
Ernst von Weizsäcker: Diplomat des Teufels
Ernst von Weizsäcker Diplomat des Teufels
Der September 1939 begann für den Ernst von Weizsäcker mit einer doppelten Katastrophe. Hitlers Überfall auf Polen bedeutete das Scheitern von Weizsäckers Versuchen, den Frieden zu retten - so jedenfalls würde es der Diplomat im Auswärtigen Amt nach dem Krieg gebetsmühlenartig wiederholen. Und die politische Niederlage ging einher mit einem menschlichen Drama: Am Tag nach der Invasion traf eine Kugel Weizsäckers Sohn Heinrich beim Vormarsch in der Tucheler Heide in den Hals und tötete den 22-jährigen Zugführer von Infanterie-Regiment Nr. 9.
Richard von Weizsäcker kämpfte nur wenige hundert Meter entfernt, als sein Bruder Heinrich fiel - ein Schlüsselerlebnis für den 19-jährigen, das den späteren Bundespräsidenten sein Leben lang prägte. Und der trauende Vater? Musste er nach dem Verlust seines Sohnes und dem Scheitern seiner Politik nicht zwangsläufig zum Gegner des NS-Regimes werden? Oder zumindest auf Distanz gehen und sich von der Zentrale der Macht zurückziehen? Immerhin war Ernst von Weizsäcker als Staatssekretär im Auswärtigen Amt die Nummer zwei in der Hierarchie des Ministeriums, direkt hinter Außenminister Joachim von Ribbentrop.
Kein Freund der Demokratie
Er tat es nicht, so wie er auch schon früher die Nähe der Nationalsozialisten nicht gescheut hatte. Und das, obwohl Weizsäcker ein Diplomat der alten Schule war: geschliffene Rhetorik, brillantes Auftreten, hochkulturelle Bildung. Weizsäcker gehörte zu der Generation des konservativen Bürgertums und der Aristokratie, die zwar außenpolitische Ziele der Nationalsozialisten wie der Revision des Versailler Vertrags unterstützten, sich aber an den aggressiv-brutalen Tönen und dem proletarischen Manieren der Nationalsozialisten störten.
So entschied sich Ernst von Weizsäcker, 1920 ins "Amt" einzutreten und seine Diplomatenkarriere unter dem Hakenkreuz fortzusetzen. Er wurde damit später zum umstrittensten Vertreter der so erfolgreichen Weizsäcker-Dynastie, aus deren Haus berühmte Wissenschaftler, ein Ministerpräsident des Königreichs Württemberg und ein Bundespräsident kamen. Generationen von Historikern stritten sich später heftig über seine Rolle im NS-Staat. Wann erfuhr er von der Judenvernichtung? Was konnte, was wollte er verhindern? Finden sich in seinen Notizen nicht versteckt kritische Äußerungen wieder? Kurz: War der Spitzendiplomat nun ein willfähriger Handlanger Hitlers, ein mutloser Opportunist - oder doch ein ehrenwerter Mann des Widerstands?
Lange galt Weizsäcker unter Historikern als Regimefeind, der Hitlers Pläne hintertrieb. Doch nach und nach kippte das Bild. Da gab es das hässliche Wort vom "Krebsschaden", als den er die Demokratie bezeichnete. Er ärgerte sich über die Nominierung des KZ-Häftlings und Pazifisten Carl von Ossietzky für den Friedensnobelpreis und empfand kritische Zeitungen als "Werkzeuge des Teufels". Als kaisertreuer Seeoffizier, der im Ersten Weltkrieg zum Korvettenkapitän befördert worden war, konnte sich Weizsäcker nie mit der Weimarer Republik anfreunden. Er sprach von "Judenüberschwemmung" und rechtfertigte so die antisemitische Politik. Und er lobte 1933 Hitlers Reden als "sehr abgewogen und gut".
SS-General Weizsäcker
Als Weizsäcker unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme 1933 zum Gesandten Deutschlands in der Schweiz ernannt wurde, wog er genau Vor- und Nachteile der nationalsozialistischen Revolution ab. Positiv erschien ihm "die Aufrüttelung aus einer Schicksalsergebenheit", Haltung, Disziplin, die Betonung der Familie - "kurzum ein moralischer Aufschwung". Dagegen bemängelte er die NS-Politik auf "geistigem Gebiet" und hoffte auf Verbesserungen im Bereich der sozialen und internationalen Beziehungen.
Wegen solcher Aussagen war Ernst von Weizsäcker noch kein überzeugter Anhänger der Nazis, eher wohl ein konservativer Patriot. Bis 1938 weigerte er sich, Mitglied der NSDAP zu werden. Dennoch machte er unter Hitler eine atemberaubende Karriere. 1937 wurde er aus der Schweiz zurückberufen und stieg zum Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt auf. Bis heute lässt sich trefflich darüber spekulieren, warum ein Nichtparteimitglied in eine so hohe Position befördert wurde. War die Spitze der NSDAP, die "keine politische Bedenken" gegen den Edelmann erhob, von der unbedingten Loyalität des Aristokraten überzeugt? Oder diente die Aufwertung des scheinbar moderaten Diplomaten nur dazu, gegenüber ausländischen Beobachtern Hitlers radikale Politik zu verschleiern?
Erst im Frühjahr 1938, kurz vor seiner Ernennung zum Staatssekretär, trat Weizsäcker schließlich der NSDAP bei und erhielt das Parteibuch Nummer 4814617. Jetzt wurde er auch Mitglied der SS und gleich zum SS-Oberführer, später zum Brigadeführer - entsprechend dem Generalsrang - ernannt. Er gehörte offiziell zum persönlichen Stab des "Reichsführer-SS" Heinrich Himmler. Große Differenzen scheint es mit dem unkultivierten Massenmörder nicht gegeben zu haben. Artig bedankte sich Weizsäcker für die "Julkerze", mit der Himmler ihm zum Weihnachtsfest bedachte. Und auch für Hitler hatte Weizsäcker 1942 nur unterwürfige Worte übrig: "Wir sind auf nichts ausgerichtet als auf den Führer, sein Wille ist der unsrige, sein Siegesbewusstsein ist unser Siegesbewusstsein."
Versuche, den Krieg zu verhindern
Alles nur Tarnung? Nach dem Krieg rechtfertigte sich der Diplomat damit, dass "gewisse Konzessionen an die neue Denk- und Sprechweise unvermeidlich" waren. Doch war es glaubwürdig, dass Weizsäcker deshalb gleich ein engagierter Kämpfer für den Frieden gewesen sein wollte, dass er stets die Nähe des Widerstands gesucht hatte, wie er später behauptete? Er sei im Dienst geblieben und habe damit "ein Kreuz" auf sich genommen, um Schlimmeres zu verhindern, gab der Diplomat zu Protokoll.
Fest steht: Zunächst setzte sich Weizsäcker tatsächlich für eine Friedensordnung ein und war gegen "unbesonnenen Expansionismus". Heftig geriet er deswegen mehrfach mit Außenminister Ribbentrop aneinander. Die Revision des Versailler Vertrages sei friedlich zu erreichen, argumentierte der Beamte - "vorerst", wie er aber bald einschränkte. 1938 gelang Weizsäcker sein größter Coup: Er war entscheidend daran beteiligt, dass die Alliierten in der Sudetenkrise einlenkten - das legendäre Münchner Abkommen, zu dessen Architekten der adlige Staatssekretär zählte, hatte in letzter Sekunde einen europäischen Krieg abgewendet, jedenfalls vorerst.
Doch bald musste Weizsäcker erkennen, dass Hitler keineswegs nur hoch pokerte, sondern gezielt Krieg wollte. Und nun beteiligte auch er sich an dieser Politik. Als es kurz vor dem Einmarsch in Polen zu einem Streit über Zollbeamte in Danzig kam, forderte der Diplomat, die Verhandlungen mit Polen so zu führen, dass sie scheitern müssten und Polen dabei wie der Schuldige aussähe.
"Kein Einspruch" gegen Judendeportationen
Schon bei einem Gespräch anlässlich der Bestellung Weizsäckers zum Staatssekretär hatte Außenminister Ribbentrop seinen Spitzenbeamten über die künftige expansive Linie der NS-Politik ins Bild gesetzt, die "nicht ohne das Schwert zu erfüllen" sei. Dennoch hatte Weizsäcker die Beförderung angenommen. Damals notierte er sogar, er folge der Berufung "als Soldat". Als er 1950 seine Erinnerungen auf Basis der alten Aufzeichnungen veröffentlichte, fehlten darin solche Notizen - nicht der einzige Versuch Weizsäckers, seine Biografie nachträglich zu schönen.
Am heftigsten wurde Weizsäcker seine Rolle bei der Deportation von französischen Juden vorgeworfen. Der Leiter des berüchtigten "Juden-Referats", Adolf Eichmann, hatte 1942 eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zum Abtransport von 6000 Juden aus der Nähe von Paris nach Auschwitz erbeten. Weizsäcker antwortete, er erhebe "keinen Einspruch". Auch einen weiteren Erlass zur Deportation von 90.000 Juden aus Holland, Belgien und Frankreich nach Auschwitz zeichnete er ab. Später rechtfertigte sich Weizsäcker damit, er habe nicht wissen können, dass sich hinter Begriffen wie "Endlösung" und "Arbeitseinsatz im Osten" staatlicher Massenmord verbarg.
Aber es gibt Indizien, die das Gegenteil nahelegen. Ein Bericht über Hinrichtungen von Tausenden Juden durch SS-Einsatzgruppen hinter der Front im Osten lag Weizsäcker nachweislich schon im Dezember 1941 vor - seine Kenntnisnahme protokollierte er mit seinem Kürzel. Nach dem Krieg behauptete er dagegen, im Herbst 1941 gegen die Hinrichtung von Juden interveniert zu haben. Auch über die Beschlüsse der berüchtigten Wannsee-Konferenz, bei der die Ermordung der europäischen Juden organisiert und koordiniert wurde, dürfte Weizsäcker im Bild gewesen sein - einer seiner Unterstaatssekretär, ein überzeugter Nationalsozialist, nahm daran persönlich teil.
Ein spektakulärer Prozess
An anderer Stelle setzte sich Weizsäcker aber durchaus mutig für Menschen ein, die in die Mühle der NS-Mordmaschine zu geraten drohten. Für die Behandlung der sogenannten jüdischen Mischlinge schlug er vor, "die jeweils mildere der zur Diskussion stehenden Lösung" zu bevorzugen. Und in Rom, wo er ab 1943 deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl war, ließ er Juden eine Warnung vor ihrer Deportation zukommen. War er damit ein Oppositioneller? Der Diplomat Ulrich von Hassel und Generaloberst Ludwig Beck, beide Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, äußerten sich mehrmals enttäuscht und abschätzig über Ernst von Weizsäcker. Auch sein Ex-Chef, Hitlers treuer Außenminister Ribbentrop, sprach von Opportunismus, als er nach dem Krieg vom angeblichen Widerstand seines Staatssekretärs erfuhr.
1947 wurden Ernst von Weizsäcker und andere Spitzenbeamte des Auswärtigen Amtes im vorletzten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse angeklagt. Schon damals polarisierte der redegewandte Ex-Diplomat. Mehr als 300 Zeugen wurden während des Prozesses angehört, fast 10.000 Dokumente ausgewertet. Prominente wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) sagten zugunsten Weizsäckers aus.
Auch sein Sohn Richard hielt fest zum Vater - der Filius unterbrach sein Jurastudium in Göttingen und half als Assistent bei der Verteidigung seines Vaters mit. Am Ende allerdings half es wenig: Wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verurteilten die alliierten Richter Ernst von Weizsäcker 1949 zu fünf Jahren Haft. Doch schon 1950 kam der einstige Karrierediplomat vorzeitig frei. Ein Jahr später starb Ernst von Weizsäcker an einem Schlaganfall in Lindau am Bodensee.
Sein Sohn Richard schrieb 1985 als Bundespräsident Geschichte, als er in seiner Rede zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation die Niederlage von 1945 als Befreiung deutete. Das Urteil gegen seinen Vater dagegen hat Richard von Weizsäcker immer als historisch und moralisch ungerecht bezeichnet.

Die Weizsäckers - Revolutionäre Nazis, Staatsmänner: Eine deutsche Familie
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