
Verschleppung aus der Heimat: Abschied ins Ungewisse
Nationalsozialismus in Berlin Der Tag, an dem die Deportationen begannen
In der Dämmerung des 17. Oktober 1941 hämmerten zwei Gestapo-Leute an die Wohnungstür von Walter und Else Schwerin in der Droysenstraße 18 im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Die beiden Polizisten forderten das Ehepaar auf, ein paar Sachen zusammenzupacken und ihnen zu folgen. Schon seit Tagen wussten die Schwerins, so wie zahlreiche andere jüdische Familien in Berlin, dass sie ihre Wohnungen verlassen mussten, damit verdiente Nationalsozialisten dort einziehen konnten.
Das Ehepaar Schwerin wurde zur Synagoge in der Levetzowstraße in Moabit gebracht. Dort hatte die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" auf Anweisung der deutschen Behörden ein Sammellager für mehrere hundert Menschen organisiert. In der Synagoge waren eine Küche, ein Kinderzimmer, ein Matratzenlager, sogar eine Krankenstation eingerichtet worden.
"Die Einlieferung der von den Gestapo-Beamten Abgeholten mit ihrem Gepäck begann bei strömenden Regen", erinnerte sich später Hildegard Henschel, die Ehefrau des letzten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin und Überlebende des Lagers Theresienstadt. So erreichten auch die Schwerins die überfüllte Synagoge, wo "junge und gesunde Menschen die Zeit auf der Tempelbestuhlung der Empore verbringen mussten", so Henschel. Gestapo-Leute durchsuchten am Eingang das Gepäck der Ankommenden und nahmen sich, was sie brauchen konnten.
Marsch in eine ungewisse Zukunft
Für das Ehepaar Schwerin begann eine unruhige Nacht. Durch die Synagoge waberten Gerüchte über die Pläne und Absichten der Deutschen. Viele der von den Nationalsozialisten als Jüdinnen und Juden verfolgten Menschen hatten der quälenden Ungewissheit schon zuvor durch Suizid ein Ende gemacht - allein in Berlin wird die Zahl auf 7000 geschätzt. Sie hatten den Beteuerungen keinen Glauben geschenkt, wonach jüdische Bürger in den Osten gebracht werden sollten, um dort zu arbeiten und sich ein neues Leben aufzubauen.
Schon am nächsten Vormittag begann die "Ausschleusung aus dem Sammellager", so der NS-Jargon, in der Levetzowstraße. Vor der Synagoge fuhren Stehtrucks der SS vor. Kinder und Alte wurden aufgefordert, auf die Lastwagen zu steigen, die sie an den Güterbahnhof Grunewald brachten. Alle anderen mussten den gut acht Kilometer langen Weg zu Fuß zurücklegen. Noch immer regnete es in Strömen, erinnert sich Henschel.
Der Marsch von Hunderten Juden führte am helllichten Tag durch die Stadtteile Moabit, Charlottenburg und Halensee, bis er den Bahnhof Grunewald inmitten einer malerischen Villenkolonie am grünen Rand Berlins erreichte. Die Kolonne musste dabei auch den Kurfürstendamm entlanglaufen oder den belebten Boulevard zumindest überqueren - die genaue Route ist nicht bekannt. Sicher ist: Zahlreiche Berlinerinnen und Berliner haben das Geschehen beobachtet, Reaktionen sind nicht überliefert.
Gruppenrabatt für die Deportationszüge
Für die 45-jährige Berlinerin Else Schwerin war es der letzte Gang durch ihre Heimatstadt, in der sie 1896 als Else Paradies geboren worden war. Sie hatte gemeinsam mit ihrem sechs Jahre älteren Ehemann Walter Helmut Schwerin, einem Arzt aus Gleiwitz in Oberschlesien, einst selbst in der Wissmannstraße 22 im gutbürgerlichen Grunewald gelebt. Nur wenige hundert Meter entfernt mussten die Schwerins nun am Ende des Fußmarsches am Bahnhof Grunewald einen ausgemusterten Personenwagen dritter Klasse der Deutschen Reichsbahn besteigen.

Verschleppung aus der Heimat: Abschied ins Ungewisse
Der Zug hatte zuvor von der Deutschen Reichsbahn die Kennziffer "Da 4" erhalten. Historiker deuteten "Da" später als Abkürzung für "Deutsche Auswanderer" oder "David", doch wahrscheinlich hat das Kürzel keine tiefere Bedeutung. "Für die Reichsbahn bedeutete jeder Transport einen Geschäftsvorgang", nicht mehr und nicht weniger, konstatierte der Holocaust-Forscher Raul Hilberg lakonisch.
Ab 400 Personen pro Transport erhielt die SS als Auftraggeber von der Deutschen Reichsbahn einen Gruppenrabatt von 50 Prozent. Die Reichsbahnrechnungen mussten aber letztlich die Deportierten selbst zahlen: Die deutschen Behörden bedienten sich an einem "Sonderkonto" der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland". Mit der Deportation waren die Vermögenswerte der Juden an das Deutsche Reich gefallen. Eine detaillierte Verordnung vom November 1941 legalisierte Raub und restlose Enteignung.
Das Ziel: eine "judenfreie" Hauptstadt
Zusammen mit den Schwerins wurden am 18. Oktober 1941 mehr als tausend Menschen aus Berlin verschleppt. Das ging auf den ausdrücklichen Willen Hitlers zurück. Am 24. September hatte Propagandaminister Joseph Goebbels, auch Gauleiter von Berlin, nach einer Besprechung mit Hitler in seinem Tagebuch als Ergebnis festgehalten, "daß die Juden nach und nach aus ganz Deutschland herausgebracht werden müssen. Die ersten Städte, die nun judenfrei gemacht werden sollen, sind Berlin, Wien und Prag. Berlin kommt als erste an die Reihe, und ich habe die Hoffnung, daß es uns im Laufe dieses Jahres noch gelingt, einen wesentlichen Teil der Berliner Juden nach dem Osten abzutransportieren".
Zuvor war es das Ziel des Regimes, möglichst viele Juden durch Entrechtung, soziale Isolation und den schrittweisen Entzug ihrer Existenzgrundlagen zur Flucht ins Ausland zu zwingen. Ungefähr 90.000 Berliner Juden gelang unter schwierigen Bedingungen die rechtzeitige Ausreise. Doch im Oktober 1941 wurde die Auswanderung für die Juden im Großdeutschen Reich verboten. Die Nationalsozialisten gingen, wie zuvor bei den sowjetischen Juden, zur physischen Vernichtung über.
Kurz nach der ersten Deportation im Oktober 1941 hatte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch notiert: "Hauptsache ist, daß die Reichshauptstadt judenrein gemacht wird; und ich werde nicht eher ruhen und rasten, bis dieses Ziel vollkommen erreicht ist." In den folgenden dreieinhalb Jahren wurden 50.000 Juden aus Berlin deportiert.
Als sich der Reichspropagandaminister im Mai 1945 selbst richtete, lebten von den einstmals 160.000 Juden zu Beginn der NS-Diktatur nur noch 8000 in Berlin. Der letzte Deportationszug verließ Berlin noch am 27. März 1945 in Richtung Theresienstadt - nur sechs Wochen vor dem Ende des "Dritten Reiches".
Ehepaar Schwerin: Im Juni 1944 ermordet
Anfang Oktober 1941 waren die Vertreter der Berliner Jüdischen Gemeinde von der Gestapo darüber informiert worden, dass die "Umsiedlung" der Berliner Juden bevorstehe. Die Gemeinde hatte eine Liste mit zu Deportierenden zu verfassen, aus denen die Gestapo dann eine Auswahl traf. Außerdem sei dafür zu sorgen, dass die Deportierten von der Jüdischen Gemeinde für die Reise ausgestattet und verpflegt werden sollten. Die Ziele der ersten Transporte hatte Hitler selbst festgelegt: darunter das Getto Litzmannstadt in der polnischen Stadt Lodz, die damals zum sogenannten Reichsgau Wartheland gehörte.
Das Getto Lodz war 1940 von den deutschen Behörden als "Produktionsgetto" errichtet worden. Die Bewohner hatten vor allem Textilien für die Wehrmacht zu fertigen. Als der Zug aus Berlin nach 521 Kilometern Fahrt am 19. Oktober 1941 um 14 Uhr dort eintraf, erwartete die Deportierten aus der Reichshauptstadt eine fremde Welt in einem fremden Land, dessen Sprache die meisten nicht verstanden.
Das Getto war zu dieser Zeit bereits total überfüllt. Im Oktober und November 1941 wurden in 20 Transporten mehr als 25.000 Personen aus dem Reich nach Lodz deportiert; die ohnehin katastrophalen Zustände verschlechterten sich weiter. Viele der Neuankömmlinge starben in den kommenden Monaten unter den lebensfeindlichen Bedingungen des Gettos an Hunger und Krankheit. Die nicht arbeitsfähigen reichsdeutschen Juden wurden ab Dezember 1941 in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort in Gaswagen erstickt.
Das Ehepaar Schwerin überlebte zweieinhalb Jahre in Lodz, wahrscheinlich dank der Profession von Walter Schwerin, denn Ärzte wurden im Getto dringend gebraucht. Doch wenige Monate vor der Auflösung des Gettos wurden die beiden im Juni 1944 in Kulmhof ermordet. Ihre Asche wurde in einem nahegelegenen Wald verstreut.
Heute erinnert in Berlin ein Stolperstein an das Schicksal der Berlinerin Else Schwerin. Das letzte Lebenszeichen ihres Mannes ist in der Chronik des Gettos überliefert. Im Eintrag vom 28. Juni 1944 heißt es: "Heute frühmorgens ging der III. Transport mit 803 Personen ab. Der mitfahrende Arzt ist Dr. Walter Schwerin, Berlin."