
Fischer-Chöre, Weihnachtsmänner und ein Traumdebüt
WEREK / imago images
Erstes gesamtdeutsches Fußball-Länderspiel Das Tor zur Einheit
An diesem Herbsttag 1989 wollte sich Andreas Thom voll auf den Fußball konzentrieren, wie Fußballer gern sagen. Mit seinen Kollegen der DDR-Nationalmannschaft bereitete er sich in der Sportschule Leipzig auf das wichtige Länderspiel gegen Österreich sechs Tage später vor. Es ging um die Qualifikation zur WM 1990. Ein Unentschieden, und die DDR wäre bei der WM dabei.
Doch mitten in der heißen Phase fiel am 9. November 1989 die Berliner Mauer, wirbelte das Leben von Millionen Deutschen durcheinander – auch das von Vollblut-Fußballern.
»Alles war mit Emotionen verbunden«, erinnert sich Thom, der in Interviews nicht so gern über Emotionen redet, im SPIEGEL-Gespräch. »Klar haben wir versucht, den Fokus auf das Spiel zu legen, so eine WM-Qualifikation schafft man ja nicht eben locker flockig. Aber dann haben sich die Ereignisse überschlagen. Wir konnten gar nicht richtig fassen, dass alles so schnell ging, so plötzlich.«
Während in Berlin die Sektkorken knallten, verfolgten die Spieler in Leipzig fassungslos die Nachrichten. Keine Sekunde habe er an die Riesenchance gedacht, die der Mauerfall DDR-Fußballern bieten könnte, sagt Thom, damals Stürmerstar des Rekordmeisters BFC Dynamo, heute Technik- und Individualtrainer im Jugendbereich bei Hertha BSC Berlin.
Des Kaisers kühne Fehlprognose: »Auf Jahre unschlagbar«
Gerade für ihn ging es irrwitzig schnell: Anruf von Reiner Calmund, Boss des Bundesligisten Bayer Leverkusen, Wechsel für 2,5 Millionen D-Mark. Der Coup war schon im Dezember 1989 fix und Thom damit der erste DDR-Transfer, Monate später folgte ihm Stürmerkollege Ulf Kirsten an den Rhein. Und dann meldete sich Bundestrainer Berti Vogts: Nominierung für das erste Spiel einer gesamtdeutschen Mannschaft am 19. Dezember 1990. Ein Freundschaftskick gegen die Schweiz in Stuttgart.
»Das war eine große Ehre, für ein Land spielen zu dürfen, das erst Monate zuvor Weltmeister geworden war«, sagt Thom, »ein wunderschöner Augenblick.« Besonders freute er sich auf die Italien-Legionäre, die er noch nicht aus der Bundesliga kannte: »Das waren Weltklassespieler wie Matthäus, Brehme, Häßler, Völler.« Die Helden von 1990. Und er mittendrin.
Aber wie schnell würde die deutsch-deutsche Fußballwelt zusammenwachsen? Im Freudentaumel nach Mauerfall und WM-Triumph hatte Franz Beckenbauer so kühn wie falsch prognostiziert, eine fusionierte DFB-Elf werde »auf Jahre unschlagbar« sein. In Leverkusen hatte sich Thom schnell integriert und »sehr wohlgefühlt«, mal vom ungewohnten Presserummel abgesehen.

Osthelden – die Karrieren der besten Fußballer und Trainer
Ähnlich warm war der Empfang in der Nationalelf. »Das war easy, Sportlern fällt so was generell leichter«, sagt er. »Es gab keine großen Unterschiede mehr zwischen Ost und West. Wir spielten zusammen Fußball und wollten erfolgreich sein.«
Die Generalprobe war das Spiel gegen die Schweiz vor 20.000 Zuschauern – was damals, lange vor Corona, als beschämend leere Kulisse galt. Da halfen weder ein Nikolaus, der Geschenke auf der Tribüne verteilte, noch die Fischer-Chöre, die vor dem Anpfiff »Fröhliche Weihnacht« und »Jingle Bells« sangen. Neben Thom verfolgten das vier weitere frühere DDR-Spieler: Matthias Sammer, Thomas Doll, Ulf Kirsten, Perry Bräutigam.
Premiere der Ostspieler als Bankdrücker
Medien hatten das Spiel im Vorfeld historisch überhöht. Der »Mantel der Geschichte«, von dem Einheitskanzler Helmut Kohl so gern sprach, schien sich auch schwer über das Neckarstadion zu legen: das erste Spiel »n. Mf«, nach Mauerfall, wie die »taz« witzelte. Und dann noch gegen die Schweiz, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg 1950 als erste Nation erbarmt hatte, gegen das halbwegs entnazifizierte Deutschland zu spielen. Und wo? Natürlich auch in Stuttgart. Wer suchte, fand überall Symbolik.
Etwa als die TV-Kameras bei der Nationalhymne Matthias Sammers gesenkten Kopf einfingen. Und das wiedervereinte Deutschland sah, dass auch Sammers Lippen ziemlich vereint waren – nämlich fest verschlossen. Das Rätselraten sollte den Feuerschopf noch lange verfolgen: Wollte er noch nicht, konnte er nicht? Seine Erklärung, er habe einfach hoch konzentriert sein »bisheriges Fußballerleben« durchdacht, nahmen ihm wohl nur wenige ab.
Symbolik konnte man, etwas boshaft, auch auf der Ersatzbank erkennen: Da saßen vier der fünf Ostspieler. Nur Sammer hatte es in die Startelf geschafft – und nur Thom würde noch eingewechselt werden. Die anderen blieben in Spiel 1 n. Mf. Bankdrücker auf einer wenigstens beheizten Bank.
Das erzürnte besonders HSV-Boss Jürgen Hunke, der extra aus dem fernen Hamburg gekommen war, um den Einsatz seines aus Berlin gekauften Stürmers Doll zu verfolgen. Hunke moserte, man hätte »eine Mannschaft mit je 50 Prozent aus Ost und West spielen lassen müssen« – egal wie das Spiel ausgehe. Die notorische Spaßbremse Berti Vogts wirkte nun auch noch wie ein unsensibles Einheits-Trampeltier. Thom ärgert solche Wahrnehmung bis heute: Für ihn war es »überhaupt keine Enttäuschung«, zunächst auf der Bank zu sitzen. Das gehöre zum Profifußball.
Was für ein Debüt: Eingelocht nach 25 Sekunden
Das historische Spiel schrieb auch ohne Doll seine Geschichten. Die Schweizer waren nette Gäste, nach 28 Sekunden zappelte der Ball in ihrem Tornetz: Jürgen Klinsmann auf Rudi Völler, drin. Danach wurde das Spiel ausgeglichener. Die große Schweizer Ausgleichschance vereitelte Jürgen Kohler per Fallrückzieher auf der Linie, als er für den geschlagenen Torwart Bodo Illgner rettete.

Fischer-Chöre, Weihnachtsmänner und ein Traumdebüt
WEREK / imago images
Nach der Pause traf erst Karl-Heinz Riedle zum 2:0. Dann in der 74. Minute der große Auftritt von Thom, Rückennummer 15. Er kam für Sammer, der besser gespielt als gesungen hatte, aber sein großes Talent nur andeuten konnte. Schon nach 25 Sekunden traf Thom mit dem ersten Ballkontakt. »Ich glaube, es war sogar schneller«, erzählt er. »Eine Ecke wurde reingeschlagen, der Ball kam abgefälscht zu Thomas Häßler, der legt nach innen ab, ich lupfe den Ball noch kurz über einen Spieler, der seitlich kam. Dann habe ich einfach geschossen, und er ging als Aufsetzer ins lange Eck.«
Traumeinstand. Und natürlich historisch: Tor 1 eines Ostkickers n. Mf. Fast sogar doppelt historisch: Thoms Treffer wird oft als schnellstes Joker-Tor bei einem deutschen Länderspiel bezeichnet, so schrieb es 2010 der DFB auf seiner Homepage . Dort findet sich allerdings auch ein Interview mit Uwe Rahn über dessen Blitztor bei einem Spiel 1984 gegen Schweden. Rahn traf nach nur 19 Sekunden – »schnellstes Joker-Tor« laut DFB.
Wie Thoms Traum von der WM platzte
Diese Verwirrung kann auch Andreas Thom nicht auflösen: »Ich bin kein DFB-Statistiker.« Das Spiel endete 4:0; Matthäus hatte noch in der Schlussphase getroffen. In Erinnerung blieb Thom der nervige Fragenmarathon nach Abpfiff. Thom war der Mann des Abends und stand im ungeliebten Rampenlicht: »Ich musste ein Interview nach dem anderen geben und war froh, als es vorbei war. Man wiederholte sich ja dann logischerweise.«
Im DFB-Artikel heißt es auch, der Stürmer habe das Trikot seines erfolgreichen Debüts aus historischem Bewusstsein aufbewahrt, statt mit einem Schweizer Spieler getauscht. »Aufbewahrt?« Thom zögert. »Ich habe noch viele Trikots, es kann gut sein, dass es irgendwo dabei ist.« Nach Ehrenplatz klingt das nicht. Manchmal verläuft die Realität nicht so sentimental, wie sich das Beobachter von außen vorstellen.
Auch Thoms Karriere als Nationalspieler verlief nicht so traumhaft, wie es nach diesem Einstand der Blick in die Fußball-Glaskugel verhieß. Er kam nur noch auf neun Einsätze und erzielte ein weiteres Tor. In der Bundesliga und später bei Celtic Glasgow wurde er indes Torgarant und Publikumsliebling und wäre gern bei der WM 1994 dabei gewesen. Beim Testspiel in den Vereinten Arabischen Emiraten konnte er aber nicht überzeugen, auch weil er angeschlagen ins Spiel gegangen sei. So verpasste er die WM. »Nicht schön, aber damit musste ich klarkommen.«
Zurück zur Mauerfall-Nacht 1989 in die Sportschule in Leipzig: Richtig gefeiert habe man damals nicht, sagt Thom, es stand ja das Qualifikationsspiel gegen Österreich an. Die Askese war vergebens: Die DDR verlor 0:3. Und verpasste es damit, sich als untergehender Staat auch von der ganz großen Fußballbühne zu verabschieden.