
Europapokal 1973: Klassenkampf auf grünem Rasen
Europapokal 1973 Klassenkampf auf grünem Rasen
In der 42. Spielminute sieht es im Münchner Olympiastadion so aus, als ob die historischen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus selbst für die schönste Nebensache der Welt gälten: Frank Ganzera spielt über Rainer Sachse zu Stürmerstar Gerd Heidler, der schießt völlig unbedrängt an Nationaltorhüter Sepp Maier vorbei ein. Ein historischer Sieg scheint zum Greifen nahe, der Kapitalismus dem Kommunismus auch auf dem Fußballplatz unterlegen: Dynamo Dresden, der David aus der DDR, führt mit 3:2 gegen den Fußballriesen FC Bayern München.
Bei der ersten deutsch-deutschen Fußball-Begegnung im Europa-Pokal steht viel auf dem Spiel, es geht um den Einzug ins Viertelfinale. Alles andere als ein Sieg des haushohen Favoriten aus dem Westen wäre eine Blamage - sportlich sowieso, aber auch politisch. Der entgehen der FC Bayern und die BRD an diesem 24. Oktober 1973 nur denkbar knapp: Bayern-Goalgetter Gerd Müller trifft sieben Minuten vor dem Abpfiff zum Endstand von 4:3 für das bundesdeutsche Team.
Gegen die Mühen, die sich die Mannen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aus Anlass der prestigeträchtigen Partie ihres hauseigenen Clubs gegen den Klassenfeind machten, wirkt der mühsame Arbeitssieg der Bayern allerdings geradezu wie ein Freizeitkick. Denn während die SED-Propaganda das deutsch-deutsche Fußballspiel zu einer "ganz normalen" internationale Begegnungen herunterzureden versuchte, rotierte im Hintergrund der SED-Sicherheitsapparat auf Hochtouren - einen beinahe "schizophrenen Sicherheitsaufwand" hätte die Maschinerie des fußballbegeisterten MfS-Chefs getrieben, konstatiert der Politikwissenschaftler Hanns Leske in seinem Buch über "Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder".
Stasi gegen "kapitalistischen Profifußball"
Den enormen Aufwand illustrieren eindrucksvoll die Stasi-Akten zur "Aktion Vorstoß", so der Codename der Operation der DDR-Geheimpolizei. Schon die Spielvorbereitungen der beiden Trainer begleitete die Stasi minutiös: Bayern-Trainer Udo Lattek behielten ihre Agenten genauestens im Visier, als er in die DDR reiste um die Dresdner in ihren Oberliga-Partien gegen Zwickau und Dynamo Berlin zu beobachten. Dresdens Trainer Walter Fritzsch durfte in Begleitung eines Aufpassers zu zwei Spielen der Münchner in den Westen fahren, um sportliche Stärken und Schwächen des "kapitalistischen Profifußballs" beim FC Bayern zu erkunden. Wenig überraschendes Ergebnis der Geheimdienst-Recherche zum Gegner: "Mit Müller, Beckenbauer und Hoeneß hat Bayern-München drei überragende Fußballspieler."
Die politische Zielvorgabe der DDR-Führung für das Dynamo-Team stand lange vor dem Hinspiel in München am 24. Oktober fest: Zwei Siege gegen das "KA", Stasi-Abkürzung für das "kapitalistische Ausland", forderten die Funktionäre von ihrer Mannschaft. Klaus Sammer, 1973 Dresdner Spieler, später Trainer, erinnert sich an den Umgang der Mannschaft mit den "lächerlichen" ideologischen Vorgaben aus Ost-Berlin: "Sollten die da oben sich doch die Köpfe einschlagen."
Den Spielern sei es immer nur um den Sport gegangen. Ähnlich erinnerte sich später auch Bayerns Stürmerstar Uli Hoeneß: "Das war das erste wichtige Spiel zwischen zwei deutschen Oberligamannschaften. Es wurde im Vorfeld als Pressespektakel aufgebauscht. Für mich war so etwas nicht besonders wichtig, es stand die sportliche Bedeutung im Vordergrund: Der FC Bayern hatte damals noch keinen Europapokaltitel gewonnen." Der heutige Bayern-Manager geht mit seiner nüchternen Einschätzung sogar noch einen Schritt weiter: "Gegen wen gespielt wurde, war egal", behauptet er.
Neugier auf die Helden aus dem Westens
Für die Dresdner war es nicht egal, gegen wen sie spielten; das Interesse am West-Fußball ist in der DDR riesig. "Die Großen waren die da drüben," resümiert Klaus Sammer. "Wir waren die Kleinen aus der Zone." An ihre Neugier auf die Spieler aus dem jeweils anderen Deutschland erinnern sich die Spieler beider Seiten: Bayern-Vorstopper "Katsche" Schwarzenbeck denkt vor allem an die Ankunft der Mannschaft in Dresden: "Bei unserer Ankunft war alles abgesperrt, aber dort waren sehr viele Leute, Fans haben uns zugewunken. Sie haben uns neugierig angeschaut, wir neugierig aus dem Bus geguckt." Die Dresdner Gerd Heidler und Klaus Sammer waren einfach nur "gespannt, wie die so waren", die populären "Helden des Westfußballs".
Trotz Neugier: Persönliche Kontakt zu den Bundesligastars waren tabu - Spitzel in der Mannschaft und dem Betreuerteam hätten jeden unerlaubten "Westkontakt" gemeldet. Ohnehin sorgte ein straffes Programm dafür, dass kein Spieler auf unerwünschte Gedanken kam. Das galt ebenso für die etwa 1000 angereisten Dresdner Fans, zumeist sorgfältig von der Stasi ausgewählte Sportfunktionäre. Nach der Anreise am Vortag des Spiels gab es für die Dynamo-Anhänger eine Sightseeing-Tour durch München und ein gemeinsames Abendessen, gefolgt von einem "typisch bayerischen" Ausklang mit Blasmusik. Am nächsten Tag fuhren Busse die DDR-Bürger geschlossen zum Stadion - und nach der knappen Niederlage ihres Teams direkt über die "Zonengrenze" nach Hause.
Knapp zwei Wochen später, am 6. November 1973, erwarteten rund 400 ostdeutsche Fans vor dem Hotel Newa die Ankunft der Bundesliga-Stars zum Rückspiel in Dresden. Doch die Bayern kamen nicht: Statt im realsozialistischen Interhotel übernachteten die West-Profis lieber kurz vor der Grenze, auf heimischen bayrischem Boden in Hof. Offizielle Begründung des Managements: "Akklimatisierungsprobleme", bedingt durch den "Höhenunterschied zwischen München (rund 500 m) und Dresden (106 m)". Die nicht einmal 400 Meter Gefälle sollten einer internationalen Spitzenmannschaft aus dem Voralpenland solche Schwierigkeiten bereiten, dass die Equipe die fünf Fahrstunden von München nach Dresden lieber in zwei Etappen zurücklegte?
"Müller nimm mich mit nach der BRD!"
Was wirklich dahinterstand, erzählt Uli Hoeneß: "Beim UEFA-Jugendturnier in Leipzig hatten starke Westmannschaften Probleme mit Erkrankungen und Durchfällen gehabt, man informierte den Verein. Es gab die Vermutung, dass etwas ins Essen getan wurde, dass die Zimmer und Besprechungsräume abgehört wurden." So gingen die Autogrammjäger vor dem Hotel Newa leer aus. Erleichtert registriert die Stasi im Lagebericht vom 6. November um 16 Uhr, dass die etwa 400 wartenden Personen zwar enttäuscht seien, ansonsten aber "keine wesentlichen Vorkommnisse" zu melden seien.
In den Wochen zuvor hatte die Lage ganz anders ausgesehen: In einem Bericht vom 2. November hielten Stasi-Leute mehrere besorgniserregende "Erscheinungen" fest: So hatte ein junger Mann aus dem VEB Kupplungs- und Triebwerkbau angekündigt, er werde während des Spiels Bayern-Stürmer Gerd Müller zurufen: "Müller nimm mich mit nach der BRD!" Dem Mann, vermerkte das MfS, sei inzwischen seine Eintrittskarte wieder abgenommen worden.
Auch mehrere Jugendliche aus dem nahen Pirna, die ein Plakat mit der Aufschrift "Schlagt die Bayern zusammen!" gemalt hätten, wurden an der Fahrt nach Dresden gehindert. In das Visier der staatlichen Schnüffler geriet auch eine Gruppe von sechs Lehrlingen aus dem Kombinat Geodäsie und Kartographie im Dresdner Stadtteil Lockwitz, weil sich bei ihnen "bereits seit längerem eine zustimmende Haltung zum kapitalistischen Profifußball herausgebildet" habe.
Sozialistisch-knappes Kartenangebot
Trotz des großen Zuschauerinteresses gelangten nur etwa 8.000 Karten in den freien Verkauf, 2.000 Tickets erhielten die Bayern für mitgereiste Schlachtenbummler. Die restlichen 25.000 Billets verteilten die DDR-Behörden an besonders zuverlässige Genossen: In den volkseigenen Betrieben erhielten einzig "verdiente Meister der Arbeit und des Sports der DDR" Eintrittskarten. Doch selbst diesen ausgewählten Zuschauern trauten die Sicherheitsorgane nicht, zusätzlich verteilten sich Stasi-Männer überall auf den Tribünen - zwei von fünf "Fans" waren in Wirklichkeit im Auftrag des MfS im Stadion.
Ob des künstlichen verknappten Angebots kam es am Vorabend des Verkaufsbeginns für die wenigen verfügbaren Karten zu beunruhigenden Szenen, jedenfalls aus Stasi-Sicht: Gegen Mitternacht hatten sich vor den Vorverkaufsstellen rund 2.200 meist jugendliche Fans mit Schlafsäcken, Decken und dazu reichlich Alkohol eingefunden, um vor Ort zu übernachten und ab 9 Uhr morgens eines der raren Tickets (zum stolzen Preis von 8,10 Mark der DDR) zu ergattern. Nur durch "Agitation von Sportfunktionären und Angehörigen der Sicherungskräfte" sei ein weiteres Anwachsen der Menge verhindert worden, vermeldet der Stasi-Bericht. Kaum hatte der Vorverkauf dann begonnen, war er um 10 Uhr auch schon wieder vorbei - ausverkauft.
Das Spiel selbst war dann die Schlacht um die Karten durchaus wert: Hart wurde auf dem Rasen des Dynamo-Stadions gefightet, erinnern sich die Spieler beider Seiten. Nach der frühen 2:0-Führung für die Bayern (Uli Hoeneß traf in der 10. und 12. Minute) holten die Dresdner auf, zogen in der 56. Spielminute sogar mit 2:3 an den Bayern vorbei. Sieben Minuten später gelang Gerd Müller der Ausgleich zum 3:3 Endstand. Von einem "dramatischen Spiel voller Höhepunkte" sprachen die westdeutschen Medien übereinstimmend. Der knappe Erfolg der Bayern mit nur einem Tor mehr aus zwei Spielen sorgte für gute Stimmung bei angereisten Fans wie Gastgebern: Der Favorit war weiter, aber die Underdogs aus Dresden hatten sich gut verkauft.
Nachdem gegen Mitternacht die letzten der gut 1.500 westdeutschen Fans den Boden der DDR wieder verlassen hatten, zog auch die Stasi eine zufriedene Schlussbilanz der "Aktion Vorstoß": 3.110 Beamte des Ministeriums, dazu Volkspolizisten, "zuverlässige Genossen aus örtlichen Betrieben und andere Einsatzkräfte" hatten für eine erfolgreiche "Tiefensicherung im gesamten Stadtgebiet" gesorgt: Keine unkontrollierte Verbrüderung zwischen Ost- und Westfans, kein öffentliches Aufbegehren gegen die SED-Obrigkeit, keine Republikflucht eines Spielers - da war die Niederlage der eigenen Mannschaft doch glatt zu verschmerzen.
Dieser Artikel basiert auf einem preisgekrönten Beitrag für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Weitere Informationen zum Originalbeitrag "Fußball und Politik" von Sebastian Brenner und Dieter Rippel können in der Datenbank des Geschichtswettbewerbs recherchiert werden.