Segler »Grönland«: Eine Legende der Polarforschung

Segler »Grönland«: Eine Legende der Polarforschung

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Bildarchiv DSM

Erste deutsche Polarexpedition Hoch hinauf, durch das Eis immer weiter Richtung Nordpol

Im Mai 1868 segelten Kapitän Carl Koldewey und seine Crew los, um einen direkten Seeweg zum Nordpol zu entdecken. Eine unmögliche Mission – aber so weit wie die »Grönland« kam bis heute kein anderes Schiff ohne Motor.

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch »Helden: Die mutigsten Geschichten von See«, kürzlich erschienen im Ankerherz Verlag .

Da ist sofort dieser intensive Geruch, wenn man die Stufen hinab in die Crewmesse nimmt: nach braunem Teer, qualmender Kohle in einem Ofen, dem Öl der Lampen. Gemütlich ist es unter Deck, und das durchdringende Aroma regt das Kopfkino an: Was haben die Seeleute an Bord dieses alten Segelschiffs erlebt? Wie war es in den Stürmen, als es immer weiter gen Norden segelte?

Äußerlich ist die »Grönland«, die heute in Bremerhaven liegt, eher unscheinbar, keine 30 Meter lang, schwarz gestrichener Rumpf. Sie wurde 1867 in Skånevik gebaut und war gedacht für die Jagd auf Robben. Nordische Jagt nannte man diese robusten Arbeitsschiffe, bis ins 20. Jahrhundert typisch für die rauen Küsten Norwegens.

Die »Grönland« ist eine Legende – sie hat die deutsche Polarforschung begründet. Bis heute ist kein Schiff ohne Motor so weit nördlich aufgekreuzt, bis 81°4,5'N. Es wird wohl eine ewige Bestmarke bleiben, weil man längst in jedes Schiff mindestens einen kleinen Hilfsmotor einbaut. Soll man die Männer, die im Mai 1868 in die Polarregion vorstießen, Helden nennen? Auf jeden Fall waren es mutige Seeleute, die unter dem Kommando von Carl Koldewey vom norwegischen Bergen aus in See stachen.

Damals konnten sie nicht unbedingt davon ausgehen, wieder heimzukehren. Stürme und Wellen, Eisberge und Eisbären waren gefährliche Gegner, die Seegebiete in keiner Karte verzeichnet. Hilfe im Notfall? Wer lossegelte an den Rand der Welt, der war auf sich gestellt. Die Männer vertrauten ihr Leben Carl Koldewey an.

Die letzten buchstäblich weißen Kartenflecken

Im Hafen von Bergen bereitete der Kapitän mit dem dichten Bart im Jahre 1868 die erste deutsche Polarexpedition vor. Die Gründe lagen auch in der neu erwachten Begeisterung für das Nationale: Expeditionen, möglichst abenteuerlich, versprachen internationales Renommee. Die Bürger engagierten sich, darunter August Petermann (1822 bis 1878). Der Kartograf, Geograf und Publizist aus Gotha liebte es, neue Entdeckungen in Atlanten einzutragen.

Seine Karten gehörten zu den feinsten ihrer Zeit, die monatliche Schrift »Petermanns Geographische Mitteilungen« genoss einen exzellenten Ruf in ganz Europa. Nachdem er sich in der Afrikaforschung einen Namen gemacht hatte, wandte er sich den Polargebieten zu: vom Schreibtisch aus – persönlich brach er nie zu einer Fernreise auf.

Die Polarregion gehörte zu den letzten buchstäblich weißen Flecken auf den Landkarten. Sie zu erforschen, betrachtete Petermann als »nationale Aufgabe« und stellte eine kühne These auf: Hinter einem Gürtel aus Treibeis und Packeis gebe es vor Grönland offenes Meer, über das man den Nordpol erreichen könne. Wer also einen Weg durch diese Barriere fände, der könnte mühelos bis zum Pol durchsegeln. Gegenrede fand Petermann kaum. Er galt eben als Experte, und die Öffentlichkeit sehnte sich nach Abenteuergeschichten.

Zunächst jedoch scheiterten mehrere Finanzierungsversuche. Bei einer Anhörung vor hochrangigen Vertretern der preußischen Marine gab Petermann laut Sitzungsprotokoll ein »klägliches Bild« ab; die Experten wiesen seine Pläne rundweg ab. Das hielt König Wilhelm I. nicht davon ab, eine Polarexpedition anzuordnen – was sich erledigte, als Preußen und Österreich wenig später in den Krieg zogen .

Petermann gab nicht auf. Als im November 1866 eine Spende von beachtlichen 500 Thalern einging, entschied er, die Expedition selbst zu finanzieren und darauf zu vertrauen, von der Öffentlichkeit getragen zu werden. Vermutlich plante er auch, die Investition durch den Verkauf des Expeditionsberichts in seiner Monatsschrift zu refinanzieren. Als Leiter engagierte er den Nautiker Carl Koldewey.

Im Sturm mit einem »lustigen Feuer«

Das Abenteuer konnte beginnen.

Koldewey suchte eine Crew erfahrener Seeleute zusammen, »durchwettert und geschult«. Zwölf Männer waren an Bord der »Grönland«, die am 24. Mai 1868 den Hafen von Bergen verließ: der erste Steuermann Richard Hildebrand aus Magdeburg, der zweite Steuermann Georg Heinrich Sengstacke aus Altona, Zimmermann Johann Wendelmann aus Föhr. Dazu kamen Matrosen aus Worden, Bremen, Minden, den Niederlanden und zwei Norweger. Einen ausgewiesenen Wissenschaftler hatte die wissenschaftliche Expedition nicht an Bord.

Der Expeditionsbericht liest sich teils wie ein Abenteuerroman. Erstaunt und etwas spöttisch vermerkte Koldewey, dass einige beim ersten Wellengang seekrank wurden und Zeit brauchten, um mit den Bewegungen des kleinen Schiffes zurechtzukommen: »Es war äußerst komisch, diese breiten, kräftigen Gestalten und seegewohnten Leute zu sehen, mit welchen unglücklichen Mienen sie jede starke Bewegung des Schiffes begleiteten.«

Mit seinem Schiff indes, das »wie eine Möwe über die See hinwegflog, ohne einen Tropfen Wasser an Deck zu haben«, war Koldewey zufrieden. Zuvor hatte er den Bug verstärken und einen neuen Mast einsetzen lassen. So segelte die »Grönland« immer weiter auf einem nördlichen Kurs über den Nordatlantik und bald in den ersten Sturm. Wie groß das Vertrauen der Crew in ihr Schiff war, beweist ein Eintrag Koldeweys:

»Ein Sturm auf offenem Meer hat überhaupt, wenn man sich auf einem guten, seetüchtigen Schiffe befindet, durchaus nichts Gefährliches irgendwelcher Art; man refft eben die Segel dicht, dreht bei, und macht es sich behaglich und bequem, wie es die Umstände nur irgend gestatten wollen. Wir hatten in unserer Kajüte ein lustiges Feuer im Ofen brennen, rauchten unsere Pfeife, lasen oder unterhielten uns, draußen mochte es toben und wettern, soviel es wollte. Der Wachthabende Offizier mit der Wachtmannschaft war natürlich auf dem Deck, doch auch diese waren durch das sogenannte Schauerkleid, welches wir an der Luv-Seite hingebunden hatten, einigermaßen geschützt, und konnten ungestört ihre Pfeife rauchen.«

An Bord kehrte Routine ein. Morgens um sechs weckte der wachhabende Offizier die Leute: Schiff reinigen! Deck klar! Nach einer Stunde sah er bei einer Kontrollrunde nach, ob die Segel kantig standen und die Taue aufgerollt waren. Danach wurde gefrühstückt – und Kapitän Koldewey erschien an Deck, zu einem »Spaziergang mit Morgencigarre«, nachdem er Wind, Wetter und Kurs geprüft hatte.

Bordleben wie eine harmonische Männer-WG

Die Matrosen erhielten vom Steuermann oder Bootsmann ihre Aufgaben für den Tag: Taue spleißen, Blöcke schmieren, Segel ausbessern. Im Wachdienst: steuern, ausgucken, bergen und setzen der Segel, loggen und loten. »An Müßiggang, wie man wohl oft im Binnenlande meint, ist nicht zu denken«, schrieb Koldewey.

Mittags bestimmte er die Position und setzte den Kurs ab. Nachmittags wiederholten sich die Arbeiten des Morgens; eine Wache ruhte, um halb sieben nahm man das Abendbrot ein. Danach lenzte man Wasser, sofern welches eingedrungen war, ab acht Uhr übernahm die Nachtwache.

Alle zwei Stunden ließ Koldewey den Stand des Barometers ablesen. Die Matrosen trugen die Temperatur von Wasser und Luft ins Journal ein, ebenso Beobachtungen zu Wind, Wetter, Seetiefe oder astronomischen Ortsbestimmungen. »Kurzum, es wurde alles beobachtet und notiert, was nur irgend beobachtungswert war«, so Koldewey, sogar Farbe und Aussehen des Meeres.

So verging Tag um Tag. An Sonntagen konnte »jeder, der nicht gerade Dienst hat, sich seinem religiösen Bedürfnis gemäß beschäftigen. Der eine liest, der andere flickt sein Zeug, ein Dritter sitzt auf dem Spillkopf und summt sein Liedchen.« Es entsteht der Eindruck einer harmonischen Männer-WG.

Je weiter das Segelschiff nach Norden vordrang, desto abenteuerlicher liest sich Koldeweys Bericht. Die Männer der »Grönland« kämpften mit Stürmen, Nebel und Eisgang. Es wurde Sommer, war aber kalt. Sehr kalt. Am 8. Juni hielt Koldewey fest:

»Stürmisches Wetter mit heftigen Schneeschauern. Das Eis setzte sich im Westen mehr und mehr an, und wir waren genötigt, von einem Wasserbecken in das andere zu flüchten und zwischen den Eisschollen so gut nach Osten zu arbeiten, wie es angehen konnte. Die Schifffahrt im Eise bei solchem Sturm und Schneewetter ist von der allerschwierigsten Art, und die Lenkung des Schiffes erfordert ... vor allen Dingen Ruhe und Geistesgegenwart des Commandierenden. Alles Eis ist in heftiger Bewegung.«

Kein Durchkommen an der weißen Wand

Bald war die »Grönland« tatsächlich an der Eisgrenze eingeschlossen. Eisbären näherten sich. »Die ganze Mannschaft hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als tumultarisch hinter dem Bären herzustürzen«, schreibt Koldewey. »Triumphierend wurde der Körper von den Leuten über die Eisschollen zum Schiff geschleppt und das Fell abgezogen.«

Die »Grönland« (Juni 1868): Im Eis gefangen, Eisbär erlegt

Die »Grönland« (Juni 1868): Im Eis gefangen, Eisbär erlegt

Foto: Bildarchiv DSM

Dem Kapitän gelang es, die »Grönland« aus dem Eis herauszumanövrieren und mit anderen Schiffen Kontakt aufzunehmen. Was Koldewey erfuhr, änderte seine Pläne: Eisbarrieren, überall. Einige Tage lang beseitigte die Crew Schäden am Schiffsrumpf. Dann gab Koldewey den Befehl, Richtung Spitzbergen zu segeln, um in einem neuen Anlauf den Gürtel aus Eis zu durchbrechen. Doch auch dort war nur eine weiße Wand – kein Durchkommen, erst recht für ein Segelschiff.

»Nach den Aussagen der Walfischfahrer war dieses Jahr in jeder Beziehung ein ganz abnormales, ein Eisjahr wie seit langer Zeit nicht«, notierte Koldewey frustriert. Zumindest konnte die Crew Bellsund auf Spitzbergen anlaufen, Wasser bunkern und jagen. Wenig später traf die »Grönland« auf den schottischen Walfänger »Jan Mayen«. Koldewey setzte per Beiboot über, um sich mit dem Kapitän auszutauschen und Post zu übergeben. Neue Informationen von günstigen Eisverhältnissen machten ihm Mut.

Die Expedition: Mühsam durch die Eisschollen, auf der Suche nach Lücken

Die Expedition: Mühsam durch die Eisschollen, auf der Suche nach Lücken

Foto: Bildarchiv DSM

Doch im Zielgebiet verflog die Euphorie rasch: Tagelang kreuzte Koldewey, um doch eine Möglichkeit zu finden, die Küste zu erreichen – vergebens. »Unsere Hoffnung war jetzt vollständig zerstört«, schrieb er resigniert im Expeditionsbericht. »Ich musste mich, wenngleich mit dem größten Widerstreben, entschließen, der Küste den Rücken zu kehren.«

Die »Grönland« wetterte einen weiteren schweren Sturm ab und umrundete am 18. August 1868 das Nordkap Spitzbergens. Koldewey ließ Kurs südliche Hinlopenstraße setzen und entdeckte einige Inseln, die noch in keiner Karte eingezeichnet waren. Am 15. September kreuzte die »Grönland« bis zu einer Breite von 81°4,30" auf.

Dies ist bis heute der nördlichste Punkt, den je ein Segelschiff ohne Maschine nachweislich erreicht hat.

Die Stadt empfing ihre Helden

Nun war es spät im Jahr, es wurde immer kälter, und an eine Überwinterung im Eis war nicht zu denken. Koldewey ging auf Heimatkurs. Nach kurzem Aufenthalt in Bergen erreichte das Schiff die Wesermündung. Zur Freude der Besatzung lief der Schleppdampfer »Diana« dem Schiff entgegen und zog es nach Bremerhaven. Am 10. Oktober 1868 empfing die Stadt ihre Helden. »Wir wurden auf eine so großartige Weise empfangen, wie wir es uns wahrlich niemals hätten träumen lassen«, notierte Koldewey in einem der letzten Vermerke seines Berichts.

Der Kapitän und seine Crew hatten 3000 Seemeilen im Nordatlantik zurückgelegt. Ohne einen tödlichen Unfall, ohne einen Mann zu verlieren. Viele Beobachtungen, etwa zur Beschaffenheit des Eises, gaben wichtige Hinweise für spätere Expeditionen. Aus den Aufzeichnungen fertigte man Karten über Strömungsverhältnisse vor der Küste Grönlands. Wissenschaftler freuten sich über Daten aus einem bis dahin unbekannten Meer.

Das Denkmal: Angeregt vom Ankerherz-Verlag malten die Street-Art-Künstler Jakob Tory Bardou und Holger Weißflog im Mai 2021 dieses Wandbild von Kapitän Coldewey und der »Grönland« in Bremerhaven

Das Denkmal: Angeregt vom Ankerherz-Verlag malten die Street-Art-Künstler Jakob Tory Bardou und Holger Weißflog im Mai 2021 dieses Wandbild von Kapitän Coldewey und der »Grönland« in Bremerhaven

Foto: Stefan Krücken / ANKERRHERZ

Koldewey hatte das östliche Spitzbergen vermessen und die Westküste von Nord-Ost-Land; noch heute erinnern einige geografische Namen an die erste deutsche Polarexpedition. Die gesammelten Erfahrungswerte zeigten: Für künftige Reisen brauchte es, wenn sie wissenschaftliche Erkenntnisse liefern sollten, ein größeres Schiff, eine größere Besatzung und bessere Ausrüstung.

Heute gilt als unstrittig, dass der Mut der »Grönland«-Crew den Grundstein für die deutsche Forschungsschifffahrt legte. Noch bei den Feierlichkeiten, die der Bremer Senat zur glücklichen Heimkehr ausgerichtet hatte, wurden Pläne für die zweite Expedition besprochen.

Auf zur nächsten Polarexpedition

Doch Petermann als treibende Kraft verhielt sich merkwürdig still. Der Organisator und Finanzier verzögerte die Veröffentlichung des Expeditionsberichts. Obwohl die Öffentlichkeit darauf wartete, erschien die Publikation erst nach drei Jahren. Petermann soll auch abwertende Urteile über die Expedition verbreitet haben, die doch allgemein als große seemännische Leistung gelobt wurde.

Warum nur? War es verletzte Eitelkeit, Neid auf den Kapitän? Mochte sich Petermann nicht damit abfinden, dass die Wirklichkeit seine Hypothesen von einem offenen Seeweg an den Pol widerlegte?

Kapitän Koldewey leitete auch die zweite Polarexpedition, die am 15. Juni 1869 mit zwei Schiffen in See ging. Im Nebel verloren sich die »Germania« und die »Hansa« am Rande des Packeises auf Position 74°4' nördlicher Breite aus den Augen. Die »Hansa« wurde Ende Oktober vom Eis eingeschlossen und zermalmt; die Besatzung rettete sich.

Die Männer überlebten 200 Tage auf dem Eis und legten auf der driftenden Scholle knapp 2000 Kilometer zurück, bis sie im Mai 1870 endlich offenes Wasser erreichten. Mit drei intakten Beibooten, die sie mitzogen, steuerten sie eine Missionsstation an Grönlands Südspitze an. Sie erreichten das Dorf am 13. Juli 1870 und kehrten wenig später über Kopenhagen nach Deutschland zurück.

Kein einziger Mann ging verloren.

Das Museumsschiff: Die »Grönland« ist heute Botschafter Bremerhavens

Das Museumsschiff: Die »Grönland« ist heute Botschafter Bremerhavens

Foto: Ingo Wagner / dpa

Die »Grönland« liegt heute in Bremerhaven. Für eine zweite Arktisexpedition hatte man sie damals als zu klein erachtet und schon 1871 zurück nach Norwegen verkauft. Sie wechselte mehrfach den Besitzer, kam schließlich nach Trondheim, wurde zum Fischfang und zur Jagd auf Robben eingesetzt, dann als Frachtsegler, bevor ein Schiffsmakler sie als Sportboot kaufte.

1973 kaufte das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven die »Grönland« für 120.000 D-Mark. Sie wurde restauriert. Heute kümmert sich eine Crew von Ehrenamtlern rührend um das historische Schiff. Es ist als »schwimmender Botschafter« Bremerhavens immer wieder im Einsatz, segelt zu Hafengeburtstagen oder zur Insel Helgoland.

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