
Erfolgsgeschichte Kathi: Aufback Ost
Erfolgsgeschichte Kathi Aufback Ost
Es fehlten nur noch wenige Monate. Jahrzehnte hatte Käthe Thiele darauf gehofft, dass ihr Staat, die DDR, zusammenbrechen würde. Der Staat, der sie, die erfolgreiche Unternehmerin und Gründerin des Familienbetriebs Kathi, entschädigungslos enteignet hatte. Der Staat, der mit einem schnöden bürokratischen Federstrich ihr Lebenswerk zerstört und ihre Familie ins Unglück gestürzt hatte.
Ende März 1989 ahnte Käthe Thiele zwar, dass das lang ersehnte Ende der DDR nah sein dürfte - doch sie wusste, dass sie zu alt und krank war, um es noch selbst zu erleben. "Einen Tag vor ihrem Tod war ich an ihrem Krankenbett", erinnert sich ihr Sohn Rainer Thiele. "Sie bat mich um ein Versprechen. Ich sollte das Unternehmen für die Familie zurückgewinnen. Sie war sich sicher, dass die DDR abgewirtschaftet habe."
Sieben Monate später fiel tatsächlich die Berliner Mauer. Doch unmittelbar nach der emotionalsten Party der deutschen Geschichte begann ein nackter Existenzkampf: Die meisten Ost-Betriebe waren nach Jahrzehnten der Planwirtschaft kaum konkurrenzfähig. Etablierte DDR-Produkte waren auf einmal extrem unpopulär, der Verkauf brach drastisch ein, westdeutsche Spekulanten gingen auf Schnäppchenjagd. Von etwa 700 Ost-Marken sollten langfristig nur 120 die friedliche Revolution überleben. Auch Kathi geriet in Schwierigkeiten. Rainer Thiele musste kämpfen - um jeden Preis wollte er sein Versprechen einlösen.
Kreativität gegen den Mangel
Schließlich ging es dabei um eine fast märchenhafte Erfolgsgeschichte, die 40 Jahre zuvor begonnen hatte - und aus purer Not geboren war: Im zerstörten Nachkriegsdeutschland versuchte Käthe Thiele irgendwie über die Runden zu kommen. Sie experimentierte mit Lebensmitteln, schuf Eigenkreationen, etwa eine gestreckte Leberwurst, mit der sie von Dorf zu Dorf tingelte, um sie gegen Butter, Eier oder Käse zu tauschen. 1951 erfand die Autodidaktin, deren Mann Kurt erst 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, die erste deutsche Backmischung - zwei Jahrzehnte, bevor der Lebensmittelriese Dr. Oetker damit auf den westdeutschen Markt drängte.
Auch diese Innovation war vom Mangel inspiriert: In der gerade erst gegründeten DDR fehlte es oft an wesentlichen Zutaten für Kuchen. Mal war kein Zucker da, dann gab es kein Mehl oder keine Stärke. Käthe Thieles simple Idee war, alles irgendwie in eine Tüte zu packen und haltbar zu machen, so dass Kuchen auch in Zeiten leerer Ladenregale gebacken werden konnten. Genauso einfach wie das Konzept klang der Firmenname: Kathi, zusammengesetzt aus ihrem Vor- und Nachnamen.
Anfangs produzierten Kurt und Käthe Thiele die Backmischungen in den Garagen ihres Mietshauses in Halle - "ganz nach dem Bill-Gates-Prinzip", berichtet Sohn Rainer Thiele heute lachend. Wie beim Microsoft-Gründer reichte schon bald der Platz nicht mehr. Der Kuchen aus der Tüte war heiß begehrte Bückware, Kathi expandierte und entwickelte neben den Backmischungen nun auch andere Produktlinien wie Fertigsuppen, Soßen oder Kloßmehl.
Trümmer eines Lebenswerks
Ein paar Jahre sah es so aus, als würde das, was sich eigentlich ausschloss, ziemlich unproblematisch funktionieren: ein privat geführtes Unternehmen mit Eigenkapital im real existierenden Sozialismus. Doch dann begann der Staat, die Zügel anzuziehen. Für Kathi wurde es eine Enteignung in drei Schritten.
Zunächst musste die Familie die Mehrheit am Betrieb an einen staatlichen Mitgesellschafter übergeben. 1968 zwang das Regime Kathi dann, sich auf eine Produktionslinie zu beschränken und alle anderen aufzugeben. Die Thieles entschieden sich für die Backmischungen. "Das bedeutete aber auch, dass wir die ganze Technik, die Rohstoffe und die Rezeptur für die anderen Produktionslinien gratis an einen Volkseigenen Betrieb abgegeben mussten", sagt Rainer Thiele. "So etwas kann man sich heute gar nicht vorstellen. Aber es war eben eine Diktatur - da zählte Macht vor Recht."
Als sich die Familie gerade vom Schock erholt hatte, griff der Staat 1972 zu einer noch drastischeren Maßnahme: Er enteignete die Familie entschädigungslos und wandelte den Betrieb in den VEB Backmehlwerk Halle um. "Mein Vater war leider immer ein introvertierter Mensch, der alles in sich hineinfraß. Er erlitt einen Hörsturz und verlor 90 Prozent seiner Hörfähigkeit", berichtet Rainer Thiele. "Auch meine Mutter brach seelisch völlig zusammen."
"Sie sind kein Genosse!"
Jetzt versuchte der einzige Sohn zu retten, was noch zu retten war. Er musste mit einer staatlichen "Umwandlungskommission" über die "freiwillige Übergabe" verhandeln, wie die Enteignung im offiziellen Duktus zynisch genannt wurde. Die Kommission wollte sogar den Markennamen Kathi ändern, weil er ihr zu "kapitalistisch-bürgerlich" erschien. Doch Vater Kurt Thiele hatte sich den Namen 1951 schützen lassen - zur großen Belustigung seiner Freunde. Er hatte stets bezweifelt, dass es die DDR dauerhaft geben würde. Nun zahlte sich seine Weitsicht aus: Thieles Firma war zwar tot, doch der Name Kathi überlebte.
Rainer Thiele, der Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, blieb zunächst als "sozialistischer Direktor" im Betrieb. Doch wenige Jahre später wurde er ebenfalls aus der Firma gedrängt. "Sie sind ja gar kein Genosse!", habe ihn der Vorsitzende des regionalen Wirtschaftsrats bei einer Krisensitzung angebrüllt. Als Thiele sich dennoch weigerte, in die SED einzutreten, habe man ihn zur Strafe zum Reservedienst der Nationalen Volksarmee geschickt und in der Zwischenzeit sein Gehalt gekürzt, sein Büro geräumt und ihn aus dem Handelsregister gestrichen.
Die Wende 1989 war für Rainer Thiele eine Chance, den Betrieb zurückzugewinnen. Einen Tag nach dem Mauerfall machte er sich an die Arbeit. Stundenlang wartete er, um die alten Firmenunterlagen zurückzubekommen, die inzwischen in verschiedenen Ämtern in Halle, Magdeburg und Dresden lagerten. Erst dann konnte er einen Antrag auf Reprivatisierung stellen.
"Als ich hörte, dass eine Umwandlungskommission für meinen Antrag zuständig war, bekam ich aber leichte Bauchschmerzen." Die DDR war untergegangen, doch die bürokratischen Begriffe lebten weiter - und riefen schmerzhafte Erinnerungen hervor. Und tatsächlich: In der Umwandlungskommission erkannte Thiele zwei alte Bekannte, die 1972 dem SED-Staat geholfen hatten, seiner Familie den Betrieb zu entreißen. Nun sollten ausgerechnet diese Männer erneut über sein Schicksal mitentscheiden?
Rettung in letzter Minute
Aufgebracht beschwerte sich der heute 67-Jährige beim Vorsitzenden der Kommission. Ein neues Gremium wurde zusammengesetzt, neue Termine gemacht. Doch der Ärger war damit nicht beendet. Erst nach 13 Monaten bürokratischen Kriegs wurde Rainer Thiele Anfang 1991 Geschäftsführer von Kathi. Nach fast 20 Jahren war die Firma wieder in Familienbesitz. Völlig ausgepumpt wollte Thiele mit seiner Frau auf diesen Erfolg anstoßen - und brach mit einem Herzinfarkt zusammen.
Als er sich wieder erholt hatte, warteten Riesenprobleme auf ihn: Der Umsatz war nach der Wende um mehr als 80 Prozent eingebrochen, 80 der 112 Beschäftigten mussten gehen, Kathi hatte mit einem Schlag 26 Konkurrenten. Nur ein Fremdauftrag sicherte das Überleben in letzter Minute: Als Co-Packer, also Subunternehmer, konnte Kathi seine Backmischungen für eine westdeutsche Firma produzieren.
Mit dem Kapital konsolidierte sich Kathi langsam. Schon 1991 schrieb die Firma schwarze Zahlen. Kathi wurde einer der wenigen ostdeutschen Betriebe, die den kalten Sprung in die Marktwirtschaft überstanden und sogar deutlich zulegen konnten: Lag der Umsatz 1991 noch bei 3,8 Millionen Mark, betrug er im vergangenen Jahr satte 23 Millionen Euro. Konsequent setzte die Firma auf die Bekanntheit der Marke, investierte kräftig in neues Design und wagte sogar den Sprung auf den US-Markt.
20 Jahre nach der Einheit ist das Unternehmen aus Halle in Ostdeutschland Marktführer für Backmischungen und bundesweit die Nummer drei hinter Dr. Oetker und Ruf. Am meisten ist Rainer Thiele jedoch auf die erkämpfte Unabhängigkeit stolz. "Wir haben uns nach der Wende nicht in die Arme eines großen Investors geworfen", sagt er. "Und wir haben auch nicht auf die ostdeutsche Tränendrüse gedrückt, sondern begreifen uns heute als gesamtdeutsches Unternehmen."
Vor wenigen Jahren konnte er sogar das Vermächtnis seiner Eltern weitergeben: Heute führen seine Söhne den Familienbetrieb - inzwischen in dritter Generation.