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Private Bilder aus dem Ersten Weltkrieg: "Oh, welche Luhust, Soldat zu sein"

Foto: Andreas Meyer

Private Bilder aus dem Ersten Weltkrieg "Oh, welche Luhust, Soldat zu sein"

Lebenszeichen von der Westfront: Während des Ersten Weltkriegs schickte Otto Meyer seiner Familie regelmäßig Briefe, bunte Zeichnungen und private Fotos. Die Dokumente gerieten in Vergessenheit. Dann hob sein Sohn den einzigartigen Schatz und erzählt nun die Geschichte seines Vaters.
Von Andreas Meyer

Von der Kriegszeit meines Vaters weiß ich vor allem aus einer großen Holzkiste. In sie packte mein Vater, Otto Meyer, 1937 unter anderem Zeichnungen, Fotos, handgeschriebene Briefe - und ein Eisernes Kreuz. Es waren die persönlichen Sachen meines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg. Er machte sie und unseren gesamten Hausrat transportfertig, um mit meinen Geschwistern, meiner Mutter und mir auszuwandern - von Rheda in Westfalen nach Nahariya im heutigen Staat Israel.

Drei Jahre nachdem mein Vater von der Front heimkehrte, kam ich auf die Welt. Ich habe nie erlebt, wie es war, als er dem Kaiserreich im Weltkrieg diente, wie meine Mutter zu Hause Tag für Tag auf neue Lebenszeichen wartete und wie meine zwei älteren Brüder und meine im Krieg geborene Schwester damals eigentlich mit der Situation umgingen, ihren Vater möglicherweise nie wieder zu sehen.

Aber: Ich habe die Kiste.

Zwei Dinge machen den Fund nicht nur für mich besonders. Zum einen fotografierte mein Vater an der Front. Auch wenn es - anders als im Zweiten Weltkrieg - in den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs kein offizielles Fotografier-Verbot gab, waren private Schnappschüsse eher eine Rarität. Apparate und Filme kosteten damals ein kleines Vermögen. Mein Vater hatte sich allerdings vor Kriegsbeginn eine Kamera, Fotoformat sechs mal neun Zentimeter, gekauft, die er sich von meiner Mutter per Post aus Rheda zuschicken ließ, nachdem er 1915 an die Front geschickt wurde.

Den Eindruck, dass Papa nur auf einem Ausflug war

Die zweite Besonderheit war die Feldpost, die mein Vater regelmäßig nach Hause schrieb. Um vor allem meinen Geschwistern klarzumachen, wohin es den Vater plötzlich verschlagen hatte, legte er den Briefen nicht nur Fotos bei, sondern illustrierte seine Erlebnisse mit Zeichnungen in Farbe. So bekamen sie fast den Eindruck, dass Papa eigentlich nur auf einem längeren Ausflug war. Er skizzierte sich und seine Kameraden: wie sie sich im Unterstand versteckten, wie sie dort Karten spielten oder wie sie an der Westfront kämpften. Sein Zeichentalent pflegte mein Vater von Kindesbeinen an, es war allerdings nie mehr als ein Hobby.

Nach dem Tod meines Vaters 1954 fing ich an, mich näher mit dem Inhalt der Kiste zu beschäftigen. Einen Teil der Dokumente übernahm mein älterer Bruder Justus, das meiste blieb jedoch bei mir. Sorgsam prüfte ich Bild für Bild, mit meinem ersten Computer digitalisierte ich die alten Fotos und Dokumente, die ich seitdem wie einen Schatz hüte.

Doch noch etwas unterschied meinen Vater von einem Großteil seiner Kameraden: Er war Jude. Von Martin Albrecht, einem Historiker in Berlin, dem ich das Zeitzeugenmaterial gezeigt habe und der sich intensiv mit der Geschichte meines Vaters beschäftigt hat, weiß ich: Mein Vater gehörte damit zu einer kleinen Gruppe im kaiserlichen Militär.

Noch 1907 rangierten unter den 33.607 Offizieren und Beamten mit Offiziersrang gerade einmal 16 Juden, recherchierte Albrecht. Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus hatte ein paar Jahre vorher festgehalten: "Die Stellung der Juden im deutschen Heere entspricht in keiner Weise dem verfassungsmäßigen Grundsatz konfessioneller Gleichberechtigung."

33.000 Offiziere - 16 Juden

Während des Weltkriegs verbesserte sich die Situation leicht: Nun durften auch gläubige Juden wieder Offizier werden. Von den 90.000 Juden, die auf Seiten des Kaiserreichs kämpften, erreichten immerhin etwas mehr als 3000 diesen Rang. Auch mein Vater sollte einer von ihnen werden.

Seinen Kriegsdienst begann er als Rekrut der preußischen Armee in Metz. Auch wenn mein Vater seine Aufgabe anfangs sicher nicht von ganzem Herzen freiwillig antrat, so war er doch ein Bürger der wilhelminischen Ära: wissbegierig, interessiert an allem Schönen, künstlerisch begabt - und kaisertreu.

Am 11. April 1915, als er mit dem "Rheinischen Fußartillerie-Regiment Nr. 8" an die Westfront zog, schrieb mein Vater voller Tatendrang an meine Mutter: "Ich bin funkelnagelneu feldgrau eingekleidet, habe einen Segeltuchtornister, der mit meiner gesamten Ausrüstung sicher 50 Pfund wiegen dürfte, und freue mich auf die Aussicht, dieses Gewicht dauernd mit mir herumzutragen. Liebchen, nun ist es doch noch schneller gekommen als ich dachte." Mehr als drei Jahre sollte es nach diesem Brief dauern, bis er endgültig zurück zu seiner Frau und seinen Kindern konnte.

Museumsstück als Waffe

Für die Ausrüstung der zahlreichen Reserve- und Landsturmtruppen standen lange keine modernen Waffen zur Verfügung. Die Landsturmbatterie meines Vaters benutzte antiquierte Kanonen der Marke Krupp, Kaliber neun Zentimeter, deren Ursprungsmodelle noch auf eine Konstruktion von 1873 zurückgingen. Im Kampf war der entscheidende Nachteil dieser Museumsstücke, dass sie nach jedem Schuss durch die Wucht des Rückstoßes zurückrollten. Mein Vater und seine Kameraden waren daher froh, wenn sie nicht mit ihren Kanonen schießen mussten.

Doch an der Westfront tobte ein verlustreicher Stellungskrieg. Verdun, die Argonnen, Aisne, Marne und Maas - das sind Namen, die für Zehntausende Gefallene auf beiden Seiten stehen. Mein Vater hat diese verheerenden Schlachten miterlebt. Seine Einheit stand aber unter einem guten Stern: Die Truppe meines Vaters wurde hauptsächlich defensiv oder flankierend eingesetzt - und erlitt so vergleichsweise überschaubare Verluste.

Den Alltag an der Front beschrieb mein Vater nach einem Monat so: "Heute ist […] ein stiller Tag. Meistens haben wir allerdings so einige 20-30 Schüsse am Tag bekommen, die eigentlich zwei Batterien galten, die rechts und links von uns stehen. Unsere eigene Batterie liegt auf freiem Feld hinter einer kleinen Bodenböschung. Eingesehen werden können wir nur durch Fesselballon oder Flieger und das ist enorm schwer. […] Unsere Unterstände sind der Mühe entsprechend auch sehr fest, 2 Lagen dicke Eichenstämme, darüber Erde, dann 2 Lagen Eisenbahnschienen, darüber wieder Erde."

Seinen gesamten Kriegsdienst über blieb mein Vater an der Westfront. Seine Einheit wurde ab 1916 mehrmals umformiert und wechselnden Divisionen unterstellt, als neues Artilleriematerial die Kriegsführung modernisierte. So wurden die veralteten Kanonen vom Kaliber neun Zentimeter durch neue 15-Zentimeter-Kaliber ersetzt.

Als "Landwehr Fußartillerie-Batterie 405" deckte die Einheit meines Vaters 1916 einen einigermaßen ruhigen Abschnitt östlich von Verdun, wo sie rasch in den Sog der Schlacht hineingezogen wurde. Am 22. Februar schrieb mein Vater nach Hause:

"Schwaches Feuer in unserem Abschnitt, sehr schweres Trommelfeuer aus Richtung Etain. Unsere Flugzeuge scheinen die Aufgabe zu haben, jedes feindliche Flugzeug zu vertreiben. Sie kreisen fast ständig und greifen jeden feindlichen Flieger an. Regelmäßig weicht der Franzose, einen wirklichen Erfolg konnten wir aber nicht beobachten."

Nur sechs Wochen später verschärfte sich die Lage offenbar: "Heute besonders heftige Beschiessung. Halb drei am Nachmittag: Volltreffer im Geschützstand. 4 Stämme durch. [...] Gestern soll […] Einer übergelaufen sein. Möglich, dass der Schweinehund unsere Stellung verraten hat."

Vom Gefreiten zum Leutnant

Immer mehr tauchte mein Vater in die Taktik des Stellungskriegs ein, anstatt direkt in ihm kämpfen zu müssen. Bereits in seinem ersten Jahr war mein Vater zunächst zum Gefreiten, dann zum "überzähligen Unteroffizier" aufgestiegen. Als solchen setzten die Kommandeure ihn zunehmend als Beobachter ein. Am 30. Juli 1916 schrieb er meiner Mutter aus der Nähe von Verdun:

"Schatz, an bemerkenswerten Ereignissen ist vor allem zu berichten, dass meine Chancen totgeschossen zu werden sich insofern etwas verringert haben, als ich infolge bestimmter Veränderungen jetzt keinesfalls mehr in den Schützengraben muss."

Ein Jahr später wurde mein Vater Offiziersaspirant, im April 1917 erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse. Kurz danach wurde er zum Vizefeldwebel befördert. Aus dem Krieg kehrte mein Vater schließlich als Leutnant der Landwehr zurück. Einen so hohen Rang erreichten nur wenige jüdische Soldaten.

"Wir werden nach dem Krieg noch lernen, was Willkür und Unterdrückung ist"

Allerdings war seine militärische Karriere keineswegs frei von Hindernissen. Schon wenige Wochen nach seinem Dienstantritt bekam er judenfeindlichen Äußerungen zu hören. Im April 1915 berichtete er meiner Mutter Trude: "Von Unteroffizieren, die uns nicht kennen, mit Schimpfworten bedacht, wie wir sie bis jetzt noch nicht gehört hatten, als Jude noch besonders beschimpft. Ich beschwere mich aber nicht hierüber, Liebchen. Du weißt nicht, welche innere Ruhe ich mir errungen habe. Und mein eigentlicher Patriotismus wird dadurch auch nicht berührt, denn was kann das Vaterland dafür!? Na, auch das geht vorüber! Oh welche Luhust, oh welche Luhust, oh welche Lust Soldat zu sein."

Im Oktober 1916 wurden schließlich antisemitische Klagen laut, wonach sich viele jüdische Männer angeblich vor dem Militärdienst drückten. Der preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn ließ daraufhin alle wehrpflichtigen Juden überprüfen, hundertfach wurden Nachmusterungen angeordnet, mein Vater und andere Juden an der Front erhielten außerdem "einen skandalösen Fragebogen zugesandt", wie mein Vater schrieb, "der zu einer bis ins Kleinste gehenden Statistik über die Art der Beschäftigung des Juden an der Front [...] dienen soll."

Obwohl er selbst zu diesem Zeitpunkt wohl schon ziemlich kriegsmüde war, entschied sich mein Vater dagegen, einen frühzeitigen Entlassungsantrag zu stellen - wohl auch als Trotzreaktion auf die sogenannte "Judenzählung", die meinen Vater sehr empörte. Von der Front schrieb er: "Manchmal scheint mir, als ob wir nach dem Krieg erst noch lernen werden, was Willkür und Unterdrückung ist."

Der Lauf der Geschichte sollte ihm leider recht geben. Im Januar 1935 verlieh der Landrat von Rheda "dem Kaufmann Otto Meyer" das Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Darüber stand: "Im Namen des Führers und Reichskanzlers" - Adolf Hitler. Gut zwei Jahre später packte mein Vater den Container mit der Holzkiste.

Aufgezeichnet von Lazar Backovic
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