahrer das stark hustende Mädchen ins Krankenzimmer. Eine Patientin lehnte sich aus dem Fenster, um zu sehen, was vor sich ging. Sie erkrankte wenige Tage später - infiziert durch die vom Wind fortgetragenen Viren. Andere Patienten wurden tags darauf entlassen. Niemand ahnte, dass Waltrauds Husten das Virus bereits im Krankenhaus verteilt hatte. Jeder dort konnte infiziert und ein potenzieller Überträger sein.
"Über den Köpfen der Menschen im Kreis Monschau braute sich ein Unheil zusammen", schrieb der Lammersdorfer Regionalhistoriker Jürgen Siebertz über diesen 1. Februar 1962. Zugleich erreichte Günter Stüttgen die Bitte aus dem Innenministerium, in die Eifel zu gehen. Keiner der Ärzte dort wisse, was zu tun sei. Vergebens suchte der Düsseldorfer Dermatologe nach Kollegen mit dem Mut, ihn zu begleiten. Niemand wollte sich auf das Risiko einlassen.
Weiterfahren, auf keinen Fall anhalten
Nur der tapfere Assistent Constantin Orfanos, gerade im ersten Jahr Arzt, erklärte sich bereit, mit seinem Doktorvater in den Hürtgenwald zu fahren. "Stüttgen hatte in Indien die Pocken studiert. Ich war sehr stolz darauf, ihm helfen zu dürfen", erzählt Orfanos, heute 83. "Er war in jeder Hinsicht ein Vorbild für mich. Ein fröhlicher, aber auch entschlossener Mensch." Die beiden blieben enge Freunde, herausragende Wissenschaftler mit beachtlichen Karrieren; 1987 organisierten sie zusammen den dermatologischen Weltkongress in Berlin.
1962 in der Eifel arbeiteten sie unter heikelsten Umständen zusammen. Dr. Orfanos bekam die Aufgabe, sich als "Pockenbeauftragter" für vier Wochen bei der Firma Junker einzuquartieren, jeden Verdacht zu prüfen und Mitarbeiter, falls nötig, sofort zu isolieren. Stüttgen selbst veranlasste alle nötigen Maßnahmen und begutachtete die Fälle.
Am 2. Februar um fünf Uhr morgens weckte die Polizei Lammersdorfs Einwohner mit der grausigen Lautsprecherdurchsage eines möglichen Pockenfalls. An den Ortseingängen mahnten Polizisten und Zollbeamte, keinesfalls anzuhalten. Der Oberkreisdirektor schloss sämtliche Schulen und verbot - mitten im Karneval - Veranstaltungen jeder Art. In vielen Dörfern liefen eiligst Impfkampagnen an.
Im Nachbarland Belgien reagierte die Presse mit schauerlichen Titelbildern und die Regierung mit einer Maßnahme ganz wie heute: Man schloss augenblicklich die Grenze. Schulen und Jugendheime wurden zu Quarantänestationen. Am 4. Februar erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Landkreis zum "Internationalen Infektionsgebiet". Bis dahin waren etwa 150 Menschen in sekundärer Quarantäne, doch beinahe täglich tauchten neue Fälle auf. Zunehmend erkrankten auch Ärzte und Krankenschwestern.
Am 20. Februar starb die Patientin, die Waltrauds Einlieferung in Simmerath beobachtet hatte. Das Krankenhaus kam unter strengste Quarantäne. Kein Patient durfte mehr hinaus, niemand hinein. Günter Stüttgen rang darum, bei jedem neuen Fall die nötigen Protokolle einzuhalten. Die vielen Schwestern, Rotkreuzmitarbeiter und freiwilligen Helfer ächzten unter ihrer Dauerbelastung, das Gesundheitssystem um Monschau stand kurz vor dem Zusammenbruch. Aber es gab keine Alternative.
"Wenn wir Maschinengewehre hätten..."
Zudem weigerten sich umliegende Krankenhäuser immer vehementer, "normale" Patienten aus dem Kreis aufzunehmen. Jeder Monschauer stand im Verdacht, die Pocken einzuschleppen. Die "Zeit" berichtete von einer Versammlung in Langerwehe bei Düren:
"Sie warteten auf die ersten Zeichen eines Aufstandes, mit dem der Bürgermeister Schoeller am Vortage gedroht hatte: 'Wir werden alles tun, um zu verhindern, daß das Krankenhaus Langerwehe mit Patienten aus dem Kreise Monschau belegt wird. Notfalls schlagen wir zu.' Für die beiden Vertreter des Aachener Regierungspräsidenten bekräftigte ein Sprecher der Gemeinde noch einmal: 'Wir werden auf die Barrikaden steigen.' Die Dörfler auf den Zuschauerbänken applaudierten und riefen: 'Hört! Hört!' und 'Bravo!'. Ein alter Mann donnerte seinen Stock auf den Boden und lärmte: 'Wenn wir Maschinengewehre hätten, könnte man vor dem Krankenhaus aufziehen'."
Erst am 10. April 1962 konnten die letzten fünf Patienten entlassen werden. Die Bilanz der Eifel-Epidemie: eine Tote, vier sehr schwer und 33 mittelschwer Erkrankte. 700 Menschen befanden sich zeitweilig in Quarantäne, etwa 5000 wurden geimpft. Im Ganzen konstatierten die Ärzte einen "extrem milden Verlauf". Als 1970 ein Elektriker die Pocken aus Pakistan ins Sauerland mitbrachte, gab es eine weitere Epidemie mit 20 Infizierten, zwei Jahre später den letzten Pockenfall in Deutschland. 1979 erklärte die WHO dieses Übel für ausgerottet.
Josef Breuer lebt heute hochbetagt in Lammersdorf. Seine Tochter Waltraud, die so sehr gelitten hatte, konnte nach genau 40-tägiger Isolation gesund das Krankenhaus verlassen. Ihre Pockennarben heilte die plastische Chirurgie. Sie heiratete und führte ein glückliches Leben - bis heute.
Günter Stüttgen, der jeden Tag nach ihr gesehen hatte, erkrankte bei seinem zweiten Einsatz im Hürtgenwald selbst an den Pocken. Sein Sohn Ulrich erinnert sich: "Man hat meinem Bruder und mir nicht den Grund dafür gesagt, dass der Vater nicht mehr nach Hause kam, den wir natürlich vermissten." Stüttgens Familie selbst wurde in ihrer Düsseldorfer Wohnung unter Quarantäne gestellt: "Wir kleinen Jungs hatten plötzlich schulfrei und fanden das wiederum gut! Jeden Abend kam ein Herr vom Gesundheitsamt an die Haustür und nahm Proben von uns."
Die Stüttgens hatten Glück. Aber ausgerechnet eine Düsseldorfer Krankenschwester, die den mutigen Arzt und andere damals pflegte, erkrankte gleichfalls. Sie starb. Kurz vor seinem Tod 2003 erzählte Stüttgen der "Süddeutschen Zeitung" von ihr: "Sie hat die Flecken auf ihrer Haut gesehen und war sich völlig klar, dass sie sterben wird. Sie wusste es, ich wusste es."