Fotostrecke

Der Frankfurter Häuserkampf - wie alles begann

Foto: AP / ullstein bild

Erste westdeutsche Hausbesetzung "Das ist unser Haus"

Seit 50 Jahren besetzen Linke in der Bundesrepublik Häuser. Begonnen hat es im September 1970 in Frankfurt am Main, wo Studierende und Migranten eine Stadtvilla vor dem Abriss retteten.

Das Gebäude in der Eppsteiner Straße 47 im Frankfurter Westend ist ein imposantes Eckhaus mit Jugendstilfassade, gediegen. Dass die Bewohner dieses 1904 erbauten Bürgerhauses vorsätzlich Hausfriedensbruch begehen und sich gegen die Polizei verbarrikadieren würden, lässt sich schwer vorstellen. Doch genau dies ist geschehen, vor 50 Jahren erlebte eine linksradikale Aktionsform hier ihre Premiere in der Bundesrepublik: die Hausbesetzung.

Es war der 19. September 1970, als Studierende und Migranten hier Geschichte schrieben. Sie kämpften gegen den Spekulanten Simon Preisler, der die Stadtvilla abreißen und ein Hochhaus bauen lassen wollte. Er hatte den Segen der SPD-Stadtverwaltung, die Frankfurt in eine "autogerechte Stadt" mit vielen Büros für Banken verwandeln wollte. Mainhattan.

Malte Rauch, 83, Dokumentarfilmer, besuchte an diesem Abend den "Arbeitskreis Wohnen und Mieten", eine linke Frankfurter Gruppe, die unter anderem forderte, dass niemand mehr als ein Fünftel seines Einkommens für Miete ausgeben dürfe und dass Grund und Boden vergesellschaftet gehörten.

Bei dem Treffen stürmte ein Student namens Til Schulz herein, Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bis zu dessen Auflösung ein paar Monate zuvor. Er wohnte in einer vierköpfigen Wohngemeinschaft in der Eppsteiner Straße 47 und hatte miterlebt, wie der Eigentümer eine Wohnung nach der anderen entmieten ließ. Jetzt standen fünf der zehn Wohnungen leer, und die Wohngemeinschaft fürchtete den baldigen Abriss. Unbekannte hatten nachts die Toiletten und Waschbecken in den leeren Wohnungen zerschlagen. Die Heizung war kaputt.

"Wir müssen die leeren Wohnungen besetzen", rief Schulz, "Sofort. Heute Nacht!" Gesagt, getan. Schulz, Rauch und andere brachen auf, und kurz darauf brachen sie den Hausfrieden. Als der Morgen graute, war die letzte leer stehende Wohnung geöffnet.

Vorbild Italien

Am nächsten Morgen konnten das Haus nur jene betreten, die mithilfe einer Leiter den schmiedeeisernen Zaun überwunden hatten und über einen Balkon ins Haus geklettert waren. Die Haustür war mit einer Barrikade verrammelt. Auf Bettlaken hatten die Besetzer gepinselt: "Gegen die Zerstörung von Wohnungen" und "Wir werden dieses Haus selbst verwalten". Hauseigentümer Preisler sagte: "Das ist der Anfang vom Ende."

Vor die Fenster im Erdgeschoss hängten die Besetzer ein Transparent: "Es besteht die Gefahr, dass die Polizei noch heute das Haus mit Gewalt räumen wird. Helft uns, das Haus zu verteidigen." Doch diese Gefahr bestand nicht wirklich, denn die Besetzung wurde von einer Welle der Sympathie getragen. Nachbarn, die ohnmächtig unter der Zerstörung des Westends gelitten hatten, applaudierten den Besetzern. Geld und Möbel wurden gespendet. "Nach der Gründung eines Besetzungskomitees", erinnert sich die Ex-Besetzerin und Medizinerin Lelle Franz, die heute noch in dem Haus wohnt, "gaben wir eine Pressekonferenz. Die Berichte in den Medien waren sehr positiv."

Die Besetzer erklärten: "Wir haben dieses Haus besetzt. Weil es vom Eigentümer in verantwortungsloser Überschätzung seiner Rechte systematisch dem Verfall anheimgegeben worden war." Ziel der Besetzung war laut Franz: "Wir müssen die Zerstörung des Westends stoppen."

Fotostrecke

Der Frankfurter Häuserkampf - wie alles begann

Foto: AP / ullstein bild

Die Besetzer hatten ein Vorbild. In Norditalien war es 1969 zu Tausenden von Haus- und Wohnungsbesetzungen gekommen. Arbeitsmigranten aus dem Süden des Landes nahmen sich in Turin, Mailand und anderswo Wohnraum. Ihre Parole "La casa si prende, l'afitto non si paga!" - Das Haus nimmt man sich, die Miete bezahlt man nicht.

Frankfurt war die multikulturellste Stadt Deutschlands, in der Mainmetropole lebten die meisten "Gastarbeiter", wie auch Linke die Migranten nannten. "Wir waren von den italienischen Genossen inspiriert, von ihren Hausbesetzungen und Mietstreiks", erinnert sich der spätere Grünenpolitiker Dany Cohn-Bendit. "Nach Frankfurt kamen Aktivisten von Lotta Contiuna, die uns von diesen Kampfformen berichteten." 

Straßenschlacht mit Joschka Fischer 

"Wir hatten alle schon Wohnungen", erinnert sich Malte Rauch, "die Aktion war deshalb etwas unglaubwürdig." Doch einer der Besetzer hatte Kontakt zu kinderreichen Familien, die in überfüllten Notunterkünften hausten. Es bedurfte einiger Überredungskünste, bevor sich eine deutsche, eine italienische und eine türkische Familie zum Umzug in die besetzten Bürgerwohnungen bereit erklärten. 

Schon vor der spektakulären Aktion hatten mehrere Hundert Bewohner des Westends brav für den Erhalt des Viertels demonstriert, doch die SPD-Stadtverwaltung blieb bei ihren Plänen für eine "City-Erweiterung", mit der noch mehr Banken in die Stadt gelockt werden sollten. Der friedliche Protest hatte nichts gebracht. 

Ignatz Bubis, Immobilienhändler und späterer Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, berichtete 1985: "Dann kam das Stadtplanungsamt und sagte: Wissen Sie, paar Geschosse mehr, darauf kommt's nicht an, wenn wir einmal bei 16 sind. Seien Sie so nett. Kaufen Sie doch dazu die Schumannstraße 61, 63, 65, 67 und reißen Sie die ab." 

Die Besetzung in der Eppsteiner Straße 47 wurde zum Fanal. Kurz besetzen junge Leute zwei weitere Häuser im Westend. Sie waren auf der Suche nach großen Wohnungen, um darin in Wohngemeinschaften zu leben. Ihnen ging es um Freiräume. In den nächsten drei Jahren waren in Frankfurt jeweils bis zu 20 Häuser besetzt, es kam zu Straßenschlachten und Räumungen. Mittendrin der spätere grüne Außenminister Joschka Fischer. Erst nach einer martialischen Räumung von vier Häusern, die Ignatz Bubis gehörten, im Februar 1974 war der Elan der Hausbesetzerbewegung gebrochen. 

Soundtrack zum Hausfriedensbruch 

Joschka Fischers Freund Daniel Cohn-Bendit hat den theoretischen Überbau des "Frankfurter Häuserkampfs" später so zusammengefasst: "Wir haben versucht, den Sozialismus nicht auf eine unerreichbare Zukunft zu verschieben, sondern im Hier und Jetzt Lebensformen zu entwickeln, die den Herrschenden nicht unterworfen sind." 

Urbesetzer Til Schulz hatte schon erkannt, warum die Brisanz und politische Bedeutung der Hausbesetzungen darin lag, "dass diese den herkömmlichen Eigentumsbegriff radikal infrage stellen." Gleichzeitig waren die Besetzungen meist getragen von einer Utopie der humanen, ökologischen Stadt und erzwangen die Wende zu behutsamen und nachhaltigen Stadterneuerung.

Während in Frankfurt der Häuserkampf tobte, besetzen Jugendliche in West-Berlin im Dezember 1971 ein ehemaliges Schwesternheim in Kreuzberg und nannten es nach einem von der Polizei erschossenen jungen Anarchisten Georg-von-Rauch-Haus. Ein zweites Haus, das nach einem erschossenen RAF-Mitglied benannte Tommy-Weißbecker-Haus, wurde ein gutes Jahr später besetzt. Beide existieren noch heute. 

Nur wenige Stunden hatten sich hingegen die Besetzer gehalten, die schon ein paar Monate vor denen in der Eppsteiner Straße ein Jugendzentrum in West-Berlin erkämpfen wollten. Am 1. Mai 1970 waren mehrere Hundert Linke in die Trabantenstadt Märkisches Viertel gezogen und hatten versucht, sich eine leer stehende Fabriketage anzueignen. Mit dabei war die Journalistin Ulrike Meinhof, die wegen schweren Hausfriedensbruchs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte festgenommen wurde - und zwei Wochen später in den Untergrund ging und die "Rote Armee Fraktion" (RAF) mitbegründete.  

Doch ab 1971 besetzten in immer mehr westdeutschen Städten junge Leute leere Häuser und richteten darin selbstverwaltete Jugendzentren ein. Gern wurde dafür die West-Berliner Anarcho-Rockgruppe Ton Steine Scherben für ein Konzert engagiert, die mit dem "Rauchhaus-Song" und dessen Refrain "Das ist unser Haus" so etwas wie eine Hausbesetzer-Hymne geschaffen hatte. Nach ihren Konzerten kam es dann zum kollektiven Rechtsbruch. 

Ringen mit dem Baulöwen 

Für eine große Hausbesetzerbewegung bedarf es leerer Häuser, rebellischer Jugendlicher, eines politischen Machtvakuums und einer Delegitimierung der bisherigen Stadtentwicklung. All das kam Ende 1980 in West-Berlin zusammen, als der SPD-Senat über einen der notorischen Bauskandale stürzte und gleichzeitig eine verfehlte Kahlschlagsanierungspolitik in der Innenstadt Unmut erregte. Bis zu 165 Häuser besetzten junge Punks, Hippies und Autonome binnen wenigen Monaten. Sie machten die Erfahrung, dass sie erst dann politische Aufmerksamkeit erregten, als sie sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. 

Schließlich kam die CDU in Berlin an die Regierung und ließ viele besetzte Häuser räumen. Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay kam am 22. September 1981 während der ersten großen Räumungsaktion zu Tode. Doch mehr als die Hälfte der Häuser wurde nicht geräumt und in Genossenschaften überführt. 

In Hamburg waren einen großen Teil der Achtzigerjahre die besetzen Häuser in der Hafenstraße in St. Pauli ein zentrales Thema der Stadtpolitik. Nach langen Verhandlungen und harten Konfrontationen wurden elf der bunten Altbauten an der Elbe in eine Genossenschaft überführt. 

Nach dem Mauerfall tat sich in Ost-Berlin ein Machtvakuum auf. Gleichzeitig standen im Prenzlauer Berg und in Friedrichshain Altbauten leer. Erst schlugen Ost-Berliner Oppositionelle, dann West-Berliner Linksradikale zu. Doch wie schon 1981 im Westteil der Stadt war es nur ein kurzer Sommer der Anarchie: Im November 1990 ließ der SPD-Innensenator die Polizei 13 besetzte Häuser in der Mainzer Straße räumen. 

Die Besetzer in der Eppsteiner Straße 47 in Frankfurt waren im Vergleich dazu erfolgreicher, doch es wurde ein langer Kampf, bis sie endgültig bleiben konnten. Zunächst baute Eigentümer Simon Preisler auf einem anderen Grundstück höher als erlaubt und musste dafür das teilbesetzte Haus an die Stadt verkaufen. Doch eine städtische Wohnungsbaugesellschaft gab den Besetzern nur einen "Überlassungsvertrag" für die Wohnungen, und strengte im Jahr 1981 Räumungsklagen an. "Ich bleibe hier", sagte Lelle Franz, und bekam schließlich nach der Sanierung des Hauses 1982 einen ordentlichen Mietvertrag.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren