
Neunzigerjahre-Trend Eurodance: Sie nannten es Kindertechno
Neunzigerjahre-Trend Eurodance Sie nannten es Kindertechno
Itz-itz-itz, so viele Beats per Minute, dass sich die Konservendrums zu überschlagen drohten, die obligatorische Rap-Passage und poppige Melodien, die man schon mit zwölf mitsingen konnte: Unsere Lieblingsmusik ab 1993 hieß "Dance", und man hörte sie zuverlässig auf jedem Jahrmarkt. Unsere Eltern nannten es "Kindertechno".
Die heutige geläufige Bezeichnung Eurodance kannte damals noch niemand. Es war für viele einfach die Musik fürs letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts: Weniger dramatisch als die kokaingeschwängerte Popmusik der Achtzigerjahre und nicht so bedeutungsschwer wie Grunge. Obendrein hatte die Musik diese überdrehte uncool-Coolness an sich, die es jungen Zuhörern wie uns ermöglichte, sie auf Anhieb gut, aufregend und trotzdem zugänglich zu finden. Gott, waren wir verknallt!

Neunzigerjahre-Trend Eurodance: Sie nannten es Kindertechno
Das Abgefahrenste an dem Ganzen aber blieb seine geografische Greifbarkeit: Eurodance war, der Name verrät es, keine amerikanische, sondern eine ur-festlandeuropäische Angelegenheit. US-Acts wie der Ski-bi-dibby-dib-yo-da-dab-dabbende John Larkin alias Scatman John oder der heutige Regisseur und Schauspieler Mark Wahlberg, damals noch als Marky Mark gemeinsam mit MC Prince Ital Joe unterwegs, die in Europa gleich mehrere Ländercharts eroberten, spielten in ihrem Heimatland oft keine besondere Rolle. Das Album "Life in the Streets" von Marky Mark und Prince Ital Joe etwa konnte in Deutschland gleich vier Nummer-eins-Platzierungen in den Charts verbuchen, während es in den USA nicht einmal herausgebracht wurde.
Ein wichtiges Epizentrum dieser neuen, sehr kommerziellen Spielart elektronischer Musik befand sich ausgerechnet in Deutschland, genauer: in Südhessen. Hier schrieb der damals 14-jährige Jürgen "Nosie" Katzmann im Schulunterricht ein Lied, das später unter dem Titel "More and More" vom Captain Hollywood Project interpretiert auch in den internationalen Charts einschlagen sollte.
Zufällig die Hitformel entdeckt
Katzmann, einer der bekanntesten Songschreiber für die Dance-Acts der frühen Neunzigerjahre, ahnte damals noch nichts von seiner Zukunft in der elektronischen Musik: "Ich habe eigentlich schon mit zwölf angefangen, mir eigene Texte und Melodien auszudenken. Später gründete ich dann eine Band, 'More and More' war da schon in unserem Live-Repertoire."
Erst einige Jahre später wurde er ungeplant zum Mitbegründer des Musikphänomens. "Ehrlich gesagt, ist uns damals gar nicht aufgefallen, dass wir Mitinitiatoren eines neuen Genres waren, " erinnert sich der Darmstädter. "Torsten Fenslau war ein angesagter DJ in Darmstadt, wo wir alle lebten, und wurde durch sein Auflegen im Club Dorian Gray neben Sven Väth, Talla und DJ Dag zum Star-DJ der Region." Sein zweiter Kollaborateur Jens Zimmermann sei ein sehr junger Elektro- und Technofreak gewesen, "soundtechnisch seiner Zeit weit voraus", erklärt Katzmann, "und ich war in Darmstadt als Rockmusiker beziehungsweise Singer-Songwriter bekannt." Zusammen seien sie ein echtes "Dreamteam" gewesen.
Die Rhein-Main-Region bot damals alle nötigen Bedingungen für die Eurodance-Initialzündung: Den weltweit bekannten Technoclub Dorian Gray am Frankfurter Flughafen, in dem der damals noch deutschsprachige erste Hit von Culture Beat entstand. Und vor allem die diversen US-amerikanischen Militärbasen in der Gegend rund um Frankfurt und Darmstadt. "Da House und Techno ursprünglich aus den USA, hauptsächlich Detroit und Chicago kamen", erklärt Katzmann, "kam man über die Kasernen schnell in Kontakt mit Musikern und Rappern aus dem Mutterland des neuen Genres." Aus einer zufälligen Idee zur Erfolgsformel Sängerin + MC = Dance-Act sei so "schnell eine zufällig erfolgreiche Idee" geworden.
Diese Hitformel war nicht auf Dauer angelegt. Man musste nicht lebenslang auf eine Band eingeschworen sein, sondern fand mal dies und mal das super, oft genug nur einen Song lang. Für viele Acts wurden schwarze GIs gecastet, einige von ihnen hatten noch nie zuvor gerappt. Andere waren Musiker, verdienten ihr Geld aber im Militärdienst, der selbstredend Vorrang hatte: "Der damalige Rapper von Culture Beat wurde noch während der Aufnahmen zur zweiten Single mit seiner Einheit nach Asien versetzt", erinnert sich Katzmann. Pech für ihn, Glück für seinen Nachfolger Jay Supreme, der später mit Liedern wie "Mr. Vain" weltweite Hits landen sollte.
Jodeln auf dem Dancefloor
Die Liste an Acts und Liedern, die Katzmann mit Fenslau und Zimmermann sowie anderen Partnern in die Charts gebracht hat, ist lang: Captain Hollywood Project, Culture Beat, Jam & Spoon, Scooter und DJ BoBo gehören dazu. Stellenweise standen fünf Lieder aus Katzmanns Feder gleichzeitig in der deutschen Hitparade.
Natürlich waren er und seine Darmstädter Kollegen nicht die einzigen Protagonisten des Genres. Trotzdem blieb Dancefloor eher eine Sache der kleineren Großstädte. Fernab von Berlin oder Köln, wo die ernst genommene elektronische Musik zu Hause war, starteten Musikformationen aus Bremen oder Nürnberg in die Charts und Großraumdiscos.
Bald war das Genre allgegenwärtig. Man möge sich eine beliebige "Bravo Hits" aus den frühen Neunzigerjahren anhören: Von heutigen Klassikern des Genres über schnell hingerotzte One-Hit-Wonder bis zu gelegentlichen Chart-Hits von Marusha ist alles dabei, was Dance-Fans begehrten.
Besonders beliebt im Dancefloor waren Themenbands: Die Bayern von K2 mixten alpin angehauchte Jodel- und Bajuwaren-Sounds in ihre Tracks, die schwedische Gruppe Rednex wiederum bediente sich klischeetriefend bei amerikanischen Hillbillies. Während das Duo Das Modul sich technikaffin inszenierte - mit Liedern wie "Kleine Maus", "Computerliebe", "Robby Roboter" oder auch "1100101". Und E-Rotic. Wer sich heute über sextriefende Texte für eine primär minderjährige Zielgruppe beschwert, sollte ruhig da noch einmal reinhören.
Dancefloor für die Ewigkeit
Nicht alles davon hat die Zeit unbeschadet überdauert. Mancher Eurodance-Act ist heute nur noch eine Kuriosität. Nur wenige Jahre nach dem Abflauen des Hypes ging auch unsere eigene musikalische Sozialisation andere Wege. An Best-of-Neunziger-Partys war eine Zeit lang nicht zu denken. Aber wir spürten doch nicht nur Scham, wenn sich so ein Stück doch mal wieder auf MTV oder Viva verirrte - sondern auch heimliche Freude.
Die Eurodance-Ruhephase hielt nur etwa ein Jahrzehnt an: Inzwischen sind Lieder wie Culture Beats "Mr. Vain" oder Snap!s "Rhythm Is A Dancer" endgültig in die Hitparade der Ewigkeit aufgestiegen, wo sie gleichberechtigt neben Evergreens der Siebziger- und Achtzigerjahre stehen. Herausgekramt werden sie vor allem immer dann, wenn es etwas zu feiern gibt - wenn auch deutlich fetter abgemischt, wie es heute selbst im Schlager ein Muss ist. Selbst in den USA hat Eurodance seine nachträgliche Anerkennung bekommen. Die großen Hits des Genres werden dort heute auf großen Sportevents gespielt.
Und an einem Ort der Welt hat das Genre ohnehin nie seinen Stellenwert verloren: Auf den Jahrmärkten der Bundesrepublik. Jede Kirmessaison ist auch wieder Eurodance-Saison.